Hans von Chlumberg
Die Führer
Ein Schauspiel in vier Akten und einem Vorspiel

[7] Personen des Vorspiels

    • Karl Baron Heldenberg, Diplomat.

    • Viktor Graf Hohenfels, Diplomat.

    • Franz Graf Krondorf, Oberleutnant.

    • Ernst Bergmann, Angehöriger einer radikalen Fraktion.

    • Franz, Diener Heldenbergs.

    • [7]

Personen der vier Akte

    • Ernst Bergmann, Abgeordneter, Führer einer radikalen Fraktion

    • Heinz, 24 Jahre
    • Annie, 19 Jahre, seine Kinder aus erster Ehe

    • Marie, seine zweite Frau

    • Dr. Friedrich Bergmann, Universitätsprofessor, Bruder Ernst Bergmanns

    • Karl Baron Heldenberg, Chefredakteur des radikalen Parteiblattes »Die Wahrheit«, Parteigenosse Ernst Bergmanns

    • Dr. Ferndorf, Parteigenosse Ernst Bergmanns

    • Meyer, Vater, Parteigenosse Ernst Bergmanns

    • Meyer, Sohn, Parteigenosse Ernst Bergmanns

    • Dvorsky, Schlossermeister Parteigenosse Ernst Bergmanns

    • 1.
    • 2.
    • 3. , Herr, Herren der Fraktionsleitung, Parteigenossen Ernst Bergmanns

    • Dr. Schroeder

    • Polizeikommissär Reiter

    • Ein Arzt

    • Johann, Diener Ernst Bergmanns

    • Demonstrierende Parteigenossen Ernst Bergmanns

    • [8] Franz Graf Krondorf, Oberst

    • Alice, 20 Jahre, seine Tochter

    • Ferdinand Graf Krondorf, Attaché, Neffe Oberst Krondorfs

    • Graf Viktor Hohenfels, Abgeordneter, Führer einer konservativen Fraktion, Vetter Oberst Krondorfs

    • Viktor, 23 Jahre, sein Sohn

    • Rittmeister Horst
    • Leutnant Waldow
    • Leutnant von Steggendorff, Offiziere im Regimente Oberst Krondorfs

    • Herren und Damen der Gesellschaft, Gäste Oberst Krondorfs

    • Diener Oberst Krondorfs

Vorspiel

Vornehmes, mit erlesenem Geschmack eingerichtetes Arbeitszimmer Baron Heldenbergs. Zwei Türen, ein Fenster. In der Mitte des Zimmers ein breiter Diplomatenschreibtisch. Davor ein Lehnsessel. Tischtelephon. An den Wänden kostbare Bilder. Im Zimmer herrscht einige Unordnung. Auf dem Teppich liegen Zigarettenreste, am Schreibtisch eine Reitgerte, ein Paar Handschuhe. Nachmittags.


Heldenberg, Franz.

HELDENBERG
ist etwa 24 Jahre alt.

Elegante Lebemannserscheinung. Er geht in sichtlich großer Erregung im Zimmer auf und ab, raucht Zigaretten an, wirft sie nach einigen hastigen Zügen in die Ecke. Dann tritt er ans Fenster, blickt hinaus. Diese Ungewißheit! Sie wird nachgerade unerträglich! Wie lange die auch ausbleiben!

FRANZ
Mitte der Dreißig, mittelgroß, glattrasiert, tritt ein.
HELDENBERG
sieht sich um.
Was gibt's?
FRANZ.
Dieser Herr ... Bergmann war schon wieder hier ...
HELDENBERG.
Ah? Wann?
FRANZ.
Vor einer Stunde etwa. Er hat nur mit dem Portier gesprochen.
HELDENBERG.
... hat ihn jemand gesehen? Hat jemand gehört, daß er nach mir gefragt hat?
FRANZ.

Er hat mit dem Portier gesprochen, als die beiden Herren Grafen fortgegangen sind. Die werden ihn wahrscheinlich gesehen haben.

HELDENBERG
stampft mit dem Fuße auf.

Verwünscht! ... Na, jetzt ist's ja schon geschehn.Pause, dann leichthin. Hat er mir etwas sagen lassen?

FRANZ
langsam.
Er hat sagen lassen, daß er in etwa einer Stunde nochmals kommen wird.
HELDENBERG
beißt sich auf die Lippen.
So ... das hat er sagen lassen?
FRANZ.
Ja.
[11]
HELDENBERG
geht im Zimmer umher.
Mit gemachter Ruhe. Es ist gut, Franz.
FRANZ
stockend.
Herr Baron ... werden den Herrn empfangen?
HELDENBERG.
Ich ... weiß es noch nicht.
FRANZ
wie vorhin.
Herr Baron werden gütigst entschuldigen ... was will der Herr?
HELDENBERG.
Franz –?
FRANZ.

Der Herr Baron werden entschuldigen ... aber ... aber ... der Herr ist von der radikalen Fraktion, Herr Baron!

HELDENBERG.
Nun, und?
FRANZ.

Der Herr Baron werden gütigst entschuldigen ... ich bleibe nicht in einem Hause, in welchem Leute von der radikalen Fraktion aus- und eingehen. Ich öffne solchen Leuten nicht die Türe, Herr Baron, und ich grüße solche Leute nicht ...Pause dann stockend. Und da wollt' ich eben fragen, ob der Herr Baron ... empfangen oder nicht.

HELDENBERG
nach einer Pause.
Sie sind entlassen, Franz.
FRANZ
verneigt sich.
Sehr wohl, Herr Baron. Ab.

Das Tischtelephon läutet.
HELDENBERG
geht zum Apparat.

Du, Bengersdorff? Ja, hier Heldenberg. Ja, ich selbst. Was ist los? Erschrickt. Was sagst du? Nicht möglich! Der junge Seestädt? Erschossen? Gestern nachts? Schrecklich! Der arme Junge! Wie alt? Erst 20? Entsetzlich! Kennt man den Grund? Wie? Zuckt zusammen. Spielschulden? Oder? ... Wie sagtest du? Man hört so schlecht ... Ehrenwort gebrochen?Wischt sich den Schweiß von der Stirne, lacht rauh auf. Ja ... dann konnte er doch nicht anders ... Wie meinst du? Er hätte sich nicht erschießen sollen? Trotz Ehrenwortbruches nicht? Ja, aber die Gesellschaft, die »gute Gesellschaft«! Hättest du ihm noch die Hand gereicht? ... Ah, siehst du wohl ... [12] Laut und bitter auflachend. Siehst du wohl ...! Wie meinst du? Ob ich ...? Nein, ich auch nicht! Ich ... haha ... hätte ... haha ... ihm die Hand auch nicht gereicht! Na, lassen wir die Sache. Wann, sagst du, ist das Leichenbegängnis? Morgen um 11 Uhr? Gewiß, ich komme, ich komme ganz bestimmt. Das heißt ... natürlich, wenn mir bis dahin nichts passiert ... Was mir passieren könnte? Na, ich könnte doch möglicherweise bis morgen auch tot sein? Wie? Du lachst? Haha ... was es da zu lachen gibt, weiß ich nicht. Du mußt zugeben, ich kann bis morgen tot sein ... Ich werde vielleicht bis morgen tot sein ... hahaha ... nun lachst du schon wieder! Na, wie gesagt, 's ist gut. Und wenn ... mir bis dahin nichts passiert, bin ich morgen um 11 draußen. Servus, servus. Ja. Schluß.Läutet ab; er wirft sich in den Lehnsessel vor dem Schreibtisch. Mit zusammengebissenen Zähnen. Wem er dasselbe morgen von mir ...?


Es läutet.
HELDENBERG
springt auf.
Gott sei Dank, das sind sie. Eilt zur Tür.

Baron Heldenberg, Oberleutnant Graf Krondorf und Graf Hohenfels.
KRONDORF
ist ein junger, eleganter, liebenswürdiger Kavallerieoffizier, etwa 23 Jahre alt.
Er ist zart, schlank, sehnig. Sein Gesicht trägt jetzt einen auffallenden Ernst zur Schau.
HOHENFELS
ist so alt wie Krondorf.

Im Aussehen gleicht er seinem Vetter. Er ist der Typus des jungen Aristokraten. Er ist in seinen Bewegungen weniger lebhaft als Krondorf, sein Gesicht verrät nichts von seinem Denken und Empfinden. Er betont in seinem Auftreten den Diplomaten.

HELDENBERG.

Gott sei Dank, daß ihr da seid. Was bringt ihr? So sprecht doch! Nimmt er an? Nimmt er die Forderung an?

HOHENFELS
schüttelt den Kopf.
[13]
KRONDORF.
Er verweigert dir Satisfaktion.
HELDENBERG
taumelt zurück.

Verweigert sie ... sagst du? Verweigert sie? Bange Pause; Hohenfels geht auf und ab, Krondorf tritt ans Fenster.

HELDENBERG.
Was hat er gesagt?
KRONDORF.
Er hat uns bewiesen, daß wir einen Herrn vertreten, der nicht mehr verdient, vertreten zu werden.
HELDENBERG.
Krondorf!
KRONDORF
in ehrlicher Entrüstung.

Du hast Spielschulden nicht gezahlt, du hast dein Ehrenwort gebrochen, du bist vor einer Woche beleidigt worden und hast nichts dergleichen getan! Erst auf das Drängen Stögers hin hast du ihn durch uns fordern lassen. Wir haben von nichts gewußt, sonst hätten wir deine Vertretung nicht übernommen. Du hast uns nichts von den Spielschulden und nichts vom Ehrenwortbruch erzählt. Du hat uns mißbraucht! Das alles ist Denkungs- und Handlungsweise eines ...

HELDENBERG.
Krondorf! Pause, dann heiser. Was habt ihr also getan?
KRONDORF.
Ich habe meine Kappe genommen, Viktor seinen Hut und wir sind fortgegangen.
HOHENFELS.

Du siehst wohl ein, daß – selbst gesetzt den Fall, er wäre bereit gewesen, dir Satisfaktion zu geben – wir dich nicht länger hätten vertreten können auf diese Erklärung hin?

HELDENBERG
schweigt.
HOHENFELS.
Er ist selbstredend nicht dazu bereit gewesen.
KRONDORF.
Und wenn er es gewesen wäre, hätte ich ihm abgeraten.
HELDENBERG
wirft ihm einen bösen Blick zu.
Pause; dann zu Hohenfels. Was soll also jetzt werden?
HOHENFELS
schweigt.
HELDENBERG
zu Krondorf.
Und du, Krondorf?
KRONDORF
zuckt die Achseln.
[14]
HELDENBERG.

Was ratet ihr mir zu tun? Ihr werdet doch wenigstens einen Rat für mich übrig haben. Ein Rat ist doch so billig; er kostet den Ratgeber ja meist selbst nichts ...


Beide schweigen.
HELDENBERG
in gesteigerter Erregung.

Ich möchte eure Meinung hören. Darauf habe ich doch ein Anrecht ... zumindest auf Grund des jahrelangen guten Einvernehmens, welches zwischen uns geherrscht hat. Pause. Krondorf, ich bitte dich, mir zu antworten. Was würdest du tun, wenn du in meiner Lage wärest?

KRONDORF
langsam, ohne sich vom Fenster umzudrehen.

Wenn ich in deiner Lage wäre? ... Abgesehen davon, daß ich niemals, hörst du Heldenberg, niemals in eine derartige Lage kommen könnte, würde ich nicht mehr darüber nachzudenken Gelegenheit haben, was ich tun soll.

HELDENBERG.
Ah ... und warum, wenn ich fragen darf?
KRONDORF.
Weil ich nicht mehr unter den Lebenden weilen würde.
HELDENBERG
zuckt zusammen; lange Pause.
Dann. Und du, Hohenfels, was ist deine Meinung? Oder schließt du dich der Ansicht deines Vetters an?
HOHENFELS
senkt in schweigender Bejahung das Haupt.
HELDENBERG.
Ihr meint also: Kugel vor den Kopf?

Beide schweigen.
HELDENBERG
lacht häßlich auf.

Ich danke euch für den guten Rat. Ihr seid mir wirklich gute Freunde! Aber ich werde mir erlauben, euern Rat lieber doch nicht zu befolgen. Denn ich habe nur ein Leben zu verlieren und dieses eine Leben ist mir mindest soviel wert, als ...

KRONDORF
dreht sich um, mißt Heldenberg mit einem verachtenden Blick, wendet sich dann wieder dem Fenster zu.
HELDENBERG.

Das soll wohl heißen: Pfui Teufel![15] Wie? Oder doch so ähnlich wenigstens? ... Ja, Pfui Teufel, in Gottes Namen, ja! Ihr habt es ja leicht, mir zu sagen: »Geh, leg dich hin und jag' dir eine Kugel durch den Kopf!« Euch fällt das nicht schwer. Höchstens euer Gewissen regt sich und das ist ja durch unsere schönen Moralansichten gar so leicht zu beruhigen! Ihr redet euch ein, es hat so sein müssen und zum Schlusse glaubt ihr noch, ihr habt ein gutes Werk getan, das ihr mir zu diesem Ausweg geraten habt. Eine Zeit lang bedauert ihr mich noch, sprecht noch über mich, wenn ihr im Klub zusammenkommt, sagt, so wie ich es heute über den armen Seestädt gesagt habe: »Der arme Junge! Schrecklich! Entsetzlich! In so jungen Jahren!« usw. Dann ist der Heldenberg abgetan, kein Hahn kräht mehr nach ihm. Du, Hohenfels, wirst noch um einen Vordermann früher Ministerialsekretär und du, Krondorf, gehst in den Generalstab, lebst, avancierst und kommst ebenfalls zu Ehren.

KRONDORF
sich umdrehend.
Du bist ein Lump, Heldenberg!
HELDENBERG
fast schreiend.

Aber ich will nicht! Hört ihr? Ich will nicht! Kein Mensch ist so schlecht, daß er, von seiner Schlechtigkeit und Schädlichkeit den andern gegenüber überzeugt, sich auf solche Weise aus dem Leben stehlen muß. Auf eure Moralansichten pfeife ich, auf die sogenannte gute Gesellschaft verzichte ich. Wenn sie nicht mit mir verkehren will, so soll sie's bleiben lassen. Ich finde auch noch eine andere. Wenn ich tot bin, habe ich überhaupt keine! So, und jetzt wißt ihr's, sagt es auch den andern: Das Unfaßbare geschieht, Heldenberg erschießt sich nicht! Er will weiterleben, nach dem noch weiterleben! Nach dem! Lacht.

KRONDORF
nimmt schweigend seine Kappe, geht, ohne Heldenberg eines Blickes zu würdigen, ab.
Hohenfels folgt ihm ebenso.
HELDENBERG
sieht ihnen nach, dann.
So, macht[16] nichts, macht nichts; es wird auch ohne euch gehen ... es muß auch ohne euch gehen ...
FRANZ
tritt ein.
Herr Bergmann wünscht seine Aufwartung zu machen.
HELDENBERG.

Wer? Bergmann? Er ist draußen? Herein mit ihm! Herein mit ihm! Franz ab. Der kommt im rechten Augenblick ...


Heldenberg, Bergmann.
BERGMANN
etwa so alt wie Heldenberg, ärmlich gekleidet, tritt ein.
Heldenberg geht ihm entgegen.
HELDENBERG.

Sie sind mir willkommen, Herr Bergmann. Sie sind mir sehr willkommen. Schüttelt ihm die Hand. Wir werden – glaube ich – viel miteinander zu besprechen haben. Bitte, nehmen Sie Platz, Herr Bergmann. Bergmann setzt sich Heldenberg gegenüber, welcher den Platz vor dem Schreibtisch eingenommen hat.


Vorhang.

[17][19]

1. Akt

[19] [21]Erster Akt.

