[82] Lieder

1.

Kam die Liebe in mein Herz gezogen,
Kam nicht wie ein heitrer Sommertag,
Kam nicht wie das junge Grün im Walde,
Wie die duft'ge Blume auf der Halde,
Kam wie Noth und bitt'res Ungemach.
Wohl ist wie ein Sommertag sie kommen,
Aber ganz von Staub und Gluth erfüllt;
Wie das Grün vom nächt'gen Frost verheeret,
Wie die Blume, die der Wurm verzehret,
Eh' die Knospe sich noch ganz enthüllt!
Anders, anders ahnte sie die Seele,
Anders hoffte sie mein pochend Herz;
Aber, ob sie mir im Festgeschmeide
Sei erschienen, ob im Trauerkleide,
Nimmer tausch' ich meinen süßen Schmerz!

[83] 2.

Das hab' ich nicht gedacht,
Als Blatt und Blüthe sproßten,
Und ich voll Fröhlichkeit:
Daß mich die Sommerzeit
Mein ganzes Glück soll kosten.
Das hab' ich nicht gedacht –
Wie sollt' ich es auch meinen?
Als diese Haide grün,
Daß bis zu ihrem Blüh'n
Ich so viel müßte weinen.
Das hab' ich nicht gedacht,
Es gäb' noch tief'res Leide,
Als sonst mein Herz empfand,
Wenn rings das ganze Land
Sich barg im Winterkleide.
O, Freude, gute Nacht!
Wie ich's auch mag bedenken,
Meine Lust ist all' dahin –
Mag's schneien oder blüh'n,
Mich kann jetzt nichts mehr kränken!

[84] 3.

Wenn diese Stirne trüb der Gram umdüstert,
Und unter Thränen nur die Stimme flüstert,
Wer fragt darnach?
Wer fragt darnach, warum dem bleichen Munde
Kein Lächeln mehr entlockt die frohe Stunde,
Nur Seufzer schwach?
Die Schmerzen, die dies arme Herz durchbeben,
Der Täuschung Qualen, die den Busen heben,
Wer fragt darnach?
Wer sucht der Trauer dunklen Blick zu deuten,
Der ohne Wort enthüllt der Seele Leiden,
Wen kümmert's, ach?
Wenn sich der Tod auf diese Augen breitet,
Die lang' das Herz um seinen Tod beneidet,
Wer fragt darnach?
Mit einmal schwindet bei des Morgens Schauer
Der Sterne Heer – wer blickte je voll Trauer
Dem Einen nach?

[85] 4.

Weiche Luft, nach Sonnenbrande
Hältst die Erde du umfangen!
Spielst um sie wie Mutterlächeln,
Kühlest ihre heißen Wangen.
Weiche Luft, bei deinem Hauche
Athmet Alles neues Leben,
Wie im ersten Frühlingswehen
Baum und Blüthe froh sich heben.
Weiche Luft, du gleichst der Ruhe,
Die der kranken Seele fächelt,
Wenn nach letztem, heißem Kampfe
Ihr ein neuer Friede lächelt.
Weiche Lüfte, weiche Ruhe,
Wieget Erd' und Seele leise,
Stärkt die Welt zu neuem Blühen,
Und das Herz zur Weiterreise!
[86]

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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2012). Büchner, Luise. Lieder. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-4679-5