[369] Sub Rosa Veneris

(An Frank Wedekind.)

1.

Die Sonne liegt auf goldenem Kies:
Der Weg da führt ins Paradies.
Rund, bunt, ein Pfauenrad, das Thor:
Zwei nackte Evas stehn davor.
Leg Schuh und Kleider in den Sand:
Geh nackt in das gelobte Land.
Nun lastet kein Gesetz dir schwer:
Du warst ein Christ, jetzt bist du mehr.
Vier Arme winken dir, geh ein:
Ein Gott und Heide wirst du sein.

[370] 2.

Heimlich, auf Diebes-Sohlen,
Bist du, ein Sklave, geschlichen,
Der Lust Brosamen zu stehlen;
Pfui, du hast dich gefürchtet.
Nun gehst du nackt in der Sonne
Und nimmst dir die Lust als dein Eigen,
Den runden, goldenen Apfel vom Paradiesesbaume.
Wo ist der Engel mit dem Flammenschwerte?
Küsse die saftige Frucht andächtig, vor du sie issest,
Küß deine Hand, die sie nahm, und die den Engel vertrieb.

3.

Bist du lange blind gewesen,
Darfst du nun die Schönheit sehn,
Ganz und gar bist du genesen, –
Denn du lerntest, nackt zu gehn.
Keine Hüllen, Fesseln, Binden,
Und zur Sonne hast du Mut,
Was dich lüstet, wirst du finden;
Denn du bist dir selber gut.
[371]
Bist ein Beter du gewesen,
Wirst du Gott nun selber sein,
Ganz und gar bist du genesen:
Denn du bist nicht mehr gemein.

4.

Wenn der Frühling kam, kam dich die Sehnsucht an;
Du genossest ihn nicht, du erschauertest ihm.
Nun bist du Blühens ein Teil.
Nun ist dir die glänzende Knospe verwandt
Und der triefende Saft und das schwangere Glück:
Nun kennst du die Sehnsucht nicht mehr.

5.

In meinem heimlichen Schlosse gehn
Zwei Mädchen nackt Trepp auf, Trepp ab,
Umarmen sich und küssen sich
Und sind verliebt in sich und mich
Und lachen.
In meinem heimlichen Garten gehn
Zwei Mädchen nackt durch Busch und Beet;
Die Sonne ist den Nackten hold,
Gießt über ihre Schönheit Gold;
Sie leuchten.
In meiner heimlichen Kammer ruhn
Zwei Mädchen nackt auf einem Pfühl.
[372]
Der Sommerwind ist um sie her,
Die Sommernacht ist schwül und schwer;
Sie träumen.
In meinem heimlichen Saale stehn
Zwei Mädchen nackt und sehn sich an.
Und vor einander in die Knie
Mit einem Seufzer sinken sie
Und weinen.

6.

Das ist des Lebens innigster Verstand:
Bescheiden sein im guten Augenblick,
Das Nahe voll umfassen, alles rings
Durchfühlen und genießen – aber nicht allein.
Was will ein Herz allein? Es schlägt und schlägt
Und müdet sich ins Leere. Sehnsucht ist
Sein Loos, und Sehnsucht fühlen, heißt: in sich
Dem Leben fern sein.
Oh Geliebte, komm.
Ich will dich fühlen und lebendig sein.
Was brauch ich Himmel, Ewigkeit und Gott?
Ich habe dich. Der Augenblick mit dir
Ist Ewigkeit in Gott. Wenn meine Hand
[373]
Die runde Fülle deines Busens fühlt,
Fühl ich, daß Leben haben Gott sein ist.
Denn du bist schön. Und Schönheit ist der Sinn
Der Welt. – Schönheit genießen, heißt die Welt
Verstehn.

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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2011). Bierbaum, Otto Julius. Sub Rosa Veneris. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-3457-4