Blätter aus Fiesole

(Meiner Frau unters Kopfkissen gesteckt im Winter 1907/08)

1.

Über die Zypressenwipfel wandert der Mond.
Die Blätter des Ölbaums glänzen von seinem Lichte:
Sanftes Silber.
[333]
Dem Hauch der Nacht verschlossen sich die Rosen
Und leuchten nun wie Kugeln alten Goldes
Aus schwarzem Laube.
An diesem Hange hütete die Ziegen
Der Hirtenknabe Giotto einst. Ich höre
Der reinsten Liebe:
Der Liebe Mozarts süße, tiefe Weise:
Daß ich mit Rosen kränze dein Haupt ...,
Madonna Gemma.

2.

Zypressenholz und Lorbeerzweige
Verknistern im Kamine. Duft
Von glimmenden Pinienäpfeln zieht in
Hellblauen Streifen durch die Luft.
Die offene Türe läßt vom Garten
Den kühlen Hauch der Nacht herein.
Es rascheln die Magnolienblätter
Und blinken matt im Mondenschein.
Mein Tisch ist gelb vom Licht der Lampe;
Ihr gruner Seidenschleier hält
Das Zimmer mir im halben Dunkel.
Oh: wollustvoll ist meine Welt.

3.

Vier adlige Freundinnen nenne ich mein,
Obwohl ich selbst nicht adelig bin.
Sie sind von edelster Abkunft, rein
[334]
Durchaus von Geblüte,
Voller Treue und Güte,
Und gehen mit Grazie durchs Leben hin.
Sie lieben die Jagd, sie lieben das Spiel
Und sind zuweilen sehr verliebt.
Von Arbeit halten sie nicht viel.
Zumal es für Damen
Aus edlem Samen
Keine standesgemäße Arbeit gibt.
Gefällts mir, zu wandern, gleich sind sie dabei,
Und, allem Anschein nach, sehr gern.
Doch legen sie Wert darauf, daß frei
Ihr Promenieren,
Daß kein Genieren
Beim Wandern sie stört mit ihrem Herrn.
Denn, sonderbar, wirklich, ich bin ihr Herr,
Obwohl sie edler sind als ich,
Viel schöner und wohlgeborener.
So ist das Leben:
Die Bessern geben
Zuweilen den Schlechtern als Diener sich.
Drei Schwestern sind es und ihre Mama.
Die ist Respektsperson und so
Vollkommen, wie ich keine sah.
Ganz élégance,
Stets contenance,
Madame Wiwwi ist comme il faut.
[335]
Den Fräuleins fehlt wohl die Würde noch
Sie sind auch noch zu jung dazu.
Die Luna kriecht in jedes Loch,
Die schlanke Brille
Hält niemals stille,
Und Thisbe läßt keine Katze in Ruh.
Was schadets, wenn man so schön ist wie sie,
So liebenswürdig, lustig, fein.
Ich weiß gewiß, ich treffe nie
Nochmal so viere,
Es mögen nun Tiere,
Oder, salva venia, Menschen sein.

4.

Zwölf Uhr: heilige Nacht. Wie ein Gesumme
Von Bienen klingt das Läuten der hundert Glocken
In meine Gartenstille aus Florenz herauf.
Nun knien im ungeheuren Dome dort
Die Betenden, und unter der Kuppel hebt
Die ringgeschmückte Hand der Erzbischof
Zum Weihnachtssegen. Gloria in excelsis!
Und Pax vobiscum!
Te laudamus,
Domine!
Mir hat der Himmel einen Weihnachtsbaum
Aus ungezählten Sternen angezündet.
Wo müßten heute die drei Könige hin,
Wenn sie den Sternen folgen wollten! Wohl!
Dies sei mir Omen: überall gebiert
Die Liebe Geist und Kraft und Herrlichkeit.
[336]
Den Frieden aber hab ich in mir selbst,
Seitdem ich weiß, daß keine Liebe ihn:
Daß ihn die Kraft verbürgt, die sich erkennt
Und ohne Furcht den Weg zur Treue geht:
Zum tätigen Selbst, das, wenn es sein muß, froh
Das Schwert gebraucht. Nichts ist so friedestark,
Als Selbstgefühl im Kampf. Friedlos ist nur,
Wer Fratzen fürchtet und um Freundschaft buhlt,
Wo Feindschaft vorbestimmt und Wonne ist.

5.

