301. Die Zwergenwiege

Obschon die Sage geht, daß ein Riese Hiddesacker oder Hitzacker gegründet, so ist gerade zu Hitzacker von Riesen wenig oder gar nicht, desto mehr aber von Zwergen die Rede. Diese sind dort sehr häufig und zu allen Zeiten wahrgenommen worden, bis sie zuletzt ausgewandert sind, weil es ihnen ging wie insgemein den Auswanderern, es gefiel ihnen nicht mehr da, wo sie wohnten, in den Bergen und vornehmlich im Schloßberge zu Hitzacker. Lange haben sie sich mit den Einwohnern sehr gut gestanden, und nicht haben sie, wie die Heinzchen zu Aachen, von diesen Geschirre geliehen, sondern die Leute liehen dergleichen von den guten Zwergen, selbst Braupfannen, wofür sie nichts verlangten, als daß die Leute ihr Geräte reinlich und sauber wieder an den Ort zurückstellten, wo sie es genommen, und etwa einen Krug Frischbier dazu und etwas frisches Brot. Aber einstmals hat ein reisender Handwerksbursche, der so eine Pfanne fand, die zur Zurücknahme hingestellt war, den Zwergen das Brot weggegessen und das Bier weggetrunken und etwas Unsauberes in die Pfanne getan, da sind die Zwerge böse geworden, haben ihr Geräte nicht mehr hergegeben und sich ihr Bier in den Kellern selbst geholt, haben auch die Kinder hernach gern umgetauscht, und wäre solches dem Bürgermeister Johann Schultz, da seine Mutter mit ihm in den Wochen lag, beinahe selbst begegnet, denn die Wöchnerin sah schon, wie sie in der Nacht aufwachte, eine ganze Herde Zwerglein in ihrer Stube sitzen, die einen Wechselbalg wärmten und ihr Kind angriffen, weil sie aber Dosten und Dorant bei sich im Bette hatte, konnten sie ihr und ihrem Kinde nichts anhaben, doch behielt letzteres ein Mal. Dosten und Dorant sind gar gute Kräuter, das erste heißt auch Wohlgemut (Origanum), untergestreut vertreibt es die Nattern; des zweiten Name ist vielen Kräutern gemein: der Katzenmünze, dem kleinen Löwenmaul, der Schafgarbe und dem Andorn (Marrubium), der letzte ist der echte. Da die kleinen Leutchen fortzogen, hat ein Fährmann sie über die Elbe gefahren, da hat es nur so gewimmelt im Kahn, und hat der Fährmann eine gute Belohnung bekommen. Im Weinberge bei Hitzacker haben die Zwerglein eine goldene Wiege von ihrem Königskind zurückgelassen, die läßt sich alljährlich[220] einmal sehen in der Johannisnacht von zwölf bis ein Uhr, wer gerade die rechte Stelle trifft und sich zu solcher Nachtzeit an den Berg traut. Ein schwarzer Hund mit feurigen Augen bewacht sie. Wer sie holen will, darf nicht reden und darf sich nicht vor dem Teufel fürchten. Zwei beherzte Bursche wollten an das Wagestück gehen, da sahen sie schon die Wiege und keinen Hund, aber plötzlich sahen sie, daß sie unter einem Galgen standen, und oben auf dem Balken saß der Teufel und fahndete mit Schlingen nach ihren Hälsen, da schrieen sie erschrocken auf, und da waren auch gleich Wiege, Galgen und Teufel verschwunden.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2011). Bechstein, Ludwig. Sagen. Deutsches Sagenbuch. 301. Die Zwergenwiege. 301. Die Zwergenwiege. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-20E6-1