Arbeitszimmer Ernst Bergmanns; behaglich, gut bürgerlich eingerichtet. Links, rechts und rückwärts münden in das Zimmer Türen. Die Türe rechts, einige Stufen hoch, führt auf einen Balkon. Rückwärts ist die Ausgangstür. Durch die Türe links gelangt man in die Wohnzimmer.
Rechts vorne ein Schreibtisch. An der Wand rechts ein Rauchtischchen. Eine Uhr. In der Mitte ein Sitzungstisch mit Sesseln. Links in der Ecke eine Eckgarnitur. Einige Bilder, Bücherkästen. Es ist etwa vier Uhr nachmittags.
Bergmann sitzt vor seinem Schreibtisch. Er ist ein hochgewachsener, streng aber zuverlässig aussehender Mann von etwa 54 Jahren, mit ruhiger Sorgfalt gekleidet. Er spricht langsam, mitunter scharf pointiert und erweckt durch eine selbstverständliche Offenheit seines Auftretens und seiner Sprache unbedingtes Vertrauen.
Ferndorf sitzt ihm gegenüber. Er ist ungefähr 30 Jahre alt, schlank, sehr elegant gekleidet. Er ist der Typus des modernen Gelehrten.
Sehr ideal, spricht ruhig und bestimmt, oft voll Feuer.
Bergmann, Ferndorf.

FERNDORF
sich erhebend.
Es ist spät geworden, Bergmann. Ich muß gehen.
BERGMANN
sieht von seinen Schriften auf.

Ja.Blickt auf die Uhr. Ich sehe. Ich kann dich übrigens nicht einmal zu längerem Bleiben nötigen, denn ich muß selbst fort. Ich habe jetzt eine Konferenz und in einer Stunde beginnt schon meine Sprechstunde. Bis dahin muß ich wieder zurück sein.

FERNDORF.
... und was die Militärvorlage betrifft, Bergmann ...?
BERGMANN.

Wir lehnen sie ab. Wir lehnen sie unbedingt ab, wie jede bisherige. Trotzdem plötzlich der ganze Staat »Hoch die Regierung« schreit!

FERNDORF.
Wir müssen sie auch ablehnen. Jetzt Rüstungskredite zu bewilligen bringt uns den Krieg!
[21]
BERGMANN
nachdenklich.

Wir werden allein stimmen. Wir werden die einzigen sein, die in all diesem aufgepeitschten Gejubel dem Vaterlande – wie die Zeitungen schreiben – »die Mittel zur Verteidigung seiner Existenz« – verweigern. Und was werden wir erreichen? Die Vorlage kommt auch ohne uns durch.

FERNDORF.
Aber wir sind unserer Ueberzeugung vor Gott, unserem Gewissen und der Partei nicht untreu geworden.
BERGMANN.
Die Partei ist diesmal für die An nahme der Vorlage. Ich hab' es sagen hören ...
FERNDORF.

Dann ist sie eben auch in unglaublicher Verblendung von dem Enthusiasmus, den die Regierung systematisch erzeugen läßt, angesteckt worden. Wir müssen die Vorlage glatt ablehnen. Punkt für Punkt. Oder etwa nicht?

BERGMANN.
Ja, wir müssen sie ablehnen.
FERNDORF.
Und du läßt dich durch niemand mehr beeinflussen, Bergmann?
BERGMANN
ärgerlich.
Ja, wofür hältst du mich denn? Sie wird abgelehnt. Basta. Daran wird nicht mehr gerüttelt.
FERNDORF.
Ich danke dir, Bergmann.
BERGMANN.

Wofür denn? Du tust ja gerade so, als ob ich dir zu Gefallen die Vorlage ablehne. Es entspricht meiner Ueberzeugung, meiner durch nichts zu ändernden Ueberzeugung, daß eine Annahme der Vorlage ...

FERNDORF.
Einem Verbrechen an dem Staate gleichkommen würde ...
BERGMANN
legt Schriftstücke in eine Aktentasche.
Das ist wohl etwas übertrieben, aber schließlich, so etwas ähnliches mag ja daran sein ...
FERNDORF.
Ich bin neugierig, was Heldenberg dazu sagen wird. Siehst du ihn heute noch?
BERGMANN.
Er wird wahrscheinlich in meine Sprechstunde kommen.
[22]
FERNDORF.

Ich habe ihn gestern mit einer Dame zusammen gesehen. Ich bin nämlich vom Theater gekommen und da muß ich, wenn ich in mein Restaurant gehen will, an Heldenbergs Haus vorüber. Er hat gerade das Haustor aufgesperrt und ist dann mit seiner Dame hinein verschwunden.

BERGMANN.
Mit einer Dame? Schau, schau!
FERNDORF
lachend.

Ja, ja, der Heldenberg. Das sollte man ihm gar nicht mehr zumuten, wie? Er hat übrigens ein schlechtes Gewissen gehabt. Er war sichtlich sehr unangenehm überrascht als er meiner ansichtig geworden ist.

BERGMANN.

Na ja, sehr angenehm ist man ja nie berührt, wenn man in derlei Situationen einen guten Bekannten trifft. War sie wenigstens hübsch?

FERNDORF.

Das habe ich leider nicht konstatieren können, denn ich habe sie nur von rückwärts gesehen. Aber hochelegant war sie. Eine schöne dunkelgraue Straßentoilette und einen geradezu auffallend schönen Reiher ...

BERGMANN
und Ferndorf im Abgehen.
Einen Reiher? Einen weißen oder ...
FERNDORF.
Ja, einen weißen.
BERGMANN.

O, die sind teuer. Ich habe erst vor einigen Tagen für meine Frau einen bezahlt. Ein Vermögen kosten diese Reiher ... Ab.


Heldenberg, Marie.
HELDENBERG
etwa so alt wie Bergmann, vornehme Erscheinung, tritt ein.
Hier ist niemand.
MARIE
ist eine hübsche, auffallend gekleidete, dreißigjährige Frau.

Sie ist schlank, voll, sehr temperamentvoll und verfügt über eine ausgeprägte sinnliche Genußfreudigkeit, welche in Blick und Bewegung zum Ausdruck kommt. Dann müssen sie aber soeben erst fortgegangen sein. Dr. Ferndorf war bei meinem Mann.

[23]
HELDENBERG.
Umso angenehmer, wenn sie fort sind. Ich bin in erster Linie deinetwegen hergekommen, Marie.
MARIE.
Sehr schmeichelhaft für mich, Karl. Du hältst es anscheinend nicht mehr bis heute abend aus? Wie?
HELDENBERG.
Es ist leider kein Grund zu scherzen hier.
MARIE.
Was ist denn geschehen?
HELDENBERG.

Gestern habe ich es dir verheimlicht, um dich nicht zu beunruhigen. Ferndorf hat uns beim Nachhausekommen gesehen. Mehr noch als das. Er hat gesehen, daß ich das Tor aufgesperrt habe, daß wir beide hineingegangen sind und hat wahrscheinlich gehört, daß ich hinter uns wieder abgesperrt habe.

MARIE
zuckt zusammen.
HELDENBERG.

Erschrick nicht gleich. Gesehen hat er uns natürlich. Ja. Erkannt hat er mich ganz bestimmt. Dich ebenso bestimmt nicht.

MARIE.
Nun also, was weiter? Du wirst doch mit einer Dame in deine Wohnung gehen dürfen?
HELDENBERG.
Gewiß, gewiß. Ich spreche ja auch nicht von einer Gefahr.
MARIE.
Sondern ... was willst du also? Ich erschrecke nicht so leicht.
HELDENBERG.
Wir müssen uns in der nächsten Zeit in Acht nehmen.
MARIE.

Das kann ja geschehen. Du wirst in Zukunft vorgehen, das Haustor aufsperren und offen lassen. Wenn ich nach einer Weile allein hineingehe, wird kein Vorübergehender sich etwas besonderes dabei denken ...

HELDENBERG.
Das genügt nicht.
MARIE.
Was soll also geschehen?
HELDENBERG.
Wir müssen vorderhand vermeiden, einander zu treffen.
MARIE.
Ah! Du hast Furcht? Sieh doch einmal einer den Herrn Baron an!
[24]
HELDENBERG.
Was du Furcht nennst, nenne ich allernötigste Vorsichtsmaßregeln ...
MARIE.
Und worin sollen also diese Vorsichtsmaßregeln bestehen?
HELDENBERG.
Daß wir einander zum Beispiel gleich heute abend nicht treffen sollen.
MARIE.
Heute abend? Schön. Und morgen?
HELDENBERG.
Morgen natürlich auch nicht. Oder hast du Lust, einen Skandal heraufzubeschwören?
MARIE
gleichmütig.
Das wäre mir ziemlich gleichgültig.
HELDENBERG.
Aber mir nicht. Was würdest du denn tun, wenn wir zum Beispiel so plötzlich ... in flagranti ...
MARIE.

Nun, nichts besonderes. Ernst und ich würden uns wahrscheinlich scheiden lassen. Ich meinetwegen als der schuldige Teil. Was weiter?

HELDENBERG.

Ich staune über deine Ruhe. Die trägst du aber auch nur zur Schau, weil du dich ganz sicher fühlst. Wenn es dazu kommen würde, haha ... Uebrigens frage ich dich: Ja, was dann weiter?

MARIE.
Nun, wir würden einander wahrscheinlich heiraten, Karl. Oder nicht?
HELDENBERG
sehr verwirrt.
Heiraten?
MARIE
voll Ironie.

Du hast doch unzählige Male versichert, du würdest dich glücklich schätzen, wenn ich dir auf ewig angehören würde, wenn ich deine Frau wäre, usw. Erinnere ich mich recht, hast du sogar erst gestern wieder etwas ähnliches gesagt?

HELDENBERG
wie vorhin.

Gewiß, gewiß, so ist es auch. Aber ... aber heiraten ... so schnell geht die Sache nicht ... Die Formalitäten, weißt du, die Formalitäten ...

MARIE.
Ja, ja, ich verstehe, ich verstehe schon.Pause.
HELDENBERG
nach einer Weile.
Also, du siehst das ein?
[25]
MARIE.
Was?
HELDENBERG.
Nun, daß wir einander eine Zeitlang nicht sehen dürfen?
MARIE.
Wie lange nicht?
HELDENBERG.
Nun, das läßt sich nicht gleich so präzisieren, aber so ... jedenfalls mehrere Wochen nicht. Pause.
MARIE
hart.
Du bist meiner überdrüssig?
HELDENBERG.
Marie!
MARIE.
Ja oder nein?
HELDENBERG.
Auf dergleichen antworte ich dir überhaupt nicht.
MARIE.

Wir brauchen es ja auch nicht so weit kommen lassen, Karl. Es kann ja auch meinetwegen aus sein. Bald. Gleich. Sofort! Ich habe es nicht nötig, mich wegzuwerfen!

HELDENBERG.

Aber Marie, Marie! Will sie in seine Arme nehmen. Wie du gleich wieder bist! Aber das liebe ich ja an dir, gerade das. Dieses schrankenlose »Sichhinwegsetzen« über alles und dieses sprunghafte ins »Extremfallen«. Und wenn du zornig bist, dann bist du doppelt schön. Dann blitzen deine Augen und ... und um deinen Mund, da erscheint diese kleine, harte und dabei so süße Falte. Ich will sie küssen, diese kleine Falte, ich muß sie küssen ... Küßt Marie, die sich erst zur Wehr setzt, dann in seinen Armen ruht.

MARIE.
Heute abend komme ich wieder zu dir, ja?
HELDENBERG.
Ja, du kommst, du mußt kommen!
MARIE.
Und wenn man uns sieht?
HELDENBERG.
So sieht man uns eben.
MARIE.

Siehst du, jetzt sprichst du gleich anders. Und du wirst sehen, kein Mensch bemerkt etwas. Annie fährt morgen zu ihrer Tante. Dafür ist zwar Heinz gekommen und soll bei uns bleiben. Schade, wenn der nicht gekommen wäre, da hätten wir es erst schön gehabt. Nun, es wird auch so schön bleiben. Aber jetzt geh, Karl. Mein Schwager muß jeden Augenblick kommen.

[26]
HELDENBERG.

Ja, ja, ich gehe jetzt. In einer dreiviertel Stunde bin ich ohnedies wieder hier. Ich habe mit deinem Mann in Parteisachen zu sprechen. Wir gehen selbstredend nicht zusammen fort. Diese Art Vorsicht ...

MARIE.

Aber natürlich. Ich habe noch Besorgungen und komme dann wie gewöhnlich in deine Wohnung. Einverstanden?

HELDENBERG.
Ja. Und was sagst du Ernst?
MARIE.

Ernst? Ach, der fragt erstens nie und zweitens, wenn er fragen sollte ... ja was sag' ich ihm dann nur ...? Nun, dann sag' ich ihm eben, daß ich mit einer Dame zusammen ins Theater gehe. Ernst ist ja übrigens ohnehin am Abend nicht zuhause.

HELDENBERG.
Also gut. Es bleibt dabei. Leb' wohl einstweilen. Will sie küssen.
MARIE.
Erst am Abend. Bis dahin wirst du wohl noch warten können, du? Heldenberg ab.

Marie, Annie.
ANNIE
19jähriges Mädchen, blaß, mit leidendem Gesichtsausdruck, tritt ein.
Mit ihrer Stiefmutter spricht sie sehr förmlich und voll Zurückhaltung. Mama, der Onkel ist hier.
MARIE.
Ja, ja, ich komme schon. Will an ihr vorüber, stutzt, bleibt stehen. Du hast schon wieder geweint?
ANNIE
schweigt.
MARIE.

Du kannst es ja nicht ableugnen. Man sieht dir's ja an! Will dir denn diese dumme Geschichte nicht aus dem Kopf?

ANNIE
schweigt.
MARIE.

Ich verstehe dich nicht; wie du deinem Vater so etwas Törichtes zumuten kannst! Wie stellst du dir denn das vor? Er, der radikale Parteiführer soll zugeben, daß seine Tochter den Sohn eines konservativen Grafen heiratet! Ganz abgesehen davon, daß dieser konservative Graf sein größter Gegner ist. Aber [27] das ist es ja eben mit dir. Du bist so, so ... ich weiß gar nicht wie ich es nennen soll ... wenn du Temperament hättest, würdest du die Grafen hassen, den jungen, wie den alten, der deinen Vater immer bekämpft. Du würdest dich in die Rolle versetzen können, wie sie der Tochter eines radikalen Abgeordneten dem Sohne seines erbittertsten Gegners gegenüber zukommt. Aber du? Du schweigst wie eben jetzt, läßt mich reden, gehst nachher auf dein Zimmer und verweinst den restlichen Nachmittag. Damit wird es weder besser noch schlechter und das entspricht wieder ganz deinem Charakter. Nur kein entweder – oder! Dafür ein süßes, säuselndes, nachträumendes Weinen, in welchem du ihn, dich, eure unglückliche »Liebe«, mit einem Wort alles, was euch betrifft, mit einer förmlich wehmütigen Lust auf dich wirken läßt; du, das ist auch eine Art Sinnlichkeit, wenn du mich auch immer glauben machen willst, daß du nicht wie andere Mädchen und Frauen empfindest!

ANNIE
schweigt.
MARIE
mit einer gewissen, forschenden Neugier.
Du hast ihn wohl sehr gerne, wie?
ANNIE
schweigt, Pause.
MARIE.

Und wie steht es also mit Dr. Ferndorf? Weißt du, für mich gäbe es da keine Wahl. Ich würde mich auf der Stelle entschließen. Er ist ein junger, hübscher, äußerst kluger, gebildeter, gutmütiger Mann, hat elegante, vornehme Manieren, ist aus sehr gutem Hause, sehr reich, dabei in dich sterblich verliebt ... Warum hast du ihm eigentlich einen Korb gegeben? Ich weiß nicht, was klüger ist, gleich Frau Dr. Ferndorf zu werden oder erst in ein Tiroler Nest zu einer altmodischen Tante verbannt zu werden, um dann, wenn die unglückliche Liebe mit diesem Gräflein überwunden ist, den du ja doch nie heiraten wirst, schließlich nach zahlreichen, trüben Tagen doch Frau Dr. Ferndorf zu werden. Ist Dr. Ferndorf dir unsympathisch?

[28]
ANNIE.

Dr. Ferndorf ist mir sehr sympathisch. Ich verehre ihn, ich achte ihn hoch, aber ich liebe ihn nicht.

MARIE.

Ach, was weißt du von Liebe? Was verstehst du von Liebe! Glaube mir, Annie, ich mein' es dir gut. Und ich rate dir noch einmal: sei klug und nimm den Ferndorf. Du wirst es sonst einmal bereuen.

ANNIE.
Und ... Viktor?
MARIE.
Ach, der wird sich auch trösten ...
ANNIE.
Du verstehst mich nicht, Mama. Ich liebe Viktor und nicht Dr. Ferndorf.
MARIE.

