[308] In Gleichnissen

Die Purpurschnecke

(Herrn Gustave Kahn zugeeignet.)


Wie eine Schnecke,
Träge, langsam,
Schleicht das
»Glück« ...
Mit wartendem, klopfendem Herzen steht
Der Mensch und breitet in Qual und Angst
Die Arme aus und schreit zum Himmel:
»Oh komm, komm endlich,
Löse mich, löse mich
Aus Fesseln und Banden –
Ein Glückeslächeln,
[309]
Ein einziges nur,
Es würde mein Herz
Erwärmen mit lachendem Leuchten,
Wie Maiensonne nach Winters Frost die starre Erde!« ...
Er wartet und fleht
Lange, lange,
Und müht sich ab im Geschirr des Lebens,
Und keucht und keucht,
Gebunden, gepeitscht,
Möchte vorwärts: hinauf!
Hinauf! wo es strahlt
Und lächelt das Schöne,
Ruhige, Klare,
Immer Ersehnte ...
Aber das Glück,
Kein stürmischer Engel,
Ach, kein gütig gewährendes Weib,
Aber das Glück,
Die purpurne Schnecke,
Rückt nur mühsam,
In langen Fristen,
Wenige Schritte
Vor ... und
Ihre träge gedrehten Fühler
Tasten kalt an eine starre,
Augenleere Leiche im Grabe.
[310]
Verfluchte Schnecke, o faules Glück!
Indes du deinen schleimigen Weg
Lautlos vorwärts schlichest: da stob,
Brauste, wütete, raste mit Heulen,
Gewaltig schnelle mit Sturmes Mächten
Von allen Seiten die Schaar der Furien
Los auf den Armen.
Die dürren Weiber!
Hexengestöber, grimmig jauchzendes ...
Mit ihren Geißeln schlugen sie ihn,
Mit ihren Schlangen schreckten sie ihn,
Mit ihren modrigen Blicken trieben sie ihn
Durch bange Verzweiflung und Wahnsinnsnacht
In den Tod.
Ein gehetztes, verendetes Wild –
Im Grab
Stumm liegt er nun:
Im Nichts.
Im friedvollen, unbelebten Nichts
Ward ihm das Glück ...
Die dunkelrote Pupurschnecke kriecht
Ueber seiu Grab,
Lautlos ...

[311] Schmied Schmerz

Der Schmerz ist ein Schmied.
Sein Hammer ist hart;
Von fliegenden Flammen
Ist heiß sein Heerd;
Seinen Blasebalg bläht
Ein stoßender Sturm
Von wilden Gewalten.
Er hämmert die Herzen
Und schweist sie mit schweren
Und harten Hieben
Zu festem Gefüge.
Gut, gut schmiedet der Schmerz.
Kein Sturm zerstört,
Kein Frost zerfrißt,
Kein Rost zerreißt,
Was der Schmerz geschmiedet.

Die Spinne

Meine Augen waren nächten aufgethan,
Starr im tiefen Traume, einem Riesenplan.
Eine Ebene war es unermeßlich weit,
Und mein Auge sahe die Unendlichkeit.
[312]
War wie Blei so grau, war wie Blei so schwer,
Eine Riesenspinne lief darüber her.
Schwarze Klebefäden wob sie her und hin,
Blind, so schien, mir war die graue Weberin
In der Spinnewebe Maschen eingenetzt
Hingen Menschenherzen blutig und zerfetzt.

Zum Ziele

(Herrn Max Schillings zugeeignet.)


