Gesicht

Ich sah das Kreuz, daran der Heiland hing;
Nacht wars, und Mondenschein; doch bleiern fahl
War dieses Licht; ein Riesenschmetterling
Saß auf des blutumronnenen Hauptes Qual.
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Der Falter rührte seine schwarzen Schwingen leis,
Als wie von Seide waren sie starr und kalt;
Nicht eine Stimme klang im weiten Kreis;
Es ward mein Herz von diesem Anblick alt.
Mir wars, als hinge ich selber am Marterpfahl,
Und Todesfrost durchkröche meinen Leib;
Da kam berauf aus einem Frühlingsthal
Zum Berg der Nacht ein jugendliches Weib.
Weiß war ihr Kleid, doch ihre Wangen rot.
Hell war ihr Auge, adelig ihr Gang;
Der Schmetterling flog auf, von Gold umloht
Gleißte der Stamm, als ihn das Weib umschlang.
Doch nur ein Augenblick wars. Schwarz und kalt
Fiel Finsternis auf Kreuz und Weib und Land,
Und grüne Schlangen kamen tausendfalt,
Die hornigen Schädel auf das Kreuz gewandt.

Notizen
Erstdruck in: Erlebte Gedichte, Berlin (Issleib) 1892, bzw. in: »Nemt, Frouwe, disen Kranz«. Ausgewählte Gedichte, Berlin 1894.
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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2011). Bierbaum, Otto Julius. Gesicht. TextGrid Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-2F3F-3