Eben deshalb rate ich dir ja: Nimm den Dr. Ferndorf. Heiraten kannst du den Viktor nicht, lieben sollst du ihn daher nicht. Bleibt nur, daß du den Dr. Ferndorf heiratest. Und ... ist man einmal Frau, kann man sich eher eines schmachtenden, guten Freundes erinnern und – erbarmen! Verstehst du mich endlich, Kleine?

ANNIE.
– – Mama – –!
MARIE.
Nun, nun, schreie nicht gleich so ...
ANNIE.
Ich hoffe, Mama, daß du meinen Vater nicht etwa aus denselben Gründen geheiratet hast ...?
MARIE
sieht sie zornig an, geht an ihr vorüber.
Dummer Fratz!
ANNIE
folgt ihr langsam.

Johann, Viktor, dann Annie.
JOHANN.

Das gnädige Fräulein war eben noch hier. Einen Augenblick bitte, ich werde das gnädige Fräulein rufen. Wen darf ich denn melden?

VIKTOR
23 Jahre alt, mit äußerlicher Ruhe, hinter welcher er seine Leidenschaft verbirgt.
... Sagen sie nur, der Bruder einer Freundin ...
JOHANN.
Der Bruder einer Freundin ... Einen Augenblick bitte ... Ab.
ANNIE
tritt schnell ein, prallt mit einem unterdrückten Freudenschrei zurück.
Viktor –!
[29]
VIKTOR
eilt auf sie zu, nimmt sie in seine Arme.
Meine liebe, süße Annie!
ANNIE.
Um Gotteswillen, wie konntest du dich hierher wagen? Papa kann jeden Augenblick kommen. Was dann?
VIKTOR
ungestüm.

Es ist mir gleichgültig, ich mußte dich sehen und sprechen. Übrigens hab' ich deinen Vater beobachtet, wie er fortgegangen ist. Und außer ihm kennt mich ja niemand hier.

ANNIE
sieht bei den Türen nach.
VIKTOR.

Warum warst du gestern nicht bei der Stadtkirche wie gewöhnlich? Und vorgestern nicht und vorvorgestern auch nicht? Ich habe jedesmal bis in die späte Nacht gewartet. Ich habe es nicht länger ausgehalten. Warum bist du nicht gekommen?

ANNIE.

Ich darf seit drei Tagen nicht allein das Haus verlassen. Papa hat es verboten und ich werde seit dem Tage, an dem du mit ihm gesprochen hast, förmlich bewacht. Er will verhindern, daß wir einander wiedersehen, bevor ich abreise. Morgen holt mich die Tante ab.

VIKTOR.
Warum hast du nicht geschrieben?
ANNIE.
Meine Post wird untersucht.
VIKTOR.
Und morgen fährst du schon?
ANNIE.
Ja.
VIKTOR
stampft mit dem Fuße auf.
Verwünscht, was machen wir also?
ANNIE.
Nichts können wir dagegen tun, Viktor, es ist aus.
VIKTOR.

Oho! Das wollen wir doch erst einmal sehen! So leicht geb' ich dich nicht auf! Was kann denn ich dafür, daß mein Vater unglückseligerweise nicht irgend ein Hausknecht ist, sondern Großgrundbesitzer und Graf noch dazu! Es ist von deinem Vater ...

ANNIE.
Nicht schimpfen, Viktor ...
VIKTOR
nach einer Weile in dumpfer Verzweiflung.

Das soll nun also das Ende sein? Das Ende unseres [30] Glückes, unserer kurzen Liebe, unseres Seligkeitstraumes? Annie! Und du kannst das glauben? Willst das glauben?

ANNIE
zuckt verzweifelt die Schultern.
Was sollen wir tun? Wir müssen uns fügen.
VIKTOR.
Wenn du so sprechen kannst, Annie, dann ... dann ...
ANNIE.
Dann ...?
VIKTOR.
Dann liebst du mich nicht, Annie!
ANNIE
fast jammernd.
Viktor –!
VIKTOR
nimmt sie in seine Arme, kost sie voll Liebe.

Ich hab's nicht so gemeint, mein Mädel, das weißt du ja. Aber ich bin ja schon verrückt. Meine Nerven halten diese Folter nicht länger aus ... Seit den drei Tagen, an welchen ich dich nicht gesehen habe, laufe ich wie ein Irrsinniger umher.

ANNIE
gefaßt.

So laß uns unsere Lage ruhig überdenken, Viktor. Wir haben zwei Möglichkeiten: Entweder wir fügen uns oder wir fügen uns eben nicht.

VIKTOR.

Für mich kommt nur diese letzte Möglichkeit in Betracht: Wir fügen uns nicht! Heute nicht und morgen nicht und niemals! Pause. Und du, Annie, was gilt für dich?

ANNIE.
Für mich gilt, was für dich gilt. Ich bin mit allem einverstanden, was du bestimmst.
VIKTOR.

Annie! – – Pause. Und wenn alles um uns und unter uns zusammenbricht ... wir haben schon einmal davon gesprochen, Annie ... so, so ...

ANNIE
düster.
Ja, wir haben davon schon gesprochen ...
VIKTOR.
...so bleiben uns noch immer die steilen Abhänge eines Berges oder ...
ANNIE.
Oder das Wasser ... Eine Weile Schweigen.
VIKTOR.

Wir müssen uns heute noch treffen. Alles weitere wird sich dann finden. Du kommst in meine Wohnung, dort können wir ungestört beraten.

ANNIE.
Gut. Aber wie komme ich von hier fort?
[31]
VIKTOR.
Man kann sich ja eine Lüge erdichten.
ANNIE.
Still, ich höre Schritte ... was sagen wir jetzt? ...
VIKTOR.

Laß mich nur machen. Ich gebe mich als der Bruder einer deiner Freundinnen aus, welche anläßlich deiner Abreise eine Jause gibt. Nenn' mir nur schnell einen Namen.

ANNIE.
Winter, Gretl Winter.
VIKTOR.
Kennt deine Mama sie oder ihre Familie?
ANNIE.
Nein, sie kennt sie nur dem Namen nach.
VIKTOR.
Dann ist es gut.

Vorige, Marie, Professor.
MARIE
stutzt.
Wer ist denn der Herr?
VIKTOR
erschrickt, als er den Professor sieht; schnell gefaßt.

Gestatten, gnädige Frau, daß ich mich vorstelle. Mein Name ist Winter. Franz Winter. Ich bin der Bruder der Gretl Winter.

MARIE.
Gretl Winter? Deine Freundin?
ANNIE.
Ja, Ja.
VIKTOR.

Die Mama hat mich nämlich hergeschickt. Wir haben erfahren, daß das Fräulein Tochter verreist und da hat die Mama eine Jause gerichtet. Es sind noch einige Mädchen geladen. Jetzt soll das Fräulein kommen und das Fräulein will nicht. Und dabei ist ja doch gerade das Fräulein die Hauptperson, nicht?

MARIE.

Das ist aber wirklich mehr als liebenswürdig von der Frau Mama. Meine Tochter wird auch kommen, gewiß wird sie kommen. Halblaut. Du kannst doch die Leute nicht brüskieren. Warum willst du denn nicht? Soll man sagen, daß du hochmütig bist? Du weißt, wie Papa darüber denkt ...

ANNIE.
Aber du weißt doch, Papa will nicht, daß ...
MARIE.

So hat er das sicher nicht gemeint. Geh nur ruhig hin. Er wird sehr einverstanden sein, daß du gegangen bist. Wenigstens vergehen dir die Grillen.

[32]
VIKTOR.
Also darf ich hoffen, daß das gnädige Fräulein kommt?
MARIE.
Ja, meine Tochter kommt ganz bestimmt. Wann soll sie denn dort sein?
VIKTOR.
Nun, so bald als möglich natürlich.
MARIE.

Also gut. Sie zieht sich nur um und kommt Ihnen gleich nach. Auf Wiedersehen, Herr Winter, und eine Empfehlung an die Frau Mama, wenn auch unbekannterweise ...

VIKTOR
küßt ihr die Hand.
Hauptplatz Nr. 12. Das Fräulein weiß es ja ohnehin. Verneigt sich, ab.
MARIE.

Ein netter junger Mann. Ein sehr netter, sympathischer, junger Mann und ein hübscher Mensch. Geh, richt' dich her, damit du bald hinkommst und freu' dich auf den Nachmittag. Setz' endlich wieder einmal ein vergnügtes Gesicht auf und verlieb' dich nur fest in diesen Herrn Winter. Wird dir gar nicht schaden. Verstanden?

ANNIE.
Ja, Mama.
MARIE.
Geh nur, geh. Der Onkel entschuldigt dich schon.
ANNIE.
Adieu Mama, adieu Onkel. Ab.
PROFESSOR
nachdenklich.
Dem jungen Mann muß ich schon einmal irgendwo begegnet sein ...

Marie, Professor.
MARIE
dem Professor Platz anbietend.
Sie wollen also wirklich schon morgen zurückfahren, Schwager?
PROFESSOR.

Ich muß leider. Ich muß. Meine Studenten warten. Es ist mir auch wirklich nicht leicht gefallen, mir diese drei Tage Urlaub zu verschaffen. Aber da ich Ihnen den Heinz auf fast acht Wochen überlassen soll und ich überdies mit meinem Bruder gerade Heinzens wegen ein sehr ernstes Wort zu sprechen habe ...

MARIE.
»Ihn uns überlassen!« Sie sprechen gerade so, als ob Sie der Vater wären und nicht Ernst.
[33]
PROFESSOR.

Weiß der Himmel, der Junge ist mir so an's Herz gewachsen, daß er mir auf Schritt und Tritt fehlen wird, wenn ich mir auch immer wiederhole, daß es nur acht Wochen sind.

MARIE.

Ja, glauben Sie denn, Friedrich, daß es uns, den Eltern, nicht mindestens ebenso schwer fällt, Heinz das ganze Jahr in der Fremde zu wissen?

PROFESSOR.
In der Fremde?
MARIE.

Ich wollte Sie nicht kränken, Schwager. Doch bedenken Sie: Ernst sah seinen Sohn gestern zum erstenmal seit einem halben Jahr wieder. Wie oft hat er in der Zwischenzeit bedauert, Heinz so weit zu Ihnen fortgegeben zu haben, wenn Heinz auch dank Ihrer Verbindungen sein Einjährigenjahr angenehmer abdient, als es hier möglich gewesen wäre, wo jeder Offizier Ernst kennt und haßt.

PROFESSOR.

So – Ernst bedauert! Hat er denn überhaupt Zeit, darüber nachzudenken, daß er auch Frau und Kinder hat? Mir scheint fast, daß nicht.

MARIE.

Sie tun Ernst unrecht. Er ist ja so angestrengt, seit er die Fraktionsleitung übernommen hat. Vormittags irgend eine Sitzung, Kommissionen und allerlei Wege für die Partei, nachmittags Sprechstunden und abends wieder Konferenzen, Sitzungen, die bis spät in die Nacht dauern. Und das geht so Tag für Tag.

PROFESSOR.
So daß er nicht Zeit für Frau und Kinder findet.
MARIE.
Lieber Schwager, Sie müssen bedenken ...
PROFESSOR.

Entschuldigen Sie nichts, Schwägerin. Sie wissen genau so gut wie ich, daß es da nichts zu entschuldigen gibt. Ihm ist der Rummel ja zu Kopfe gestiegen. Daß ich das erleben muß: Mein Bruder Führer einer radikalen Fraktion! Unser armer Vater muß sich ja im Grabe umdrehen!

JOHANN.
Die Sprechstunde beginnt gleich, gnädige Frau. Es warten schon einige Leute draußen.
[34]
MARIE.

Gehen wir ins Nebenzimmer, Friedrich. Mein Mann will nicht, daß seine Parteifreunde im Vorzimmer warten müssen.

PROFESSOR.
Die Parteifreunde! Lacht. Zu Johann. Ist es nicht geraten, daß Sie im Zimmer bleiben?
JOHANN.
Ja, ich bleibe ohnedies hier. Der Herr Abgeordnete hat es ein- für allemal befohlen.
PROFESSOR.

Daran hat er sehr weise getan. Wie leicht könnte es so einem dieser ehrenwerten Herrn Parteifreunde beispielsweise einfallen, einen silbernen Leuchter schön zu finden. Mir scheint, Ernst kennt seine Leute doch recht gut!

MARIE.
Aber Schwager! Beide ab.

Meyer, Vater und Sohn, Johann.

MEYER, VATER. Entschuldigen scho, Herr Diener, war dös die Gnädige?
JOHANN.
Ja.
MEYER, SOHN. Und wer war denn nacha der Herr?
JOHANN.

Das war der Herr Professor Bergmann. Der Bruder vom Herrn Abgeordneten. Zum Vater. Sie müssen sich doch noch an ihn erinnern, Herr Meyer?

MEYER, VATER. Maria und Josef! Das war er? Das ist der, was ...? Ja, was macht denn der da?

MEYER, SOHN. Wer ist er denn, Vater?

MEYER, VATER. Hast du dir den gut ang'schaut? Weißt du, was der einmal g'sagt hat? Man soll uns alle aufhängen, hat er g'sagt, denn wir sind Hochverräter, hat er g'sagt!

MEYER, SOHN. Dich und mich aufhängen? Was hast du ihm denn 'tan?

MEYER, VATER. Dummkopf, net dich und mich, sondern uns alle, uns Radikale! Erinnern Sie Ihnen noch, Herr Diener? Und wie wir ihm dann aus dem Parlament hinausgeworfen haben? Erinnern S' Ihnen noch?

[35]
JOHANN.

No, no, no ... hinausgeworfen haben wir ihn nicht, das ist einmal schon nicht wahr. Der Professor ist freiwillig ausgetreten, weil er sich nicht hat entschuldigen wollen, wie er sie alle beleidigt hat, die Abgeordneten und den Vizepräsidenten, der den Vorsitz g'führt hat ...

MEYER, VATER. Der is nämlich auch einer von uns g'west und hat ihm gleich, wie er zum Schimpfen angefangen hat, zur Ordnung gerufen und die Wörter weggenommen oder wia ma da sagt ...

JOHANN.
»Das Wort entzogen«, sagt man ...
MEYER, SOHN. Und da hat er den Vizepräsidenten auch beleidigt?
JOHANN.

Ja. Die Sitzung is damals vertagt worden und gegen den Professor hätte der Disziplinarausschuß zusammentreten sollen. Dann hätte sich der Professor entschuldigen müssen. Aber das hat er nicht wollen und weil er auch nichts hat zurücknehmen wollen, ist er ausgetreten.

MEYER, VATER. Wer is zusammengetreten worden, damals? Man hört Schritte.

JOHANN.
Pst, der Herr Abgeordnete kommt.

Bergmann, Vorige.
BERGMANN.

Grüß Gott, Grüß Gott. Was? Der Meyer? Und dieser Soldat? Ihr Sohn? Schön, freut mich, freut mich. Nehmt Platz. Zu Johann. Wenn der Herr Redakteur kommt, wird er sofort vorgelassen. Johann ab. Und nun zu euch. Ja, also mein lieber Meyer, ich habe mir die Sache überlegt, reiflich überlegt.

MEYER, VATER. Hört, Hört ...

BERGMANN.
Ich kann leider nichts unternehmen.
MEYER, VATER setzt sich mit einem Rucke auf. Ah?
BERGMANN.

Es ist eine zu geringe Geringfügigkeit.

MEYER, VATER dem langsam die Zornröte ins Gesicht steigt. So, So. Geringe Geringfügigkeit. Hört, Hört ...

[36]
BERGMANN.
Diesmal geht's also nicht. Vielleicht kann ich Ihnen ein anderes Mal gefällig sein.
MEYER, VATER. Ah, ein anderes Mal. Hört hört. Und mit Verlaub, was sollen wir alsdann tun?
BERGMANN.

Hübsch nach Hause gehen Zum Sohn. und namentlich Sie beileibe niemandem erzählen, daß und weshalb Sie bei mir gewesen sind.

MEYER, VATER sehr gereizt. Und mir sollen alsdann gar nix unternehmen gegen die Sekkaturen, auch wenn man uns noch soviel antut, was? Und mein Sohn, der arme Bub, soll sich weiter schinden und plagen alle Tage und am Sonntag, da soll er sich noch extra einsperren lassen, was? Dös raten Sie uns, Sie, unser Abgeordneter?

BERGMANN
nervös.