Nun laßt uns fahren über Land!
Die Pferde sind schon angespannt
Und scharren mit den Hufen.
Schön ist die Welt, und die Welt ist mein,
Ich höre eine Stimme rein
Fern meinen Namen rufen.
Fahr Kutscher, fahr in den dunklen Tann!
Ich fahre.
Fahr Kutscher, fahr mich den Berg hinan!
Ich fahre.
[313]
Und dann hinunter ins Gartenland,
Da steht ein Haus: Zum Glück genannt.
Ich fahre.
Es traben die Pferde, es knirscht der Sand,
Es geht durch lachendes, blühendes Land.
Da steht der Tann im Schweigen.
Wir fahren langsam in ihn ein,
Grün wird der goldene Sonnenschein,
Nun, Rappen, gehts ans Steigen.
Hörst du die Stimme aus dem Grund?
Ich höre.
Sie wiederhallt von Schlund zu Schlund.
Ich höre.
Es schwebt um uns der leise Schall,
Die Stimme ist allüberall.
Ich höre.
Der Gipfel da. Die Stimme schweigt.
Der Kutscher in den Abgrund zeigt.
Blau dehnt sichs ohne Ende.
Dort unten ist kein Blühen mehr,
Dort unten ist es kalt und leer!
Oh wende die Rappen, wende!
Wo hast du mich, Trauriger, hingebracht?
Zum Ziele.
[314]
Wohin fällt diese schwebende Nacht?
Zum Ziele.
Ich aber, ich will nicht, ich will zurück,
Ich will zum Hause, genannt Zum Glück!
Zum Ziele.
Da wurde mir ruhig und wurde mir klar,
Da wußt ich, wohin ich gefahren war,
Und wars zufrieden.
Der Kutscher fuhr rückwärts, ich gab ihm die Hand,
Und sprach: oh grüß mir das blühende Land,
Aus dem ich geschieden.
Und aus der Leere klangs hell und lind:
Komm schnelle.
Müd ward ich wie im Spielen ein Kind.
Komm schnelle.
Ich lief in den Abgrund, ins schwebende Meer
Und fühlte von mir kein Fühlen mehr.
Komm schnelle.

[315] Ich wollte wohl, doch leider ...

Ich sah zwei Schiffe fahren
Im Flusse Seit an Seit,
An ihren Raaen waren
Viel Wimpel aufgereiht.
Auf ihrem Decke gingen
Gestalten bunt und viel,
Und war ein silbern Klingen
Um ihren schlanken Kiel.
Frühling an beiden Seiten
Des schnellen Flusses war,
In allen Höhn und Weiten
Der Himmel wolkenklar.
Da rief an seinem Rade
Der junge Steuermann:
Was stehst du am Gestade?
Komm mit! Wir halten an.
Ach Gott, ich käme gerne,
Doch sagt mir nur zuvor:
Wohin!? –: In alle Ferne!
Komm! Frage nicht, du Thor!
Wer mit will, darf nicht fragen,
Wer fragt, der ist nicht wert,
Daß ihn die Wellen tragen,
Daß er ins Ferne fährt.
[316]
Ich wollte wohl, doch leider
Sann ich erst nach genau.
Die Schiffe fuhren weiter,
Der Himmel wurde grau.

Eine Parabel vom Mond und dem Riesen

(Für Eduard und Hedwig Thuille.)


Hinter dem Berge
Die tausend Zwerge
Mit den großen Schädeln gescheidt und frech
Lassen wieder gleißen
Im grellen, weißen
Scheine das runde, blinkende Blech.
Gespannt den Bogen!
Die Sehne gezogen!
Ich treffe das blitzende, glitzende Ding.
Was soll das Geblecher!
Zum Abendtrunkbecher
Brauch ich kein zitterndes Flimmergeblink.
Es saust von der Sehne
Der Pfeil, seine Mähne
Wirft rückwärts der Riese und wartet gespannt.
[317]
Dann brüllt er: Daneben!
So will ich es heben
Das Ding aus der Höhe mit eigener Hand.
Es soll nicht dort hangen!
Ich will es mir fangen,
Ich will von den Zwergen nichts glitzerndes sehn!
Ich wills ihnen weisen!
Ich will es zerschmeißen,
Klirr soll es in tausend Kleinstücke mir gehn!
Es rannte der Riese
Wild über die Wiese,
Ueber Berge und Thäler, durch Sümpfe und Kot.
»Fort! Fort mit dem Scheine!«
Er brach sich die Beine.
Der Mond hängt noch oben, der Riese ist tot.

Ritter Hahn und Bauer Enterich

(Ein soziales Gespräch auf dem Miste; Herrn Th. Th. Heine zugeeignet.)