Täglich fahr ich mit Pietro,
Meinem wohlbeleibten Kutscher
(Und mit seinem Pferdchen Palle,
Welches auch nicht mager ist),
Täglich nachmittags um dreie
Fahr ich auf der alten Straße,
Die sehr steil ist und sehr holprig,
Erst nach San Domenico
Und sodann, vorbei der Villa,
Wo Herr Dante einst verliebt war,
Zwischen hohen Gartenmauern
Nach Florenz. Dort trink ich Tee.
»Wie? Und der Palazzo Pitti?
Accademia? Uffizien?
Bibliotheca Laurenziana?
Hast du nicht nach Schönheit Durst?«
[337]
Oh ja. Aber für Museen
Bin ich selten nur in Stimmung;
Denn es sind Konservenbüchsen;
Ihre Schönheit schmeckt nach Blech.
»Wie? Die himmlische Tribuna?
Alessandro Botticelli?
Cimabue? Donatello?«
Alle schmecken dort nach Blech.
Lieber wandre ich durch dunkle
Kirchen mit dem Operngucker
Und verrenke Hals und Kopf mir
Nach der dort verstecken Kunst.
Da nur wirkt sie noch ins Leben,
Thront sie noch auf ihrem Throne,
Frei, gebietend, nicht gefangen:
Atmet aus und atmet ein.
Denn ein Kunstwerk braucht den Atem,
Braucht die Luft des tätigen Lebens;
Seine Schönheit wird zum Schemen,
Sperrt man sie vom Leben ab.
Stünde David noch im Freien,
Dort, wohin ihn schuf sein Schöpfer,
Wohl, er wäre nicht so glänzend
Weiß wie jetzt und »fast wie neu«,
Aber, grau vielleicht und rissig,
Mitgenommen von Frost und Feuchte,
[338]
Leidend, wie das Leben immer
Leiden muß, um ganz zu sein:
Stünd er heldenhaft lebendig,
Sterbend stünd er noch lebendiger,
Herrlicher, strahlender da, als jetzt im
Abgemessenen Oberlicht.
»Und verdürbe.« Freilich. Alles
Leben muß einmal verderben.
Aber leben soll es, leben:
Wirklich leben, bis es stirbt.
Denkt nicht immer an die Enkel!
Denkt an euch, wie jene taten,
Die ihr Leben sich verklärten,
Bildner ihrer Gegenwart.
Dann erst hättet ihr ein Recht, sie
In die heiligen Leichenkammern
Eurer Pietät zu stecken,
Brauchtet ihr für Eignes Platz.
Doch genug. Ich geh zu Gilli,
Trinke Tee und esse Kuchen.
Leider bin ich manchmal schwach und
Lese Zeitungen dazu.
Heiliger Marsyas! Noch immer,
Simson Deutschland, sind Philister,
Ach, und was für eine Sorte
(Frech und bieder), über dir.
[339]
Deine Delila heißt Wohlstand.
Üppigst hast du zugenommen.
Wohl bekommt dein Fett dem Bauche,
Doch dem Hirn bekommt es schlecht.
Und der Seele, ach, der edlen
Deutschen Seele fehlts am Raume,
Scheint es, in dem kolossalen
Korpus, der ganz Masse ist.
Bocke, bocke nicht, Trochäus!
Jetzo mußt du Zahlen buckeln.
Schwer fällt wohl dabei das Tanzen,
Doch dein Kriechen kündet Ruhm:
Seit dem Jahre achtzehnhundert-
Achtzig stieg von einunddreißig
Teilen unser Kohlenkonsum
Bis auf hundert heut. Respekt!
Der Verbrauch von Weizen hat sich
In derselben Zeit verdoppelt.
Apfelsinen ißt man ditto
Doppelt mehr als dazumal.
Und nun gar der Heckepfennig,
Symbolum des höheren Lebens,
Hat um zweiundachtzig Hundert-
Teile löblich sich vermehrt.
Simson! Simson! Wahr die Haare!