Ja, entschuldigen Sie vielmals, bester Meyer, aber was soll ich denn in dieser Sache eigentlich tun? Ärgerlich auflachend. Soll ich vielleicht morgen den Ministerpräsidenten interpellieren, warum der Infanterist Meyer am letzten Sonntag Kasernarrest hatte? Soll ich das?

MEYER, VATER böse, grob. No, zum Lachen ist dös grad net! Freilich sollen Sie ihm intrböllieren. Aber Sie, Sie machen ja gar nix. Gar nix machen Sie für unserein'. Höchstens halten S' noch zu die Militärischen. Das haben mir ja erscht neulich g'sehn wia über die Maschingewehr' im Parlament dischkutiert worden ist. Und gestern, da haben's ja alle g'sagt: da haben mir uns amal schön angschmiert wia mir Ihnen gewählt haben. Jawohl, alle haben dös g'sagt, alle.

BERGMANN
auffahrend.

Meyer, was unterstehen Sie sich! Sind Sie denn betrunken, daß Sie annehmen können, ich würde eine derartige Bagatelle im Parlament zur Sprache bringen? Geht erregt auf und ab.

MEYER, VATER gedrückt nach einer Weile. Da können mir also jetztn gehn, Herr Bergmann?

BERGMANN.
Ja.

Beide Meyer erheben sich.

[37]

MEYER, VATER. Vielen Dank, Herr Bergmann ... und nix für ungut, Herr Bergmann. Im Zurn, Herr Bergmann, da kommt einem bald was aus, Herr Bergmann, was einem nacha leid tut, Herr Bergmann, dös wissen S' ja ...

BERGMANN.

Schon gut, schon gut.

MEYER, VATER. Und vielleicht überlegen S' Ihna die Sach' doch noch einmal Herr Bergmann, und ... morgen um die Zeit da schau' ich halt wieder her, vielleicht ...?

BERGMANN
verzweifelt.

Nein, nein. Morgen nicht, morgen hab ich keine Zeit.

MEYER, VATER sehr freundlich. Alsdann komm' ich halt übermorgen wieder um die Zeit. Die Ehre, Herr Bergmann, Kompliment. Mit seinem Sohne ab.


Bergmann, Dvorsky, Johann, später Professor.
BERGMANN
läutet, Johann tritt ein.

Wenn in den nächsten Tagen die Meyers kommen, werden sie nicht mehr vorgelassen. Sind noch Leute draußen außer Dvorsky?

JOHANN.
Ja, eine Frau und drei Männer.
BERGMANN.

Ich kann heute außer Dvorsky niemand mehr empfangen; schick' sie fort. Sie sollen morgen wieder kommen. Du wirst sie dann in der Reihenfolge wie sie heute da waren, vorlassen.

JOHANN.

Herr Abgeordneter, die Leute murren, sie waren gestern auch schon da; manche von ihnen sogar schon vorgestern.

BERGMANN.

Ja, das tut mir sehr leid, aber ich habe heute wirklich keine Zeit mehr. Schick' sie fort. Johann ab. Man hört draußen Stimmenwechsel, dann mehrere lebhafte, erregte Ausrufe. Dvorsky tritt ein.

BERGMANN.
Grüß Sie Gott, Dvorsky.
DVORSKY
sehr arrogant.
Gutte Tag!
BERGMANN.
Bitte, nehmen Sie Platz.
[38]
DVORSKY
wie vorhin.
I danke, i kann a stähn.
BERGMANN
in seinen Papieren blätternd.

Ja es tut mir sehr leid, Dvorsky, daß ich Ihnen in dieser Angelegenheit nicht helfen kann; aber es ist augenblicklich nichts frei.

DVORSKY
lacht.
O jäh, gehst weg, is nix frei? Was Sie sagen tun? Is nix frei? O jäh ... Lacht.
BERGMANN
aufsehend.
Warum lachen Sie denn?
DVORSKY
lacht stärker.
BERGMANN
wird zornig.

Wollen Sie mir nicht erklären, warum Sie lachen? Oder sind Sie vielleicht hergekommen, mich auszulachen?

DVORSKY.

O, ich lach nur, weil Sie gar so scheen liggen tun. Und Sie sulln froh sein, mein Libber, daß i bloß lach und ni schimpf.

BERGMANN
aufspringend.

Was fällt Ihnen ein? Was unterstehen Sie sich? Augenblicklich verlassen Sie das Zimmer! Unverschämter Wicht!

DVORSKY
schreiend.

Was bin i? Eine unverschämte Knecht? Du, i bin ausgelernte Schlossermeister, verstähst, und keine Knecht! Verstähst du? Und was bist du? Eine Liggner und eine Betrigger bist du! Verstähst? Du tust die Leite goldene Berge versprechn und schmierst ihnen an. Verstähst? Solche Mensch bist du. Und dafir hab ich dir meine Stimme gegäbn und du hast nix dafir gegäbn und nur versprochn und nicht gehaltn?

BERGMANN
läutet.
JOHANN
tritt ein.
BERGMANN
auf Dvorsky deutend.
Hinaus!
DVORSKY
in den höchsten Tönen.

Waas? Mir hinauswerfen mit Dinner? Mir hinausschmeißn mit Dinner? I pfeif auf ganze radikale Partei! Verstähst? Schwindler! Betrigger! Postn is nich frei? Gemeine Ligge! Cechische Abgeordneter hat mir schon verschafft! Gemeines Gesindel! Betrigger! Liggner! Johann hat ihn gefaßt und zerrt ihn hinaus. Man hört noch lange schimpfen.

PROFESSOR
ist unbemerkt eingetreten, war Zeuge des Vorfalles.
[39]
BERGMANN
für sich.
Ekelhaft, diese ...
PROFESSOR
vortretend.
Sprich das große Wort nur gelassen aus.
BERGMANN
unangenehm überrascht.
Du warst hier?
PROFESSOR.
Ja. Es ist dir wohl nicht recht, daß ich diese – hm – nennen wir es Episode – mit erlebt habe, wie?
BERGMANN
schweigt.
PROFESSOR.

Na, na, mach' dir nichts draus. Vor mir brauchst du dich nicht zu genieren. Aber weißt du, was ich konstatiert habe? Erstens, daß alle deine Räuspert sich. »Herren Parteigenossen« Choleriker zu sein scheinen, welchen du vor der Besprechung mit Brom aufwarten solltest und zweitens, daß die wichtigste Persönlichkeit im Arbeitszimmer des radikalen Fraktionsführers der Diener zu sein scheint. Ihm fällt die ehrenvolle Aufgabe zu, die p.t. Herren Parteigenossen nach beendeter Konferenz auf die Straße zu befördern. Rein wundervoll wie der Mann arbeitet. Dieser großartige Griff im Genick! Ja das macht die Uebung.

BERGMANN
schreibt ohne aufzusehen.
PROFESSOR
geht eine Weile im Zimmer auf und ab.

Dann ernst. Du, ich habe mit dir heute noch zu sprechen. Ich bin mit Heinz mitgekommen, um mit dir über seine Zukunft zu sprechen.

BERGMANN
nervös.

Lieber Bruder, du siehst ja, daß ich arbeite. Für dergleichen Dummheiten habe ich wirklich heute keine Zeit.

PROFESSOR.
Dummheiten?
BERGMANN
nervöser.

Ja, ja, ja. Ich weiß schon, was du sagen willst. War ja auch gar nicht so gemeint. Aber du siehst doch, daß ich zu arbeiten habe. Erstaunt aufblickend. Uebrigens ist die Frage der Zukunft Heinrichs, meines Wissens nach, bereits gelöst. Längst gelöst. Und ich wüßte nicht, was es da noch zu besprechen gäbe.

PROFESSOR.

Doch, doch. Es gibt noch sehr viel Wesentliches zu besprechen. Wann hast du also Zeit, [40] wenn du jetzt für deinen Sohn keine Zeit hast? Ich fahre jedenfalls nicht früher zurück, bevor ich diese Angelegenheit mit dir ins Reine gebracht habe.

BERGMANN
blickt mißmutig auf die Uhr.

Ja, ich kann dir nicht helfen, ich hab' aber jetzt wirklich keine Zeit. Ich hab' noch eine Menge aufzuarbeiten und etwa in einer halben Stunde kommt jemand zu mir, mit dem ich konferieren muß ...

PROFESSOR.
Gut, gut. Wann also?
BERGMANN
wieder auf die Uhr blickend.
In einer Stunde vielleicht. Bis dahin bin ich hoffentlich mit allem fertig.
PROFESSOR.
Schön, also in einer Stunde. Auf Wiedersehen einstweilen.
BERGMANN.
Auf Wiedersehen. Professor ab.

Bergmann, Heldenberg.
BERGMANN
beginnt zu schreiben, manchmal auch halblaut, undeutlich lesend, dann lauter.

ad 1 ... Rüstungskredit ... lehne ich glatt ab. Begründung ... Schreibt. Das geht wirklich nicht, ad 2 ... Neuarmierung der Artillerie, besonders der schweren ... Schreibt. Geht ebensowenig an. ad 3 ... Erhöhung des Rekrutenkontingentes ... ja, damit noch mehr Leute zu den wichtigsten Zeiten der Bearbeitung von Grund und Boden und den Industrien entzogen werden, bloß um die Kasernhöfe zu füllen!Schreibt weiter.

JOHANN.
Herr Chefredakteur Baron Heldenberg.
BERGMANN.
Ich lasse bitten.
HELDENBERG.
Tag, Bergmann.
BERGMANN.

Grüß dich Gott, Heldenberg. Bitte entschuldige mich nur noch einen Augenblick. Gleich bin ich fertig. Dort bitte sind Zigarren.

HELDENBERG.

Weiß schon, weiß schon. Danke. Laß dich nur nicht stören. Ich hab' Zeit. Raucht an, läßt sich in einen Fauteuil fallen.

BERGMANN
schreibt noch etliche Augenblicke, streicht [41] etwas durch, löscht ab.
Dann steht er auf, geht im Zimmer auf und ab.
HELDENBERG.
Fertig?
BERGMANN
reckt sich.
Ja, fertig.
HELDENBERG.
Und?
BERGMANN.
Nun, natürlich glatte Ablehnung der Vorlage. Punkt für Punkt.
HELDENBERG
dreht sich mit einem Rucke um.
Wie sagtest du? Ich habe wohl schlecht gehört?
BERGMANN.
Ich sagte, daß ich die Vorlage Punkt für Punkt ablehnen werde.
HELDENBERG
erregt aufspringend.

Bist du toll geworden? Du willst Forderungen dieser Natur in dieser Zeit die Zustimmung der Fraktion verweigern?

BERGMANN.

Allerdings will ich das. Und die Vorlage wird von uns – wenn auch nur von uns allein – abgelehnt werden.

HELDENBERG
hitzig.
Oho, das wollen wir sehen!
BERGMANN.

Das wirst du sehen. Uebrigens, wenn es dich interessiert zu wissen, was ich morgen sprechen werde ... dort liegt das Konzept.

HELDENBERG
tritt zum Schreibtisch, liest.

Nach einer Weile lacht er schallend auf. Du bist ja verrückt! Total verrückt! In der heutigen Zeit, in der das ganze Volk von einem nationalen Taumel ergriffen ist, in der es von plötzlich erwachter »Vaterlandsliebe« förmlich sprüht und einen – wie es sagt – »nationalen Krieg um seine Existenz« zu führen schon fast bereit ist, gegen die nötigen Mittel zu stimmen, erkläre ich als Wahnsinn. Die ganze Welt will den Krieg. Du willst ihn verhindern?

BERGMANN.
Es ist nicht richtig, was du sagst. Nicht die Völker wollen den Krieg, sondern die Regierungen!
HELDENBERG.

Das ist Worttüftelei. Lies die heutigen Zeitungen, geh' in Versammlungen. Ueberall tönt dir ein Wort entgegen: »Krieg!« Ueberall wird dir klar [42] gemacht, wie notwendig er ist. Wenn du gegen die Vorlage stimmst, ladest du auf die Partei das Odium der »Vaterlandsfeindschaft«, der Sympathie für den Gegner, der uns vernichten, uns ans Leben will. Das Volk berauscht sich zur Abwechslung an dem Einheitsgedanken aller Parteien, am allgemeinen Burgfrieden. Es erwartet, daß die Vorlage unter Jubel morgen von allen Parteien angenommen wird.

BERGMANN.
Ja, es suggeriert sich förmlich in eine Kriegsfreudigkeit hinein.
HELDENBERG.

Wir haben genug gesprochen, genug gewarnt, genug gegen die öffentliche Meinung gekämpft. Jetzt ist es zu spät. Jetzt gilt es nur noch den Schein zu retten. Uns trifft sonst der Haß aller Parteien.

BERGMANN.
Du mutest mir zu, gegen bessere Ueberzeugung zu handeln?
HELDENBERG.

Ach was, Ueberzeugung hin, Ueberzeugung her. Ein Politiker braucht keine Ueberzeugung. Ein Politiker muß beweglich sein. Du hast dich überzeugt, daß deine bisherige Ueberzeugung eine unrichtige war und – wechselst sie eben. Da ist weiter gar nichts dabei. Damit du aber am Ende nicht wirklich in Gefahr kommst ...Zerreißt des Konzept.

BERGMANN
hinzuspringend.
Heldenberg!
HELDENBERG.
Du befiehlst?
BERGMANN.
Wie kannst du dich unterstehn?
HELDENBERG.

Deine schöne Rede zu zerreißen? Mit dem Rechte deines Freundes und mit dem des Parteimitgliedes; wie ich glaube, nicht des jüngsten. Du wirst die Forderungen vorbehaltlos annehmen.

BERGMANN
erregt.
Ich werde sie vorbehalt los ablehnen!
HELDENBERG
ebenfalls erregt auf ihn zutretend und ihn am Arm fassend.
Ich sage dir, die Forderungen werden angenommen!
BERGMANN
sich freimachend.
Und ich dir: Sie werden abgelehnt werden.
[43]
HELDENBERG
drohend.
Bergmann! Ich warne dich!
BERGMANN.
Was willst du damit sagen?
HELDENBERG.
Du sprichst ohne unsere Zustimmung.
BERGMANN.
Das ist nicht richtig; die Fraktion weiß, daß ich morgen sprechen werde.
HELDENBERG.
Aber sie weiß nicht, was du sagen willst.
BERGMANN.
Sie hat sich noch nie sonderlich dafür interessiert.
HELDENBERG.
Sie würde deinem Entschluß nie ihre Zustimmung gegeben haben.
BERGMANN.
Auf eure Zustimmung verzichte ich dankend.
HELDENBERG.
Das ist eine Unehrlichkeit!
BERGMANN.
Hüte dich, Heldenberg!
HELDENBERG.
Du hast nicht den Mut gehabt, der Fraktion deine Meinung zu sagen! Schreiend. Das ist eine Feigheit!
BERGMANN.

Schweig', sag' ich dir! Du pochst zu viel auf deine Freundschaft mit mir! Aber alle Stricke reißen mit der Zeit! Die Fraktion hat mir noch nie vorgeschrieben, wie ich mich zu verhalten habe. Die einzigen, die reden und immer den Mund offen haben, sind, wenn ich's recht überdenke, ja immer nur Heldenberg samt Anhang. Von euch aber habe ich mich gerade genug am Gängelbande führen lassen. Wenn ich aber in schwierigen Lagen an euch herangetreten bin, ihr sollt auch einmal raten, dann habt ihr nur stets bedeutet, die Suppe, die ihr mir eingebrockt, selbst auszulöffeln. Dafür wäre ich der Fraktionsführer! Aber jetzt habe ich genug!

HELDENBERG.
Ich sage dir nur das eine, Bergmann: Wer hoch steht, kann tief fallen!
BERGMANN.
Du wagst mir zu drohen?
HELDENBERG.
Ich habe keine Veranlassung, meinen Worten eine andere Deutung zu geben.
BERGMANN
nach einer Weile ruhiger.

Ihr alle seid ja [44] so ungeheuer klug! Ihr kritisiert immer so gut und trefft nachher stets das Richtige. Alles aber, wie gesagt, immer nachher. Wenn ihr vorher überhaupt einmal den Mund aufmacht, dann sagt ihr immer nur, wie etwas nicht ausgeführt werden darf. Aber wie es dann ja gemacht werden soll, darüber zerbrecht ihr euch eure Köpfe nicht. Dazu bin ich dann gut genug. Ich wiederhole dir, ich habe jetzt auch schon genug; mehr sogar, als einem gut und zuträglich ist. Ich verantworte, was geschieht, ich muß die Verantwortung auch tragen. Und ich sage dir, mich drückt die Verantwortung häufig zu Boden. Vor der Welt muß ich's verantworten, vor meinem Gewissen kann ich's oft nicht mehr.