Der Haushahn, Herr von Stakelsteif,
Mit rotem Kamm und grünem Schweif,
Erhob ein laut Gekrähe;
[318]
Zerbarst sich schier den langen Hals,
Schrie, daß er statt des Düngerwalls
Gern etwas Reinres sähe.
»Ich trage Sporen,« sprach der Hahn,
»Und seht doch mein Gefieder an!
Ists nicht bewundernswürdig?
Ich bin von adeligem Stamm,
Mein zackig aufgeschwollener Kamm
Zeigt, daß ich ritterbürtig.«
»Mit Eurer Gnaden Permittenz«
Sprach drauf Herr Erpel Schwenkeschwenz,
»Ich bin zwar nur ein Bauer,
Jedoch, was Euch betrifft und Mist,
Weiß ich, was gut und dienlich ist,
Dem Mist und Euch, genauer.
Gewiß seid Ihr ein Edelmann
Der seine Sporen tragen kann
Und seine Farben zeigen.
Indessen: erst der Mist verleiht
Euch Eure hohe Adligkeit;
Vor ihm sollt Ihr Euch neigen.
Nur auf dem Mist seid Ihr Baron,
Und nur der Mist ist Euer Thron;
Wollt Ihr den Mist verlassen,
So wird Euch Heimweh nach dem Mist,
Der Eurer Ahnen Hochschloß ist,
Mistheimweh wird Euch fassen.
[319]
Ich bitt Euch, bleibt dem Mist getreu;
Ist er auch nur verdautes Heu,
Ist er doch weich und wärmlich.«
Da schüttelte den grünen Schweif
Der schöne Herr von Stakelsteif:
»Das Pack bleibt stets erbärmlich.
Ich weiß, weshalb der Bauer fleht:
Er braucht mich hier als Majestät,
Daß ich sein Sein beglänze.
Mon dieu, mon dieu, Kikerikih!
Es reibt die Aristokratie
Sich auf für Schwenkeschwenze.«

Für Beerensucher

Gingen zwei in einen Beerenwald;
Fand der Eine süße Beeren bald;
Hat sich fleißig gebückt
Und emsig gepflückt;
That nichts als essen.
Der Andre indessen
Trug immer die Nase gen Himmel gericht,
Sah den lieben Herrgott oder macht' ein Gedicht,
Aber die süßen Beeren, die sah er nicht.
[320]
Thun mir leid alle Beide.
Ich liebe die Beeren- und Himmelsweide.
Ich hätte mir Beeren gesucht im Kraut
Und essend zum blauen Himmel geschaut.
Mir hätte keins das andre geniert,
Hätte Himmel und Beeren in eins skandiert.

Aus der Schusterperspektive

Ein Held und Herr hatte Stiefel not,
Und einen Schuster zu sich entbot,
Sie anzumessen.
Der rannte beglückt von Trinken und Essen
Und kam.
Zunftsäuberlich das Fußmaß nahm.
Nun aber, als er am Biertisch gesessen!
Hu, wie er das Maul voll Knödel nahm:
Ei'm Helden, ihr, ist nit leicht anzumessen!
Ich maß mir schier die Arme lahm.
Nicht jeder Meister mag dazu taugen:
Der Held hat sieben Hühneraugen!

[321] Der weiße Maulwurf

Eine Tierfabel.


(Michael Georg Conrad in alter Kameradschaft zugeeignet.)