Delilachen liebt die Glatzen!
[340]
Selbst die Haare auf den Zähnen
Küßt sie, fürcht ich, dir noch weg.
Schon hast du das Byzantinern
Allzurasch gelernt, schon zieht dein
Bauch dich tiefer auf die Erde,
Als es Ehrerbietung heischt.
Treibe andere Gymnastik,
Als nach vorn die Rückenbeuge!
Steige, Simson, wie du stiegst, als
Michel Deutsch noch mager war!
Cameriere! Cameriere!
»Subito!« – Pagare! – »Grazie!«
So. Jetzt geh ich zum Lungarno,
Schöne Damen anzusehn.
Warum nicht? Ich kanns vergnüglich,
Denn ich habe eine schönre.
Treue ist für den kein Kunststück,
Der bei jedem Tausch verliert.
Ah, die Gräfin Montignoso!
Na, so, so. Da: die Geliebte
Des viel schönren Gabriele.
(»Rübchen« heißt er eigentlich.)
Nun, nicht übel: Rasse, Feuer,
Gertenbiegsam, große Augen,
Wie sie für die weite Bühnen-
Perspektive nützlich sind.
[341]
Dort: Amerika. Das ist nun
Nicht mein Fall. Protzt Hygiene.
Resultat der Speisekarte.
Wenig Anmut, viel Effekt.
England. Aoh! Noch immer schwärmt die
Miß für »ihren« Botticelli.
Engelhaft und englisch gibt ein
Wunderliches Mischprodukt.
Endlich kommt, der ich schon lange
Aufgelauert habe, kommt die
Große Modekurtisane,
Die Bellezza von Florenz.
La Signora Millelire
Heißt man sie. Des zum Beweise
Trägt sie eine Perlenkette,
Die gewiß nicht billig ist.
Sonst: Ich danke. Bloß Bellezza.
Ansichtskarten-Schönheitstypus;
Gut genug für jene Beutel,
Die voll mille lire sind.
Aber nun: Oh teure Heimat!
Kommt da nicht das süße Gretchen,
Das, weils seinen Hans gefunden,
Schleunigst nach Florenz gemußt?
Ja, sie kommt, und ja, sie lächelt,
Ja, sie ist ganz hin vor Selig-
[342]
Keit und großem Glücke, weil sie
Wirklich in Italien ist.
Spotte nicht, verruchter Knabe!
Laß ihr auch das jugendstilig
Künstlerich empfundne, aber
Praktische Reformkostüm.
Ist sie trotzdem nicht recht niedlich?
Frage dich: wie viele solche
Mündchen, Äugelchen und Näschen
Haben ehmals dich entflammt?
Außerdem: »Frühlings Erwachen«
Hat auch diese tief begriffen,
Und sie ist durchaus kein Gretchen
Wie das alte Gretchen mehr.
Neue Jugend! – »Jugend«! Präge
Tief es dir in dein Gemüte:
Von der alten »Gartenlaube«
Sind wir absolut befreit.
Auf, und greife in die Harfe!
Unser Gretchen ist verwandelt,
Unser Gretchen ist ästhetisch,
Unser Gretchen ist modern.
Sieh, sie geht in einen Laden,
Wo man schöne Marmorsachen
Billig kauft. Nun: was erstand sie?
Ha! Ein nacktes Frauenbild!
[343]
Schlag die Harfe! Schlag die Harfe!
Denn Germania ist gerettet.
Zwar: sie kaufte einen Kitsch, doch,
Heil, es war ein nackter Kitsch!
Vetturino! »Sissignore«.
Nach Fiesole! – Die Gäulchen
Brauchen Gott sei Dank zwei Stunden,
Bis ich wieder oben bin.
Denn es ist ein schönes Fahren,
Langsam, langsam, bis zur Höhe.
Unten liegt, wie eine Muschel,
Rosafleischig überhaucht,
Traumhaft, wesenlos, ein sanftes,
Zages Blinken, liegt phantomisch
Diese Stadt der alten, edlen
Phrasenfeindlichen Kultur.