HELDENBERG
spöttisch.

Hör' auf, bitte, sonst übermannt mich noch die Rührung. Sprechen wir also von etwas anderem. Vielleicht gestattest du, daß ich dir über die gestrige Sitzung, in welcher du natürlich wieder durch Abwesenheit glänztest, referiere.

BERGMANN.

Ich habe keine Zeit für dieses nutzlose Gerede; ich dehne dafür lieber meine Sprechstunden aus und helfe einigen armen Teufeln, als daß ich als geduldiger Zuhörer den Redeübungen geistiger Analphabeten zuhören und applaudieren muß.

HELDENBERG.

Bitte, bitte. Ich mache dir ja auch keinen Vorwurf. Ich habe ja nur die Tatsache deiner Abwesenheit konstatiert. Also gestattest du, daß ich dir referiere?

BERGMANN
tritt ans Fenster.
Wenn du es für notwendig hältst, bitte.
HELDENBERG
ruhig.

Ich halte es für notwendig. Also Herr ... der Name tut nichts zur Sache ... interpellierte der Maschinengewehrfrage wegen, die ... hm ... eine allerdings so eigenartige Lösung erfahren hat. Interpellant konstatierte mit Bedauern, daß du nicht anwesend seist. Du hättest vermutlich Gründe, dich nicht zu zeigen.

[45]
BERGMANN.
Aha!
HELDENBERG.

Weiters fragte er, ob es nicht möglich wäre, die ganze Sache unter dem Hinweis, der Bevollmächtigte der Fraktion sei zur Ablehnung der letzten Vorlage im Namen der Fraktion nicht berechtigt gewesen, rückgängig zu machen.

BERGMANN
dreht sich kurz um.
Wer war der Interpellant?
HELDENBERG.

Ich sagte schon anfangs: der Name tut nichts zur Sache. Uebrigens sprach der Mann, das war aus den lauten »Bravorufen« zu entnehmen, im Namen fast aller.

BERGMANN.
Weiter.
HELDENBERG.

Interpellant meinte, es wäre geraten, dir beizeiten eine passende Hilfskraft zur Seite zu stellen. Es bestünde kein Zweifel – die Lösung der Maschinengewehrfrage hätte dies ja zur Genüge bewiesen – daß die Stellung, die du jetzt einnimmst, einen ganzen Mann mit Haaren auf den Zähnen erfordere. Ein solcher wärest du auch gewesen. Aber du würdest eben auch alt und die Haare gingen dir aus. Die auf dem Kopfe, welcher Umstand die Fraktion nicht sonderlich interessiert, als auch die auf den Zähnen, was die Partei zum ersten – und wie sie hofft und wünscht – zum letzten Male arg geschädigt hat. Dem Redner wurde allseits lebhaft zugestimmt.

BERGMANN
heiser.

So legt man mir mein Verhalten in der Maschinengewehrfrage als Starrköpfigkeit aus? Ich weiß, man hat es mir hinterbracht.

HELDENBERG.

Fast allgemein. Man sagt, du wärest unseren Gegnern in die Falle gegangen, denen es nur angenehm ist, wenn allein wir stets gegen die Vorlage stimmen. Man sagt, du hättest dich – zuletzt in die Enge getrieben – verplappert!

BERGMANN
zusammenzuckend, dann empört auffahrend.
Wer wagte das zu sagen? Der nämliche Interpellant?
HELDENBERG.
Der nämliche.
[46]
BERGMANN.
Und der war?
HELDENBERG.
Ich sagte dir schon zweimal – der Name ...
BERGMANN
ihn wütend unterbrechend.

Jetzt hab' ich's satt mit dieser Geheimniskrämerei! Entweder er oder ich! Deckst du den andern, der zweifellos mein Gegner ist, so bist zweifellos auch du heimlich mein Gegner! Also?

HELDENBERG
unschlüssig.
Es war, es war ... Brandl.
BERGMANN
erstaunt zurücktretend.
Brandl? Dein Intimus? Ah!
HELDENBERG.
Er sprach, ohne mir vorher ein Wort gesagt zu haben.
BERGMANN.
Unter wessen Vorsitz fand die Versammlung statt?
HELDENBERG
verlegen.
Unter ... meinem.
BERGMANN.

Unter deinem? Und du schlossest nicht die Versammlung? Du entzogst Brandl nicht einmal das Wort, als er mich, den Abwesenden, auf so unverantwortliche, ich muß es schon sagen, gemeine Weise angriff? Heldenberg?!

HELDENBERG
sich entschuldigend.

Es wäre nichts zu machen gewesen; die Stimmung aller war für ihn. Hätte ich ihm das Wort entzogen, wäre wahrscheinlich ein Tumult entstanden ...

BERGMANN
abwehrend, müde.

Schon gut, schon gut; gib dir keine Mühe weiter; die Sache ist ja ohnehin nicht mehr zu ändern. Ist sonst noch etwas vorgefallen?

HELDENBERG
zögernd.
Es wurde eine allgemeine Kundgebung verabredet ...
BERGMANN
ungehalten.
Wieder eine Demonstration? Für wann?
HELDENBERG
seitwärtsblickend.
Für heute abend.
BERGMANN.

Wie? Für heute abend? Und davon erfuhr ich nichts? Und du, Heldenberg, wußtest darum und sagtest mir nichts? Zornig. Aber das wollen wir sehen, wer hier zu befehlen hat, Herr Brandl oder ich. [47] Ich werde die Demonstration sofort absagen und findet sie dennoch statt, so lege ich morgen die Führung der Fraktion nieder. Aus den Händen winden lasse ich mir nichts und ein Schattendasein werde ich auch nicht führen; darauf könnt ihr Gift nehmen. Tritt an den Schreibtisch, läutet; zu Johann. Verbinde mich mit der Zentrale. Johann ab.

HELDENBERG.

Sei doch nicht gleich so aufgeregt, Bergmann. Ich habe ja noch nicht einmal Zeit gefunden, dir zu sagen, was die Leute durch die Demonstration erreichen wollen.

BERGMANN.
Krawallisieren, was denn sonst?
HELDENBERG
ernst.

Diesmal irrst du dich, Bergmann. Die Leute wollen dich zurückgewinnen, so, wie du ehemals warst, wollen sie dich wieder haben. Und heute werden sie dir Ovationen bereiten. Deshalb haben wir es vor dir geheim gehalten.

BERGMANN
ungläubig und freudig erstaunt.
Ist das möglich?
HELDENBERG.
Gewiß.
BERGMANN.

Aber du sagtest doch, ihr wäret gegen mich, für die Annahme der Vorlage? Wie reimt sich denn das dann mit dem gestern Vorgefallenen?

HELDENBERG.

Verzeih, Bergmann, aber ich habe nie behauptet, die Leute hätten sich in der Versammlung für die Vorlage ausgesprochen. Nur ich bin meiner innersten Ueberzeugung nach dafür, sie anzunehmen. Tust du's nicht, so ist das deine Sache in erster Linie. Deswegen soll aber unsere alte Freundschaft nicht in Brüche gehen. Und was die Sache selbst anbelangt, so kann ich mich nicht erinnern, daß gestern über die Vorlage gesprochen wurde. Also kannst du ganz unbesorgt sein und dich gleich mir auf die bevorstehende Huldigung freuen. Welchen Wert eine derartige Vertrauenskundgebung gerade im jetzigen Augenblick, vor der Ueberreichung deiner Antwort, bedeutet, magst du selbst ermessen.

[48]
BERGMANN.
Also wieder gut Freund, altes Haus?Streckt ihm die Hand hin, in die Heldenberg herzlich einschlägt.
HELDENBERG.
Gut Freund!
BERGMANN
aufatmend, sich setzend.
Ja, diese Politik! Diese leidige, ekelhafte Politik!
HELDENBERG.
Ich hörte, dein Sohn wäre gekommen?
BERGMANN.
Ja, mit meinem Bruder.
HELDENBERG
anscheinend überrascht.
Mit dem Herrn Professor?
BERGMANN.

Er hat Heinz hierher begleitet; richtig, da fällt mir ein, daß er mich des Jungen wegen dringend zu sprechen wünschte. Entschuldige mich einen Augenblick, ich will ihn herüberrufen.

HELDENBERG.
O, ich will nicht stören ... Erhebt sich.
BERGMANN
ihn wieder niederdrückend.

Was fällt dir ein? Bitter. Wenn mein Bruder und ich miteinander zu sprechen haben, kann die ganze Welt zuhören.

HELDENBERG.

Also noch immer das alte gereizte Verhältnis? Eigentlich ja ganz begreiflich bei euren entgegengesetzten politischen Ansichten. Offen gesagt, ich wundere mich, daß du ihm deinen Sohn anvertraut hast! Wenn du das nur nicht einmal zu bereuen haben wirst.

BERGMANN
leichthin.
Ach nein, Heinz ist klug. Er weiß, was er bei uns durch mich erreichen kann.
HELDENBERG.

Na, na, ich traue unserem Herrn Professor nicht über den Weg. Verflucht hat er uns damals zugesetzt, bevor ... na, du weißt ja ... wie geht es ihm eigentlich jetzt?

BERGMANN.
Schwer herzleidend; muß jeder Erregung ängstlich ausweichen.
HELDENBERG.
Ein großer Arzt, der sich selbst nicht zu helfen weiß!

Professor, Marie, Heinz, die Vorigen.
Heinz ist in der Uniform eines
Einjährig-Freiwilligen.
PROFESSOR
in Begleitung Maries und Heinrichs eintretend.

Die Stunde ist um, Ernst, bist du fertig? Erblickt Heldenberg, [49] will sich zurückziehen. Verzeih, du hast noch Besuch ...

BERGMANN.

Bitte, bleib' nur; ich bin schon fertig ... Vorstellend. Die Herren erkennen einander doch noch? Oder doch nicht mehr? Herr Chefredakteur Baron Heldenberg ... mein Bruder, Professor Dr. Bergmann.

PROFESSOR.

Sie? Gedehnt. Sie sieht man ja überall! Einen Tag bin ich noch nicht hier, Sie hab' ich schon zweimal gesehen. Gestern mit Ihrer Frau und na, jetzt eben.

BERGMANN.
Mit wem hast du ihn gestern gesehen?
PROFESSOR
zu Heldenberg.

Nun, mit Ihrer Frau Gemahlin. Sie wohnen doch noch auf der Hauptstraße? Sie scheinen auf dem Wege ins Theater gewesen zu sein? Ich habe Sie gesehen, gerade als Sie aus Ihrem Haustor herausgekommen sind.

HELDENBERG UND MARIE
verfärben sich.
HELDENBERG
unsicher.
Haha ... Sie müssen sich jedenfalls geirrt haben, bester Herr Professor.
BERGMANN
lachend.
Er ist nämlich gar nicht verheiratet.
MARIE.
Ei, ei, Herr von Heldenberg ...!
PROFESSOR.
O, ich bitte tausendmal um Verzeihung für meine Indiskretion ... aber ich glaubte tatsächlich ...
MARIE
stockend.
Seht doch Herrn von Heldenberg an! Das hätte ich ihm gar nicht mehr zugemutet.
HELDENBERG.
Haha, Sie meinen mein Alter, wie? Ja, sehen Sie, Alter schützt vor Torheit nicht ...
MARIE.
Haben Sie übrigens ... die Dame gesehen? Ist sie hübsch?
PROFESSOR.

Das kann ich leider nicht sagen. Von der Dame habe ich nur ihr Kostüm und ihren prachtvollen Hut gesehen. Na, hätte mir ja denken können, daß man seiner Frau keinen so kostbaren Reiher kauft.

BERGMANN.

Ah, die Dame mit dem Reiher. Uebrigens, was das »Reiherkaufen« anbetrifft, muß ich dir lebhaft widersprechen. Ich habe meiner Frau erst neulich einen gekauft. Und was für einen schönen. Nicht wahr Marie?

[50]
MARIE.
Er ist prachtvoll.
BERGMANN.
Du gehst ja später wahrscheinlich wieder fort?
MARIE.
Ja. Mit einer Dame ins Theater.
BERGMANN.
Da setzt du deinen Reiherhut nicht auf?
HELDENBERG.
Was fällt dir ein? Ins Theater!
BERGMANN.

Immerhin, du könntest' ihn, bevor du weggehst, Friedrich zeigen. Er soll einsehen, wie sehr er Unrecht hat.

HELDENBERG
erregt.
Aber das ist ja ein Unsinn.
BERGMANN.
Was hast du denn?
HELDENBERG.

Weil ich finde, daß das ein Unsinn ist. Deine Frau soll ihre Toilette eigens ändern, damit sie einen Reiher zeigen kann! Der Herr Professor hat sicher schon Hunderte von Reihern gesehen. Er kann sich vorstellen, wie ein besonders schöner aussieht.

BERGMANN
immer erstaunter.
Aber warum ereiferst du dich denn so?
PROFESSOR
langsam, gewichtig, Heldenberg und Marie fixierend.

Baron Heldenberg hat ja schließlich recht. Es ist klüger, deine Frau stört sich in ihrer Theatertoilette nicht. Ich kann mir ja vorstellen, wie ein schöner Reiher aussieht. Pause, dann wie vorhin fortfahrend. Uebrigens, wart ihr vor etwa 14 Tagen nicht in Graz?

HELDENBERG
sehr befangen.
Allerdings, ich war vor 14 Tagen in Graz. Wer soll denn noch dort gewesen sein?
PROFESSOR.
Nun, ich dachte, ihr alle. Deine Frau und Baron Heldenberg glaube ich gesehen zu haben.
BERGMANN
stutzt.

Heldenberg war dort. Ja, wir nicht. Du wirst dich wohl getäuscht haben. Ich war hier und meine Frau ... die war allerdings verreist. Du warst in Salzburg, nicht? Du warst doch bei deiner Freundin, der Frau ...

MARIE.
Langen.
BERGMANN.
Ganz richtig. Bei Frau Langen in Salzburg. Ihr habt mir ja eine Menge Karten geschrieben.
MARIE.
Gewiß.
[51]
PROFESSOR.

So, so. Ja, dann habe ich mich eben versehen. Es tritt ein äußerst betretenes Schweigen ein. Heldenberg versucht mehrmals ein Gespräch zu beginnen, wendet sich dann an Heinz.

HELDENBERG.

Haben Sie sich aber verändert, Herr Heinz, seit ich Sie zuletzt gesehen habe! Wie lang' ist's wohl schon her? Eineinhalb Jahre fast? Oder noch länger?

HEINZ.
Zwei Jahre.
HELDENBERG; Sie sind ein stattlicher, junger Mann geworden.
BERGMANN.
Was dich aber nicht hindern soll, zu Heinz wie früher »du« zu sagen ...
HELDENBERG.

Aber gerne ... ich wußte nur nicht, ob mir noch Heinz die Rechte des alten Freundes zugestehen will ...?

HEINZ
sehr kühl.
Bitte ... bitte ... Herr – Baron.
MARIE
erhebt sich.

Es wird spät. Die Herren müssen entschuldigen – aber ich muß noch Toilette für's Theater machen. Tauscht mit Heldenberg einen bedeutsamen Blick aus.

BERGMANN.
Ja, geh' nur mein Kind. Marie ab.

Längere Pause. Man hört von ferne dumpfes Stimmengemurmel, das zeitweise sich erhebt, sich dann wieder senkt. Heldenberg wird unruhig, blickt nervös auf Bergmann. Heinz tritt ans Fenster.
PROFESSOR
aufmerksam werdend.
Was ist denn das?
HEINZ.
Ich glaube gar, eine Demonstration.
PROFESSOR.

Eine Demonstration ...? Wirft mißtrauische Blicke auf seinen Bruder und auf Heldenberg. Ihr seid doch nicht am Ende gegen die Vorlage???


Inzwischen sind die Demonstranten unter die Fenster Bergmanns gekommen. Hochrufe auf Bergmann und Heldenberg ertönen, von Hochrufen auf die Militärvorlage und auf die Armee unterbrochen.
BERGMANN
zuckt zusammen.