Ein dickes Maulwurfsehepaar,
Das glänzend schwarz wie Sammet war,
Erfuhr Familienzuwachs. Froh
Lag die Frau Maulwurf auf dem Stroh
Und leckte jedes Junge
Mit ihrer schmalen Zunge.
Da rief sie plötzlich: »Wunderlich,
Mir scheint, ich weiß nicht, irr ich mich,
Mich dünkts: Das Eine von den Drei'n,
Das muß was ganz besondres sein.
Leck du ihm doch mal auch das Fell!
Nicht wahr: Das spürt sich an wie – hell!?«
Der Gatte brummte: »Dummes Ding!
Red doch nicht wie ein Engerling!«
Sie aber, spitzig: »Liebes Kind,
Ich bin doch wohl nicht zungenblind:
Das Dritte, kleinste da, ist – weiß!«
»Daß ich dich in die Schaufel beiß!«
Zornwatschelnd kam er aus der Ecke,
Hub an ein prüfendes Gelecke,
That »Hem« und »Hum« und knurrte dann:
[322]
»Das leckt sich wirklich helle an.
Ein Wunder, scheint mir, ist geschehn,
Ich will Großvatern holen gehn.«
Nahm einen dicken Engerling,
Der in der Vorratskammer hing,
Fraß ihn befriedigt auf und ging.
Nach vielem Wühlen kreuz und quer,
Bracht endlich er den Ahnen her.
Der schüttelte den Rüssel sehr
Und meinte, nie, so alt er wäre,
Hab er vernommen solche Märe.
Doch, als geleckt der Maulwurfsgreis,
Sprach er: »Der Junge da ist weiß,«
Und schüttelte noch mehr
Den Rüssel hin und her.
Bald war im ganzen Land herum
Das seltsame Mirakulum;
Gevatter und Gevatterin
Trug es geschäftig her und hin,
Und schnell von Ferne und von Nah
Warn wispernd Gratulanten da.
Das weiße Fell ging fast entzwei
Von allzu vieler Leckerei,
Und Mama Maulwurf schloß das Thor,
Ließ niemand mehr zum Lecken vor.
[323]
Sie war ein wenig eitel schon
Auf diesen weißgeborenen Sohn,
Und, wie nun schon die Mütter sind,
Er wurde bald ihr Hätschelkind.
So wuchs bewundert er heran
Vom Wunderknaben zum Wundermann,
Die Augen rot, das Fell schneeweiß,
Stolz war auf ihn der ganze Kreis.
Er selber aber zeigte sich
Recht sonderbar und wunderlich:
Mocht ungern bei den andern sein,
Saß träumend gern für sich allein;
Zumal das Wühlen schien ihm sehr
Verhaßt, wie wenn er kein Maulwurf wär.
Denn in den engen Winkelgängen
Blieb ihm gar viel am Felle hängen,
Das zu dem Weiße gar nicht paßte.
Es schien, daß er das Erdreich haßte.
Das machte schon viel böses Blut:
»Der Weiße dünkt sich wohl zu gut,
Für unsrer Heimat heiligen Dreck!?
Der Frevler bürstet sich ihn weg,
Statt patriotisch ihn als Zier
Im Fell zu tragen, so wie wir!
Entartung ist sein weißes Fell!
Er ist uns überhaupt zu hell.«
[324]
So hob es mit Gemurmel an,
Doch ein Geknurre wurd es dann,
Als stolz der Weiße widersprach.
Auch warf man ihm schon Klumpen nach.
Da blieb er immer mehr für sich,
Gemieden und absonderlich.
Und eines Tags, da fühlte er,
Daß er am falschen Platze wär.
Heraus! Hinauf! Zu groß der Drang!
Er baute einen eignen Gang.
Und nicht hinab und nicht quer um,
Nein: grad hinauf! Das Publikum
Stand halb entsetzt, halb höhnisch da,
Als es den steilen Aufstieg sah:
»Wart, Bürschchen, das bekommt dir schlecht,
Der Augenschmerz geschieht dir recht,
Wenn oben dich die Sonne beißt,
Du warst zum letzten Male dreist!«
Vergnüglich harrten Alle
Daß er herunter falle
Und winsle; »Ach, das Licht thut weh,
Ich steige nie mehr in die Höh!«
Er aber, wie von Freude toll,
Rief: »Brüder, kommt! So wundervoll,
Wie nie ichs träumte, ist es hier,
Kommt, kommt zum Licht, ach, kommt zu mir!
[325]
Ich hab das Glück, das Glück gefunden,
Und ihr lebt in der Hölle unten!
Mir nach, mir nach, mir nach zum Licht!
Kommt alle, kommt und zaudert nicht!«
Wie das der schwarze Schwarm vernahm,
Jachheiße Wut ihn überkam:
»Herunter mit dem Galgenstrick!
Herunter! Brecht ihm das Genick!«
»Kommt, kommt zum Licht! Oh, kommt zu mir!«
»Ja, warte nur! Wir kommen dir!«
Und während er begeistert schrie,
Da gruben sie und wühlten sie
Viel krumme Gänge zu ihm hin
Und packten ihn und zerrten ihn –
Hinab. Und haben sein Fell zerfetzt
Und totgebissen ihn zuletzt.
Da lag der Weiße still im Dreck,
Befriedigt trollten die Schwarzen weg
Und fraßen viele Engerlinge
Und waren zufrieden und guter Dinge.
Doch, daß die Nachwelt einst erfahr,
Daß mal ein weißer Maulwurf war,
[326]
Und zum Beweis das Fell erseh,
Bildeten sie ein Komitee:
»Zu des weißen Vließes Konservierung.«
Das erfand eine praktische Balsamierung,
Und des Maulwurfreiches weißer Sohn
Ward beigesetzt im Pantheon.

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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2011). Bierbaum, Otto Julius. In Gleichnissen. TextGrid Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-3423-7