6.

Die Löwenmaske aus schwarzem Granit,
Die du mir heute geschenkt hast,
Mißbrauch ich zum Tintenfaß.
Ehemals spie sie,
Es sind gewiß vier Jahrhunderte her
(Weshalb Marzocco nicht mehr ganz komplett ist),
Aus diesem rundgeöffneten Maule
Wasser, wer weiß wo, in ein weißes Becken.
Das stand gewiß in einem schönen Garten,
Und manchmal kam Madonna Gemma
Und hielt die weißen, heißen Hände unter
[344]
Und summte sich ein Lied zum Zeitvertreib:
... Im Lorbeerbaum hat die Amsel ihr Nest,
– Singe, Verliebte, singe –
Ich weiß ein Herz, das mich nie verläßt ...
Nun ist der schwarze Löwenkopf
Voll schwarzer Tinte, und kein Lied
Erfreut ihn mehr aus schönem Mund.
Aber:
Wenn er gut hinsieht mit seinen zwei schiefen,
Dreieckigen Augen, kann er lesen,
Was für untoskanische Verse ein Deutscher
Für die allerschönste Toskanerin macht.

7.

In Monte Cassino sagte mir einmal
Ein feiner Benediktiner: Ihr Deutschen
Hättet nie aufhören sollen, katholisch
Zu sein.
Ich machte die schönste meiner Verbeugungen und fragte:
Warum?
Mein Herr! entgegnete er, ihr Deutschen seid
Romantiker, Schwärmer im Grunde des Herzens.
Ich sah euern Kaiser. Ich sprach ihn. Dio mio!
Niemals noch hörte ich so ritterlich reden
Vom heiligen Benedikt und seiner Inbrunst
In diesen Gewölben: vom Kreuz; vom Licht
Des Glaubens und der Liebe; von der Wonne,
Ein Christ zu sein.
Das nennen Sie Romantik? fragte ich. Er lächelte
Und sprach:
[345]
Bei euch. Ihr sprecht von diesen großen Dingen,
Die uns zwar heilig, doch gewissermaßen
Gewöhnlich sind, so, wie die Dichter von Geliebten sprechen,
Die sie verloren haben:
Mit banger Zärtlichkeit, erinnerungsbeglückt,
Scheu hoffend, kummervoll und träumerisch.
Wie Männer von der ersten Liebe reden,
Die sie verstoßen haben, redet ihr,
Dem Anschein nach nicht glücklich in der Ehe,
Die euch »Vernunft« gebot, von den Geheimnissen
Des wahren Glaubens.
Was schließen Sie daraus? war meine Frage nun.
Er sprach:
Was ich schon sagte: Euer deutsches Herz
Ist grundkatholisch. Jener Wittenberger,
Oh, daß er Papst geworden wäre! Glauben Sie
Es einem, der den Doktor Martin kennt:
Ein großer Papst ging, ach, mit ihm verloren.
Ich war der Gast des heiligen Benedikt und schwieg.
Doch revidiert ich in der Nacht mein deutsches Herz und fand
Es zwar romantisch und voll Schwärmerei,
Doch weder protestantisch noch katholisch.
Christus war drin, doch Aphrodite auch.
Ich fand den heiligen Franz, fand Luther, fand
Sogar ein Stückchen Herrenhut: doch das
Lag alles tief im Schatten. Hell stand, hoch,
Gehämmertes Gold, der stolze Eremit
Von Sils-Maria.

[346] 8.

Glauben ist Kleben,
Zweifeln ist Schweben,
Schaffen ist Leben:
Fest und bewegt.
Glauben verzichtet,
Zweifeln vernichtet,
Schaffen errichtet
Leben: erregt.

9.

Hier ist das edelste Werk getan
Allerlebendigster Kunst: hier ist
Kunst und Natur ganz eins.
Nichts verlor die Natur an die Kunst auf diesen Terrassen,
Die sich ihr fügten, indem sie sie edel
Faßten: Steine aus deinem Kern,
Fels von Fiesole.
Feld und Garten ist eins: es schlingt,
Wachsend aus gleicher Furche mit ihm
Zwischen den üppigsten Halmen des Korns,
Wolluststark sich die Rebe empor,
Keine Räuberin: Geliebte,
Hoch in den Ölbaum.
Alles umarmt sich hier: Rose den Lorbeerbaum,
Efeu die Eiche, die
Nie ihr Blatt verliert.
[347]
Engelwurz flicht sich sanft,
Liebevoll, Schmuck, ins Grün
Steiler, schwarzer Zypressen. Es hängt,
Gleich einem riesigen Bacchusgelock,
Blau der Glyzine Blütentraube
Schwer vom Säulengebälk der Villa.
Iris und Tulpen säumen das Garten-Feld;
Überall Sterne und Glocken im Gras,
Seltsame, feurige: namenlos
Nordischer Zunge.
Nichts scheint wild hier; alles ist Zucht;
Aber es ist die edelste Freiheit.
Dienerin wurde Natur dem Geiste,
Der aus ihrem Geist regiert.
Hier erkannt ich die Kraft
Und die herrliche Ewigkeit,
Hellas und Rom, des Sinns
Eurer Zeiten: hier
Lebt noch die Herrscherin Kunst, die alles
Bindet und hebt und verklärt und den Menschen
Wirklich zum Herren der Erde macht.

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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2011). Bierbaum, Otto Julius. Blätter aus Fiesole. TextGrid Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-2F14-1