Was ist das??? Drohend, unterdrückt zu Heldenberg. Heldenberg, was hat das zu bedeuten??? Heldenberg, gib mir Auskunft!!!

HELDENBERG
spielt den Erschreckten, Ueberraschten.

Ich weiß es selbst nicht, Bergmann. Davon war auch mir nichts bekannt. Aber jetzt um Gotteswillen keine [52] Unbesonnenheit! Du mußt in den sauren Apfel beißen. Tust du's nicht, so blamierst du dich und vor allem die Fraktion, welche dir huldigt, für ewige Zeiten.

BERGMANN
steht unentschlossen.
HELDENBERG
überredend.

Du kannst jetzt nicht mehr zurück, Bergmann. Ueberlege also nicht lange, sondern handle, als ob du die Demonstration billigst, als ob du sie gerne siehst. Sieh, wie dein Bruder schon hersieht ... Bergmann, jetzt frisch hinaus vor die Leute und zeige ihnen, daß der alte Bergmann jung geblieben ist, daß ihm die Haare auf den Zähnen noch nicht ausgegangen sind!

BERGMANN
atmet tief auf, tonlos.
Komm! Sie treten Arm in Arm auf den Balkon.
PROFESSOR
ist aufgesprungen, hält krampfhaft die Sessellehne.
Weißt du, was das vorstellt?
HEINZ.

Gott sei Dank, Papas Fraktion demonstriert für die Vorlage! Man hört, als Bergmann und Heldenberg auf den Balkon treten, stürmische Hochrufe, dann tritt Ruhe ein; ein einzelner Redner spricht, häufig von Beifallsrufen unterbrochen; dann.

BERGMANN
laut und vernehmlich.

Ich danke euch, liebe Parteigenossen, für die sinnige Huldigung, die ihr mir soeben dargebracht habt und vor allem auch dafür, daß ihr eure feste Ansicht so klar und freimütig vor aller Welt zum Ausdrucke bringt. Offenheit und Ehrlichheit haben den Radikalen stets ausgezeichnet. Auch seine Gegner werden ihm einen Mangel in diesen beiden schönsten Tugenden nicht vorwerfen können. Und noch ein drittes freut mich: Daß unsere Meinungen wie immer, so auch diesmal in voller Ueberein stimmung sind. Und so werde ich denn – wie es unser aller Wille ist – die Militärvorlage morgen im Namen der Fraktion Pause.annehmen!


Laute Hochrufe danken Bergmann, unter denen die Menge abzieht.
Vorhang.

2. Akt

[53] [57]Zweiter Akt

Ein Augenblick später.
Bergmann, Heldenberg, Professor, Heinz.

BERGMANN
kommt vom Balkon ins Zimmer, Heldenberg folgt ihm.
PROFESSOR
hochaufatmend.
Gott sei Dank! Zu seinem Bruder. Ich danke dir, Ernst. Du hast eine schwere Sorge von mir genommen.
BERGMANN
steht mit zusammengepreßten Lippen bei der Balkontür, schweigt.

Vorige, Ferndorf.
FERNDORF
stürmt mit den Anzeichen größter Erregung ins Zimmer.

Bergmann, was soll das heißen? Warum hast du den Leuten nicht die Wahrheit gesagt? Warum hast du diese Demonstration überhaupt zugelassen? Warum täuschest du die Leute? Heute demonstriert die Partei für die Vorlage und morgen lehnt sie die Vorlage ab!!! Die Partei macht sich lächerlich!

BERGMANN.
Ich täusche die Leute nicht, ich habe die Wahrheit gesprochen.
FERNDORF.
Du hast ... du hast ...?
BERGMANN.
Ich habe die Wahrheit gesprochen.
FERNDORF.
... die Wahrheit gesprochen? Und ... und die Vorlage?
HELDENBERG.
Wird selbstverständlich glatt an genommen. Oder haben Sie etwas anderes erwartet, Dr. Ferndorf?
[57]
FERNDORF
angstvoll.
Bergmann! – Die Vorlage?
BERGMANN.
Wird angenommen. Heldenberg hat es ja schon gesagt.
FERNDORF
außer sich.

Das ist Verrat. Das ist Verrat! Ich habe dein Wort, Bergmann. Du hast dein Wort gebrochen. Ich verlange, daß du dein mir gegebenes Wort hältst!

HELDENBERG.
Unsinn!
FERNDORF.

Sie schweigen. Sie haben Bergmann beeinflußt. Er handelt gegen seine Ueberzeugung. Sie haben ihn überrumpelt. Das ist eine ...

HELDENBERG
drohend.
Herr Dr. Ferndorf!

Vorige, Marie.
MARIE
tritt ein, sie trägt auf dem Hute einen besonders schönen, weißen Reiher.
PROFESSOR
springt auf, Ferndorf prallt zurück, mustert Marie, ihre Toilette, ihren Hut.
MARIE.

Adieu meine Herren, ich muß leider fort. Adieu Ernst. Du bist ja auch außer Hause heute, nicht wahr? Also brauche ich mir kein Gewissen daraus zu machen, daß ich dich allein lasse. Und Sie, Friedrich, da bring' ich Ihnen meinen Reiher. Bewundern Sie ihn, sonst wird Ernst böse. Gefällt er Ihnen?

PROFESSOR
langsam.
Ja, er ist sehr schön.
MARIE.

Sehen Sie wohl, sehen Sie wohl. Ist er so schön wie der Reiher, den die Dame getragen hat, welche Sie mit Herrn von Heldenberg gesehen haben? Aber da wende ich mich wohl besser an Herrn von Heldenberg selbst. Tritt vor Heldenberg, sieht ihm mit flimmernden Blicken in die Augen. Ein gerechtes Urteil, Baron Heldenberg, welcher Reiher ist schöner?

HELDENBERG
versucht zu lächeln.
In der Tat, meine Gnädigste ...
PROFESSOR
ruhig.

Sagen Sie nur ruhig, Herr Chefredakteur Heldenberg, daß Sie keinen Unterschied finden [58] können, weil Kleine Pause: Heldenberg zuckt zusammen, Ferndorf horcht auf, Professor, der alles beobachtet hat, spricht ruhig weiter. beide gleich schön sind.

MARIE.

Beide gleich schön? Wirklich? Na, dann muß ich mich halt trösten. Ich hatte geglaubt, ich bin die einzige in der Stadt, die einen so schönen Reiher hat. Ja, aber jetzt muß ich gehen. Es ist höchste Zeit für mich. Auf Wiedersehen, meine Herren. Adieu. Küßt Ernst Bergmann flüchtig auf die Stirne, ab.

FERNDORF
starrt ihr nach, ganz verwirrt.

Auch ich muß jetzt fort ... wir sprechen über die Sache noch ... ich muß jetzt fort. Adieu. Will zur Türe.

BERGMANN
hält ihn zurück.

Es ging nicht anders, Ferndorf. Ich will dir alles erklären. Ich habe mich anders besinnen müssen ...

FERNDORF
noch immer unter dem Eindrucke des Erlebten, ganz teilnahmslos.

Ja, ja, ein anderes Mal. Ich muß jetzt fort. Reißt sich los. Ich hab' jetzt keine Zeit mehr. Adieu. Stürzt davon.

BERGMANN.
Was hat er denn? Er ist ja plötzlich ganz ausgewechselt.
PROFESSOR
langsam, mit Betonung.

Vielleicht kann dir Herr von Heldenberg Auskunft geben.Geht gegen die Türe. Heinrichs wegen sprechen wir nachher noch, Ernst. Ab.

BERGMANN.
Was soll nun das alles heißen?
HELDENBERG
selbst erregt und bemüht, sich zu beherrschen.

Ja, ich ... ich weiß wahrhaftig nicht. Die Herren geben uns Rätsel zu lösen. Bemüht, dem Gespräch eine andere Wendung zu geben. Sprechen wir nicht mehr davon. Zu Heinz. Bleiben Sie jetzt dauernd bei Ihrem Vater?

HEINZ.
Nein, ich bin nur auf Urlaub hier.
BERGMANN.

Er hat außer dem Einjährig-Freiwilligenjahr, das nun schon bald zu Ende geht, noch ein Studienjahr vor sich, das er bei meinem Bruder zubringen muß. Etwas mehr als ein Jahr dauert es also noch.

[59]
HEINZ.
Oder auch noch mehrere Jahre ...
BERGMANN.
Mehrere?
HELDENBERG.
Hast du dir schon eine Kanzlei ausgesucht, in welcher er sein Konzipientenjahr verbringen soll?
BERGMANN.
Ich dachte an Breuer. Heinz tritt ans Fenster, trommelt nervös an die Fensterscheiben.
HELDENBERG.

Breuer? Das ist eine gute Idee. Dort würde er auch gleichzeitig in die laufenden juridischen Arbeiten der Partei eingeführt werden können. Also sprich gleich morgen mit ihm.

PROFESSOR
tritt ein.

Er hat den letzten Wortwechsel mitangehört. Jetzt wirft er einen raschen Blick auf Heinz und tritt näher. Ich habe hier meine Brille ver ... richtig, da liegt sie ja. Nimmt sie vom Tische, auf welchem sie liegt, an sich. Aber weil ich nun schon gerade da bin und eure letzten Worte gehört habe ... sage, Ernst, hältst du es wirklich nicht der Mühe wert, deinen erwachsenen anwesenden Sohn auch um seine Meinung zu fragen, ehe du, pardon, du und Herr von Heldenberg entscheidet, welchen Beruf er zu ergreifen hat? Bist du überzeugt, daß er den Beruf, welchen ihr ihm bestimmt habt, ergreifen will?

BERGMANN.
Wie soll ich das verstehen? Es ist doch längst bestimmt, daß Heinrich Advokat wird!
PROFESSOR.
Wer hat es denn längst bestimmt?
BERGMANN
erstaunt.
Du willst nicht Advokat werden, Heinz?
HEINZ
schweigt.
BERGMANN
betroffen.

Du liebst Ueberraschungen, mein Sohn. Das muß ich sagen. Womit begründest du deine plötzliche Meinungsänderung?

HEINZ.

Verzeih, Papa, ich habe meine Meinung nicht plötzlich geändert; ich habe vielmehr nie geäußert, ich wolle Advokat werden. Daß ich Advokat werden soll, daß ich einer werde, davon sprachst stets nur du.

[60]
BERGMANN.

Du widersprachst mir nie, folglich mußte ich annehmen, du wärest einverstanden. Nach einer Weile. Du würdest mir durch dieses kurze, jedenfalls unbegründete Nein meinen Lieblingsplan, den ich jahrelang gehegt und gepflegt, den ich seit deiner Geburt mit mir herumgetragen habe, zerstören. Doch ich hoffe dich noch überzeugen zu können, daß das, was wir für dich ausgesucht haben, das Beste ist und ich bin überzeugt, daß du als mein gehorsamer Sohn, der du ja stets gewesen bist, dich auch jetzt meiner reiferen väterlichen Einsicht fügen wirst. Ich bin selbstredend weit davon entfernt dich zwingen zu wollen, einen Beruf, der dich nicht freut, zu ergreifen; solltest du besser gewählt haben als ich – mich soll es freuen. Geht auf und ab. Was willst du denn werden?

HEINZ
ringt in sichtlich großer Erregung nach Worten.
BERGMANN
unruhig.

Nun? Mir scheint, daß es dir schwer fällt, deine Wünsche mir gegenüber zu präzisieren? Du bist Jurist; viele Wege stehen dir ja nicht offen und von diesen wenigen sind dir – meiner Stellung wegen –mehr als die Hälfte versperrt; denn lacht auf Staats- oder Regierungsbeamter wirst du wohl nicht werden wollen, als Sohn des radikalen Fraktionsführers Bergmann! Und was bliebe denn sonst noch viel? Etwa Notar? Oder willst du gar umsatteln und Wirft einen Seitenblick auf den Professor., Gelehrter oder Arzt oder weiß Gott was werden? Dann bedenke, daß du nicht mehr einer der jüngsten unter der studierenden Hochschuljugend bist ...

HEINZ
zaudernd.
BERGMANN.
Nun, ich warte auf deine Antwort!
PROFESSOR
halblaut.
Mut, Heinz, Mut, Mut.
HEINZ
sich fassend.

Vater, ich habe dich mein ganzes Leben lang mit Bitten verschont; es ist meine erste Bitte jetzt, schlag' sie mir nicht ab.

BERGMANN.

Wozu die lange Einleitung? Ich sagte dir ja, daß ich gewillt wäre, vernünftige Vorschläge [61] deinerseits zu prüfen, gegebenenfalls auf sie einzugehen. Nervös. Werde ich also endlich eine Antwort erhalten?

HEINZ
wechselt mit dem Professor noch einen raschen Blick, sagt dann klar und deutlich.
Ich will Offizier werden, Vater.
BERGMANN
prallt zurück, Heldenberg springt auf, beginnt laut zu lachen.
HELDENBERG.
Köstlich, unbezahlbar!
BERGMANN
greift sich an die Stirne.

Ich kann ja nicht recht gehört haben ... es ist ja gar nicht möglich ... Was sagtest du, möchtest du werden?

HEINZ.
Offizier, Vater.
BERGMANN
in großer Aufregung.

Schweig' und untersteh' dich nicht, mir nochmals dieses Wort als Antwort zu geben! Du bist verrückt, wenn du an dergleichen nur denken kannst! Total verrückt!Rennt im Zimmer auf und ab. Man sollte ja lachen darüber und sich nicht ärgern, was so ein unreifer Junge ...

HEINZ.
Vater!
BERGMANN.

Ja, trotz deiner 24 Jahre unreif wie ein Schulbub, der ... Rennt neuerdings erregt auf und ab, tritt dann vor Heinz hin. Bist du denn wirklich bei Besinnung, wenn du etwas derart Ungeheuerliches aussprichst? Du und Offizier! Der Sohn des Abgeordneten Bergmann! Lacht gezwungen auf. Kannst mich dann jedesmal zum Abgeordnetenhaus begleiten und abholen, wenn ich dort wieder einmal gegen dieses Gesindel losziehe, das in den Tag hineinlebt, sorglos alles Geld vertut, was mühsamer Fleiß geschaffen, gegen diese Herren vom hohen Adel, die den Arbeiter am Marke saugen und nichts anderes für ihn haben als Verachtung! Wendet sich ab.

HELDENBERG.
Das ist das Werk des Herrn Professor ...
BERGMANN.

Kommen wir zu einem Ende. Du erklärst deinen an Irrsinn grenzenden Zukunftsplan aufzugeben und das zu tun, was ich für gut finde?

[62]
PROFESSOR.
Was Herr von Heldenberg für gut findet, willst du sagen?
BERGMANN.

Ich spreche jetzt mit meinem Sohne und dulde niemandes Einmischung, Friedrich; deine am allerwenigsten.

PROFESSOR.
Die des Herrn Baron wohl eher?
BERGMANN
zu Heinz.
Also? Deine Erklärung?
HEINZ
ruhig.
Ich kann sie nicht abgeben, Vater.
BERGMANN.
Das heißt, du beharrst auf deinem Wunsche?
HEINZ.
Ja, Vater.
BERGMANN
drohend.

Bedenke die Folgen, Heinrich, die nicht der Onkel, sondern du wirst tragen müssen. Ueberleg' dir's gut. Der Sohn des Abgeordneten Ernst Bergmann darf und wird nie in Regierungs-geschweige denn militärische Dienste treten.

HEINZ
zu Professor.
Onkel?
PROFESSOR
flüsternd.

Laß gut sein, jetzt greif' ich ins Gefecht ein. Und geht's schlecht aus, du weißt, als mein Sohn findest du bei mir stets offene Arme.

HEINZ.
Lieber, guter Onkel ...
PROFESSOR.

Ernst, würdest du mit mir nicht einen Augenblick ins Nebenzimmer kommen? Ich möchte dir einiges, diese Sache betreffend, vorschlagen.

BERGMANN.
Nichts da, erst die Antwort.
PROFESSOR.

Sei nicht starrköpfig, Ernst. Dergleichen läßt sich doch nicht in fünf Minuten erledigen; wir wollen vernünftig die Sache erwägen ...

BERGMANN.

Erst gibt Heinrich die von mir gewünschte Erklärung ab und zwar vor Herrn von Heldenberg. Eher kein Wort!

