[288] Reliquien

1.

Wie Blitzschlag kam das Schlimmste über mich:
Mein Haus ward plötzlich leer, mein Herz ward leer;
Das Glück ging fort auf Nimmerwiederkehr,
Ein Krüppel und ein Bettler, bleibe ich.
Das alles ist nicht wahr! Ich rufe dich,
Im weiten Hause irre ich umher,
Ich muß dich finden! – Ach, es ist doch leer;
Der Blitz schlug ein, und er traf fürchterlich.
Auf meiner Brust hab ich fünf Blätter ruhn,
Die sind von dir und mir das letzte Stück:
So fühltest du, so sprach ich aus dein Glück,
So waren wir einst eins! – Was soll ich nun,
Ich Halber in dem leeren Leben thun?
Giebt es für mich ein Wort nur noch: Zurück?

2.

Was du gefühlt hast, stammelnd, ungefüge,
Ich durft es dir und mir zum Kranze runden,
Du hast die Worte, ich den Sang gefunden, –
Ach, daß ich noch die schönen Kränze trüge!
[289]
Was waren das für Tage, was für Flüge
Im Trostland Traum! Die Schwere überwunden,
Wir beiden eingeflügelig verbunden, –
Und heute höhnt die Leere gähnend: Lüge!
Ich muß von mir auch diese Blätter geben;
Es sei kein Rest an mir von jener Zeit;
Das Wort von dir, das ich vermelodeit,
Soll mit dem Glück ins Dunkel rückwärts schweben.
Mich ruft das Licht, ich muß ins klare Leben.
Fliegt, Flatterlügen, fort! Ich bin bereit.

3.

Mir wird es schwer, soll ich sie fliegen lassen?
Wer weiß, in welche schmutzig dumpfen Gassen
Ihr Flug sie trägt. – Mut, Herz, gieb sie dem Wind!
Du bist befreit, wenn sie ins Blaue schwinden.
Da fliegen sie und segeln mit den Winden,
Die deines Wahns die letzten Fetzen sind:

(Das erste Blatt.)

Was sind deine Freuden,
Und was sind deine Leiden?
Ich bin gern bei dir, wenn du mir weh thust. –
Denk doch: Ich hab dich lieb.
[290] (Das zweite Blatt.)

Oh, eile, denn die Welt
Ist längst vergangen;
Sie ist ein Liebesgezelt,
In dem die Sterne wie Rosen hangen.
(Das dritte Blatt.)

Der Herbst sagt wohl: Ich sterbe.
Aber du sagst: Ich lebe.
Und so sage ich auch,
Daß ich lebendig bin.
(Das vierte Blatt.)

In meinem Herzen ist ein Nest,
Drin kleine Vögel singen.
Höre doch:
Sie singen deinen Namen.
(Das fünfte Blatt.)

Wenn du weg bist,
Wenn ich einsam bin,
Friert mein Herz.
Wenn du da bist,
Wenn du bei mir bist,
Ist Sonnenschein.
Nun sind sie fort ... Die Tauben fliegen schnell,
Die Venus-Vögel. Silbern in das Blau
Des hohen Himmels schwanden sie dahin.
Der Himmel gabs, der Himmel nahms. Vorbei.

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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2011). Bierbaum, Otto Julius. Reliquien. TextGrid Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-2F20-5