PROFESSOR.
Ernst, nimm Vernunft an ...
BERGMANN.

Ich verbitte mir deine Bemerkungen; ich bin vollkommen bei Vernunft Die Sache geht nur mich an und meinen Sohn. Die Einmischung eines Dritten ist hier absolut nicht am Platze. Das habe ich dir bereits erklärt.

[63]
HEINZ
energisch.

Bitte Onkel, laß also die Sache. Ich will nicht, daß Papa dich meinetwegen beleidigt und kränkt. Das hast du dir nicht um mich verdient.

BERGMANN.
Du bist mit deiner Ueberlegung fertig?
HEINZ.
Ja, Vater.
BERGMANN.
Du fügst dich?
HEINZ.

Nein, Vater, ich kann meinen Plan nicht aufgeben. Er bedeutet mein Glück, meine Zukunft.Tritt auf Bergmann zu. Vater, ich bitte, ich beschwöre dich, habe doch ein Einsehen; Onkel kennt Auswege ...

BERGMANN.

Keine unnötigen Worte; überlege dir es noch einmal, ehe du die Brücke zwischen dir und deinem Vaterhaus endgültig abbrichst.

HEINZ.
Vater, um Gotteswillen ...
BERGMANN.
Ueberlege, noch hast du Zeit ...
HEINZ.
Vater ...
BERGMANN.
Du wirst also?
HEINZ.
Offizier, Vater.
BERGMANN
sich zur Ruhe zwingend.

Ich warne dich zum letzten Male, Heinz. Lenke ein und ich betrachte die heutige Begebenheit als nicht vorgefallen. Weigerst du dich zu gehorchen, sind wir miteinander fertig. Jetzt weißt du Bescheid.

HEINZ.
Ich kann nicht, es geht nicht, Vater. Glaub' mir doch. Es ... es ist nicht das allein ...
BERGMANN
stutzt.
Ah ...? Pause. Es steckt ein Mädel auch dahinter?
HEINZ.
Ja.
BERGMANN.
Wer?
HEINZ.
Sie ist die Tochter eines hohen Offiziers, eine Gräfin.
BERGMANN
lacht zornig auf.

Jetzt ist's aber genug mit dem Possenspiel. Und ich muß sagen, ich muß sagen ... meine Kinder, die geben's aber nobel! Meine Tochter setzt sich in den Kopf, einen adeligen Großgrundbesitzer zu heiraten, den Sohn eines konservativen Grafen, und mein Herr Sohn, der will nur eine Offizierstochter. [64] Und unter einer Gräfin tut er's auch nicht. Das trifft sich ja großartig!Herrisch. Kein Wort mehr darüber! Auch mit dieser Torheit wirst du aufräumen. Verstanden? Und ich füge zu meinen früheren Forderungen hinzu, daß du das Studium beim Onkel aufgibst. Deine Transferierung hierher wird durchzusetzen sein, du wirst fortan bei mir wohnen. Das Weitere wird sich finden. Narr, der ich war, dich einem solchen Einfluß auszusetzen! Geht erregt im Zimmer umher. Deine örtliche Trennung wird es dir auch leicht machen, etwaige Verbindlichkeifen, die du am Ende mit ... mit dieser Dame eingegangen bist, zu lösen.

HEINZ
starrt auf seinen Vater.
Das antwortest du mir, Vater?
BERGMANN.
Ja.
HEINZ
noch immer ungläubig.

Das ist die ein zige Antwort, welche du für mich hast, wenn ich dir sage, daß ich ein Mädchen liebe, welches mir mein Lebensglück bedeutet?

BERGMANN.
Ja, meine einzige und unwiderruflich letzte.
HEINZ
abbrechend.
Dann tut es mir leid, Vater, ich gehorche dir diesmal nicht!
BERGMANN.
Heinz!
HEINZ.
Ich werde Offizier, mit und ohne deine Einwilligung.
BERGMANN
mit unterdrückter Stimme.
Dein letztes Wort?
HEINZ.
Ja.
BERGMANN.

Dann bist du mein Kind nicht mehr, hast in meinen vier Wänden nichts mehr zu suchen. Verlaß' sofort mein Haus!

HELDENBERG
leise.

Bravo, bravo, Bergmann. Energisch sein jetzt und nicht eine Bohne nachgeben. Morgen kriecht er zu Kreuze.

BERGMANN.

Ich bin zu Ende mit dir. Adieu und werde glücklich in einem Beruf, in den dir der Fluch deines Vaters folgt.

[65]
HEINZ.
Vater!
BERGMANN.
Dort ist die Tür. Wir zwei sind miteinander zu Ende.
HEINZ.
Vater, ein letztes Mal ...
BERGMANN
schweigt.
HEINZ
an der Türe, leise.
Ich komm' nie wieder, Vater ...
BERGMANN.
Du fügst dich?
HEINZ.
Ich kann nicht, Vater.
BERGMANN
weist stumm auf die Tür.
HEINZ.
Vater! Will sich ihm nähern.
BERGMANN
wendet ihm den Rücken zu.
HEINZ
geht langsam mit gesenktem Haupte ab.
PROFESSOR
aufgebracht.
Ah, das geht denn doch zu weit!
BERGMANN.
Du schweig'!
PROFESSOR.
Jetzt muß ich reden. Jetzt ist es meine Pflicht zu reden.
BERGMANN
zu Heldenberg.
Komm Heldenberg.
PROFESSOR
vertritt ihm den Weg.
Du wirst hier bleiben und mir Rede und Antwort stehen. Ich befehle es dir als dein älterer Bruder.
BERGMANN.
Was hast denn du mir zu befehlen?
PROFESSOR.

Du bist ein Vater? Was hast denn du für deine Kinder bereits getan, daß du dich unterfangen kannst, dich ihrem Glück entgegenzustellen? Deine Tochter, das arme liebe Mädel, hinderst du, den Mann ihrer Wahl zu nehmen, obwohl er ein tadelloser junger Mann ist, dem du nichts vorzuwerfen imstande bist, als daß er Aristokrat ist! Und das soll der Grund sein, zwei Leute, die glücklich werden können, unglücklich zu machen! Aber du, ich warne dich! Du kannst verhindern, daß die bei den einander heiraten. Das kannst du; denn du bist der Vater und deine Tochter ist noch minderjährig. Daß die zwei einander lieben, das kannst du nicht verhindern. Und ich sag' dir: hüte dich! Es könnte ein Unglück geben, das größer wäre als [66] eine Eheschließung der Tochter eines radikalen mit dem Sohne eines konservativen Abgeordneten. Und jetzt zu Heinz. Du willst den braven, ehrlichen Jungen verfluchen, weil er sich weigert, Radikaler zu werden, wie du? Unser Vater würde dich verflucht haben, wenn er es erlebt hätte, daß du einer geworden bist.

BERGMANN
sich beherrschend.

Friedrich, du weißt nicht mehr, was du sprichst. Nur der Boden, von dem aus ich dir erwidere, hindert mich, dir eine Antwort zu geben, welche du verdienst. Ich sage dir nur: Sei still und laß es gut sein jetzt. Sei froh, daß ich nicht Rechenschaft fordere für das, was mir mein sauberer Herr Sohn heute aufgetischt hat. Denn nur du allein bist ja an allem schuld.

PROFESSOR
wie vorhin fortfahrend.

Ich dachte, ein Familienrat würde es mir ermöglichen, mit dir die Sache in Ruhe zu besprechen. Ich hätte dir vorgeschlagen, daß ich Heinz adoptieren werde. Er ist ja ohnehin mein Patenkind und Erbe. Ich habe gehofft, mich mit dir beraten zu können. Aber du siehst ja in mir nichts als deinen politischen Gegner Gesteigert bis zu schrankenlosester Heftigkeit. hast für nichts mehr Zeit, als für deine sauberen Parteigenossen, die dir heute zujubeln und – ich schwör' es dir – noch einmal mit Steinen nach dir werfen werden, hast nur noch Zeit für diesen da, diesen ehrenwerten Herrn, der sich unter der Maske des Freundes in dein Haus geschlichen und es mit unerhörtem Schmutz besudelt hat, der dich in deinem Hause bestiehlt und zum Gespött der Welt gemacht hat ... für all' das hast du ja keine Ohren, keine Augen ... ich ... ach Greift sich an sein Herz, sinkt zurück.

BERGMANN
ist zusammengezuckt, steht einen Augenblick wie erstarrt da; jetzt stürzt er sich wie rasend auf den Professor, schüttelt ihn.

Du, das erste, das ... das verzeih' ich dir. Aber das letzte Fast stöhnend. das mußt du bewei sen, [67] ehe ich dir's glaub', ehe ich dir's glaub' ... Läßt ihn los, wankt zurück; der Professor fällt zu Boden.

HELDENBERG.

Er ist ohnmächtig. Beide springen hinzu, Heldenberg läutet. Johann und ein Mädchen kommen herein, alle bemühen sich um den Professor, den sie in das Nebenzimmer tragen. Heldenberg geht um einen Arzt, kommt bald darauf mit einem solchen zurück; eine Weile bleibt die Bühne leer.

BERGMANN
wankt heraus, Arzt folgt ihm.
ARZT.

Ich komme leider zu spät. Ein Schlaganfall. Der Tod ist augenblicklich eingetreten. Pause. Darf ich mein aufrichtiges Beileid ...

BERGMANN
drückt ihm stumm die Hand, Arzt ab.
Heldenberg erscheint in der offenen Tür.

Bergmann, Heldenberg.
Bange Pause.
BERGMANN
heiser.
Was hast du mir zu sagen?
HELDENBERG
schweigt.
BERGMANN.
Du warst mit ihr in Graz?
HELDENBERG
schweigt.
BERGMANN.
Sie war mit dir gestern im Theater, nachher in deiner Wohnung ... bis halb ein Uhr in der Nacht?
HELDENBERG
schweigt.
BERGMANN.
Sie ist ... die Dame mit dem Reiher?
HELDENBERG
schweigt; lange Pause.
BERGMANN.

Und heute, da kommt sie wohl wieder zu dir, heute Nacht? Oder ist vielleicht schon in deiner Wohnung? ... liegt vielleicht schon in deinem ... Bett und träumt von deinen Umar mungen?

HELDENBERG
schweigt.
BERGMANN
richtet sich vor ihm auf, als ob er ihn niederschlagen wollte.
[68]
HELDENBERG.
Bergmann!
BERGMANN
wendet sich langsam ab.
HELDENBERG
nach einer Weile.
Wir haben einander wohl nichts mehr zu sagen?
BERGMANN
gibt keine Antwort.
HELDENBERG
wartet noch einen Augenblick, geht dann nach kurzer Verneigung ab.
BERGMANN
sinkt in einen Sessel, schlägt die Hände vor's Gesicht.

Inzwischen ist es dunkel im Zimmer geworden, es wird immer dunkler; von draußen werfen Straßenlaternen Licht ins Zimmer. Nach einer Weile hört man von ferne wieder die Rufe und das Gejohle der demonstrierenden, rückkehrenden Menge; bald kommt es näher, bald entfernt es sich. Endlich verklingt es ganz. Die Turmuhr einer entfernten Kirche schlägt, die Schläge anderer Turmuhren vermischen sich mit jenen der ersten. Dann tritt wieder völlige Stille ein. Nach einer Weile öffnet sich die Türe. Vom Vorzimmer fällt strahlendes Licht herein. Mit geröteten, fieberglänzenden Wangen tritt Annie ein. Ohne ihren Vater zu bemerken, oder von ihm bemerkt zu werden, bleibt sie im Zimmer einen Augenblick stehen, preßt mit glücklichem Gesichtsausdruck die Hände auf ihr Herz. Dann lauscht sie, schließt die Türe und schleicht auf den Zehen in ihr Zimmer.


Vorhang fällt langsam.

3. Akt

[69] [73]Dritter Akt

Oberst Graf Krondorfs Wohnung. Aeußerst vornehm und kostbar eingerichteter, roter Salon. Links und rechts seitwärts führen Türen in die anschließenden Gesellschaftsräume. Links rückwärts sieht man durch zurückgeschlagene Portièren in den Billardsalon. Rechts rückwärts ist die Ausgangstür. An den Wänden hängen kostbare Oelgemälde. Ein Kamin, davor ein Tischchen. Beiderseits des Tischchens Fauteuils. Eine Eckgarnitur. Eine Vitrine. Abends.
Herren, Damen der Gesellschaft, Offiziere, welche in Gruppen zusammenstehen, miteinander plaudern, kommen und gehen.
Hohenfels, Oberst.

OBERST
zu Hohenfels.
Wann fahrt ihr zu den Jagden?
HOHENFELS.

Noch nicht ganz sicher. Wahrscheinlich morgen abend. Abfahrt 8 Uhr 30, Ankunft übermorgen früh 7 Uhr 20. Drei Tage dort Aufenthalt, dann Rückreise.

OBERST.

Das ist ja ein bereits großartig ausgearbeiteter Plan. Nur wirst du ihn, wie gewöhnlich, wieder umstoßen.

HOHENFELS.
Nein, diesmal nicht. Ich muß ja ins Abgeordnetenhaus. Dieses Mal wird es scharf zugehen.
OBERST.
Ja, voraussichtlich. Pause. Fährst du allein?
HOHENFELS.
Nein, ich nehme Viktor mit.
OBERST.

Viktor? Da tust du gut daran. Wird ihm ganz gesund sein, wieder ein paar Tage zur Abwechslung Landluft, Wald zu atmen. Für den ist die Großstadtluft auch nicht gerade die gesündeste. Was der Junge in der letzten Zeit treibt, so in den letzten vier Wochen ... will mir gar nicht gefallen.

[73]
HOHENFELS.
Da kommt er ja gerade.
OBERST.
Ist die Geschichte schon aus? Die gewisse?

Viktor, Vorige.
VIKTOR.
Guten Abend. Er sieht sehr schlecht aus, nervös, hat unsteten Blick.
OBERST.
Guten Abend, Viktor.
HOHENFELS.
Wir sprechen gerade von dir.
VIKTOR.
So? Was Gutes oder was Schlechtes? Uebrigens, es ist ja gleichgültig. Wie geht's dir, Onkel?
OBERST.
Danke, gut. Pause. Ich habe deinen Vater gefragt ... ob diese ... Sache zu Ende ist?
VIKTOR
kurz.
Ja, ist zu Ende.
OBERST.
... günstig erledigt?
VIKTOR
mit zuckenden Lippen.

Ja, sehr günstig. Pause, dann. Ich habe, du weißt ja, Papa gebeten, mir zu erlauben, ein Mädel, ein liebes, gutes Mädel, zu heiraten. Allerdings, Fürstin ist sie keine. Papa war dagegen.

OBERST.

Vernünftigerweise, ja. Du heirate in deinem Stand und sie soll das in dem ihrigen tun. Ihr paßt nicht zusammen. Das sind zwei verschiedene Welten.

VIKTOR.

Ihr Vater sagte das auch. Auch er hat ihr nicht erlaubt, mich zu heiraten. Sonst hätten wir ja geheiratet. Denn auf Papa hätte ich nicht gehört, wenn er mir auch mit Enterbung, Verstoßung usw. gedroht hatte.

HOHENFELS.
Du bist ja sehr liebenswürdig.
VIKTOR.

Die beiderseitigen Herren Väter sind, wie gesagt, übereingekommen, daß wir einander nicht heiraten dürfen und das sowohl von einander unabhängig, als auch beide aus demselben Grunde. Ihre politischen Anschauungen vertragen es nämlich nicht, daß ihre Kinder glücklich miteinander werden.

HOHENFELS.

Ja, das hätte mir gepaßt, mit dem [74] Radikalsten aller Radikalen verwandt zu werden. Das wäre so etwas gewesen. Zum Obersten. Auch für dich wäre das eine ganz besondere Ehre gewesen. Weißt du, ihr Vater ist Führer einer radikalen Fraktion.

VIKTOR.

Und du einer konservativen. Ihr bildet euch beide ein, ohne euch ging's nicht und weiß Gott was für Wichtigkeiten ihr nicht auszutragen, auszukochen hättet! Dabei überseht ihr ganz, daß ihr euch nur spielt, daß euer ganzes Dasein, eure ganze Tätigkeit Spielerei ist, überflüssi ge Spielerei, die euch und etlichen Tausend anderen die Zeit vertreiben muß, weil ihr welche habt, in der ihr nicht euer Brot verdienen müßt. Daß nun eure Spielerei, euer Zeitvertreib uns soviel kosten soll ... unser ganzes Glück... Wendet sich ab.

OBERST.

Du, höre einmal, die Sache scheint dir ja verflucht nahe gegangen zu sein, wenn du deinem Vater solche Liebenswürdigkeiten sagst.

HOHENFELS.

Laß ihn doch. Heute schimpft er und macht mir in seiner augenblicklich weltschmerzlichen Stimmung Vorwürfe. Und in einer Woche dankt er mir mit aufgehobenen Händen, daß ich ihn vor der größten Torheit, die er überhaupt in seinem Leben hätte begehen können, zurückgehalten habe.Pause.

OBERST
nach einer Weile.
Du, Viktor, ich will dir einen Rat geben.
VIKTOR
feindselig.
Etwa denselben, den mir Papa gegeben hat?
OBERST.
Da müßtest du mir erst sagen, was dir dein Papa geraten hat.
VIKTOR
mit zuckenden Lippen.

Er hat versucht, mir klar zu machen, daß ja nicht gleich geheiratet sein muß. Noch dazu, wo es sich nicht um eine »Dame der Gesellschaft« handelt!

OBERST.

Bravo, ganz meine Ansicht. Das hätte ich dir auch gesagt. Zum Donnerwetter noch einmal, Junge, bist du ein Mann oder nicht? Muß denn immer gleich [75] geheiratet sein? Man nimmt sich das Mädel und das Heiraten überläßt man, einem anderen! So hätt' ich dir's gesagt.

VIKTOR
schweigt.
HOHENFELS
stockend.

Ich wollte ja eigentlich nicht mehr auf sie zurückkommen; aber da wir nun schon von ihr sprechen ... sie ist fort?

VIKTOR.
Ja.
OBERST.
Und ... haha ... nichts vorgefallen?
VIKTOR
schweigt.
HOHENFELS
prallt zurück.
Viktor?
VIKTOR
schweigt.
HOHENFELS
entsetzt.
Du hast doch nicht ... du ... du hast doch nicht ...?
VIKTOR
schweigt.
OBERST
bricht in ein polterndes Lachen aus.

Seht euch doch mal den Duckmäuser an! Geht mit einer Leichenbittermiene umher, sieht drein, als ob er nicht bis zwei zählen könnt' und dabei ... Schweigt plötzlich auf einen Blick Viktors hin; Pause.

HOHENFELS
nach einer Weile mit unterdrückter Bewegung.
Nun, und was soll jetzt werden?
VIKTOR
sehr ruhig.

Ich bin mir noch nicht ganz klar ob ich mich erschießen oder als Schuft weiter leben soll. Aber ich glaube, ich werde mich doch erschießen. Wendet sich zum Gehen.

OBERST.
Viktor!
VIKTOR
abwehrende Handbewegung, ab.
OBERST
konsterniert.
Du, der ist imstande und macht Ernst!
HOHENFELS
nach einer Weile.

Wollen hoffen, daß nicht. Man erschießt sich nicht so leicht. Er wird mit der Zeit zur Besinnung kommen. Pause. Aber ich werde Sorge tragen, daß er sich bald verliebt.Wendet sich um. Schade, daß deine Alice nicht frei ist. Dort kommt sie ja gerade. Und hinter ihr natürlich ein ganzer Schwarm junger Herren. Sieh doch! Wo ist denn Ferdinand? Beide treten nach rückwärts.


[76] Alice, Horst, Steggendorf, junge Offiziere und Herren der Gesellschaft. Später Ferdinand, zuletzt Heinz.
STEGGENDORFF.
Komtesse, den nächsten Walzer, ja?
ALICE.
Bedaure, ist bereits vergeben.
STEGGENDORFF.
Also dann den zweitnächsten?
ALICE.
Geht auch nicht mehr.
HORST.
Ja, da hättest du halt früher kommen müssen.
ERSTER HERR.

Ja aber eigentlich Komtesse ... Sie sind sehr schlimm. Jawohl, sehr schlimm. Wir anderen sind ja auch noch auf der Welt. Jawohl, wir auch noch. Komtesse machen aber, als ob wir nicht auf der Welt wären. Jawohl. Gerade so machen es Komtesse. So oft man einen Walzer will – ist er vergeben. Jawohl, ist er vergeben. Und wer tanzt ihn dann? Immer ein und derselbe Herr. Jawohl, immer ein und derselbe Herr. Jawohl ... Ich bin bös, Komtesse, jawohl, bös bin ich, ganz bös. Und tief gekränkt, sehr tiefgekränkt. Jawohl. Wendet sich ab.

STEGGENDORFF.

Der geht sich jetzt erschießen, Komtesse, da haben Sie's. Auf drei fällt ein Schuß. Aufpassen, ich zähle: Eins ... zwei und eins ist ...

ALICE.

Lassen Sie die Scherze, Steggendorff. Geh'n Sie lieber dem Baron nach und sagen Sie ihm, wenn er schön bittet, bekommt er dann eine Extratour. Steggendorff ab.

FERDINAND
kommt.

Elegante Diplomatenerscheinung. Da bist du ja. Man sieht dich ja fast nicht, so bist du umschwärmt. Die anderen Herren treten zurück zu Damen oder in Gruppen zusammen.

ALICE.
Dich ja auch nicht, so ängstlich hältst du dich ferne.
FERDINAND.
Du weißt, ich liebe es nicht, unter zwanzig der zwanzigste zu sein.
ALICE.
Bitte, ganz wie du willst.
[77]
EIN HERR.
Walzer, meine Herrschaften, der nächste Walzer. Alle außer Alice und Ferdinand ab.
HEINZ
in Leutnantsuniform, tritt ein.
FERDINAND.
Darf ich um den Walzer bitten?
ALICE.
Leider, ist schon vergeben.
FERDINAND.
An wen denn? Hast du mir den Souperwalzer aufgehoben, um den ich dich schriftlich gebeten habe?
ALICE.
Als dein Brief angekommen ist, war er schon vergeben.
FERDINAND.
Das ist ja ...
HEINZ.
Komtesse, darf ich bitten?
FERDINAND
sehr arrogant.

Lieber Herr Leutnant, darf ich Sie bitten, mir diesen Walzer abzutreten? Wenn Sie die Komtesse bitten, gibt sie Ihnen dann sicher eine entschädigende Extratour.

HEINZ.

Bedaure, Herr Attaché, übrigens, wenn Sie die Komtesse bitten, wird sie Ihnen die entschädigende Extratour ja vielleicht auch nicht verweigern. Darf ich bitten, Komtesse? Führt sie am Arm fort. Ferdinand geht zornig nach links ab.


Horst, Steggendorff, Waldow.
WALDOW
nervös durch die Mitteltür, schließt alle Türen, zieht den Vorhang zu.
So, jetzt sind wir ja endlich unter uns. Also, Herr Rittmeister ...
STEGGENDORFF.
Herr Rittmeister waren Augenzeuge?
HORST
unschlüssig.

Augenzeuge war ich wohl; aber ich weiß nicht, ob ich euch was erzählen darf. Ihr kennt doch den Obersten. Und ich will nicht, daß es morgen das ganze Regiment schon weiß. Wenn man dann fragt, von wem hast denn du das gehört? Und du? Und du? Dann sagen alle einstimmig: Vom Horst, vom Horst.

[78]
WALDOW UND STEGGENDORFF.
Aber Herr Rittmeister!
HORST.
Na, gar so »aber« ist das nicht. Also, wenn ihr versprecht, das für euch zu behalten?
WALDOW UND STEGGENDORFF.
Auf Ehre; Herr Rittmeister können sich darauf verlassen.
HORST
überzeugt sich, daß niemand horcht.

Viel ist ja nicht zu erzählen. Der Oberst und ich, wir gingen gestern wie gewöhnlich um 12 Uhr aus der Kanzlei über die Promenade nach Hause. Ich habe ihn noch ein Stück begleitet. Grad an der Stelle, an welcher der Reitweg die Promenade kreuzt, wird nun der Oberst plötzlich von so einem Kerl – er sah aus wie ein Maurer oder sonst etwas – angerempelt und statt sich zu entschuldigen, beginnt dieses Subjekt zu schimpfen, aber wie!

STEGGENDORFF.
Was hat er denn gesagt?
HORST.

No, er hat halt zu schimpfen begonnen. »Glaubt ihr Steuerfresser, ihr Tagediebe, wir Steuerzahler bau'n die Straßen für euch, daß ihr nicht achtzugeben braucht?« oder so ähnlich.

WALDOW.
Unerhört.
STEGGENDORFF.
Und der Oberst?
OBERST.

Ah, der hat sich herrlich benommen. Eh' der Kerl auch nur zu Ende gesprochen hat, war der Säbel schon draußen, hat ihm der Oberst schon über sein Gesicht einen Durchzieher gegeben, prachtvoll. Der Kerl ist gleich zusammengefallen, ganz blutüberströmt. Und selbstredend gleich 500.000 Menschen um ihn herum, könnt euch ja denken. Na, heut' sind ja auch schon alle Zeitungen voll davon. Schon die Morgenblätter.

WALDOW.
Ja, aber der Name des Obersten war nicht genannt.
HORST.
Nein, in den Morgenblättern noch nicht ... Na, ich bin auf das Nachspiel neugierig.
STEGGENDORFF.
Ja, glauben denn Herr Rittmeister ...?
[79]
HORST.

Aber doch selbstverständlich, Kinder, selbstverständlich! Ich werde euch was zeigen. Ich glaube nicht nur, sondern ich weiß bereits. Haha. Ich weiß bereits. Na, dem Oberst kann ja nichts geschehen. Gar nichts. Wenn auch die »Wahrheit« ...

WALDOW.
Wer?
STEGGENDORFF.
Ist das diese radikale Zeitung, dieses Hetzblatt?
HORST.
Ja. Kennst du es etwa?
STEGGENDORFF.
Dem Namen nach.
WALDOW.
Was ist's mit ihm?
HORST.

Es ist eine Notiz drin. Der Oberst ist genannt. Direkt fürchterlich. Man hat mir die Zeitung, den Artikel rot angestrichen, zugesendet. Wer, weiß ich natürlich nicht. Und da zerbreche ich mir schon den ganzen Abend den Kopf, ob ich dem Obersten schon jetzt die Meldung machen soll ... dann ist ihm natürlich der Abend verpatzt ... oder erst morgen.


Vorige, Ferdinand, später Oberst.
FERDINAND
tritt durch die Seitentür ein.
HORST.
Sie kommen wie gerufen, Graf. Sie können mir einen Rat geben.
FERDINAND.
Wenn ich kann, mit Vergnügen.
HORST.
Sie kennen die Angelegenheit ihres Herrn Onkels?
FERDINAND.
Diese gewisse Sache von gestern? Ja. Ist nicht sehr angenehm. Wird viel Staub aufwirbeln.
HORST.
Der Oberst war im Recht.
FERDINAND.
Das ändert nicht viel an der Tatsache. Was ist also damit?
HORST.
Haben Sie das heutige Abendblatt der »Wahrheit« gelesen?
FERDINAND.
Nein, noch nicht.
HORST
zieht aus der Brusttasche eine Zeitung.
Bitte, lesen Sie.
[80]
WALDOW.
Vielleicht laut, Graf, damit wir auch etwas hören.
STEGGENDORFF.
Ja, bitte.
FERDINAND
beginnt zu lesen.

»Wir haben bereits in unserem heutigen Morgenblatte über das Attentat berichtet, dem einer unserer rührigsten Genossen zum Opfer gefallen ist. Unser armer, durch Säbelhiebe entsetzlich zugerichteter Freund ist ja leider nicht das erste dieser Art in diesem Jahre, welches an jenes mittelalterliche Ueberbleibsel eines dünkelhaften Standes glauben mußte. Der Attentäter ist diesmal ein Graf Krondorf, ein Oberst und Regimentskommandant. Aber schon auf diesem Wege sei ihm gesagt, daß ihm diesmal weder sein Grafentitel noch seine Oberstencharge helfen werden. Der Goldkragen dieses Herrn, von dem Schweiße und der Arbeit auch unseres armen schwerverwundeten Parteimitgliedes gezahlt, muß herunter, muß unserem Freunde zu Füßen liegen.«

Ernst Bergmann.

FERDINAND.

Hm ... und hiezu bemerkt noch die Redaktion: »Nachsatz: Wie wir soeben erfahren, hat die Fraktion ihren Führer beauftragt, den Fall Krondorf im Parlamente zur Sprache zu bringen. Daß es diesem bewährten Parlamentarier gelingen wird, unserem Genossen eine Genugtuung zu verschaffen, wie sie in dem voranstehenden Artikel angedeutet ist, erscheint uns unzweifelhaft.«

FERDINAND.
Hm, hm ...
HORST
höchst erregt.
Also was sagen Sie bloß dazu, meine Herren, was sagen Sie bloß dazu?
OBERST
der unbemerkt eingetreten ist.
Hoffentlich nichts, meine Herren. Ein vernünftiger Mensch verschwendet an dergleichen kein Wort.
HORST.
Herr Oberst haben ... bereits Kenntnis von diesem Artikel?
OBERST.

Aber gewiß. Greift in die Brusttasche. Da, seht doch her, wie man für mich gesorgt hat. Da ist[81] der Artikel, rot angestrichen. Doch nett von dem Einsender, nicht?

HORST.
Herr Oberst haben also auch...?
OBERST.

Ja, ich auch. Lächelnd. Doch meine Herren, verderben wir uns dieses Streiches wegen nicht den Abend. Sich umsehend. Vier Herren hier? Nein, das geht doch nicht. Die armen Damen bleiben ja sitzen. Und morgen steht dann womöglich wieder was über mich in der Zeitung ... also meine Herren, schnell engagieren, gehen ... Horst, Waldow, Steggendorff ab.


Oberst, Ferdinand.
OBERST
sehr herzlich.
Mein lieber Junge! Umarmen einander. Seit wann bist du denn wieder in Europa?
FERDINAND.

Seit drei Tagen. Heute nachmittags kam ich hier an. Ich habe mich nur umgezogen und bin dann hergekommen.

OBERST
scherzend.

Ja, die Sehnsucht nach deinem alten Onkel war halt zu groß. Du hast es gar nicht mehr erwarten können, das Wiedersehen mit mir, wie?

FERDINAND.
Gewiß, Onkel.
OBERST
sich ernst stellend.
Alice hast du wahrscheinlich noch gar nicht begrüßt? Wie?
FERDINAND.
Doch, früher. Flüchtig allerdings nur.
OBERST
stutzt.
Flüchtig? ... Ihr seid ein angehendes Brautpaar und begrüßt euch nach so langer Trennung flüchtig?
FERDINAND
schweigt.
OBERST
in wachsender Unruhe.
Habt ihr euch am Ende schon gezankt?
FERDINAND.
Nein.
OBERST.
Also was denn sonst?
FERDINAND
erregt.

Ich konnte ja mit ihr nicht mehr als zehn Worte bisher wechseln. Sie ist ja fortwährend von Herren umringt, förmlich belagert! Und für alle [82] hat sie einen Tanz frei; für ihren Räuspert sich. »angehenden Bräutigam« hat sie keinen aufgehoben, obwohl ich sie darum gebeten und ihr meine Ankunft angezeigt habe. Sogar den Souperwalzer hat sie vergeben.

OBERST
begütigend.
Nanana ... wenn das alles ist ...?
FERDINAND.
Es ist nicht alles, Onkel.
OBERST.
Nicht alles? Na, was hast du denn noch auf dem Herzen? Heraus damit.
FERDINAND.

Onkel ... Langsam. wer ist dieser ... Offizier, der, wie ich gehört habe, seit meiner Abwesenheit Alices unzertrennlichster Gefährte geworden ist?

OBERST
lacht auf.

Na endlich! Gott sei Dank, daß es draußen ist! Dacht' ich mir's doch gleich. Die Eifersucht plagt dich, mein Sohn.

FERDINAND.
Wer ist dieser Offizier, Onkel?
OBERST
wie früher.

Dieser Offizier, der dich in so schlechte Laune versetzt, heißt Heinz Bergmann, ist einer meiner jüngsten, aber nichtsdestoweniger einer meiner tüchtigsten Subalternoffiziere, ein glänzender Eisläufer und Tennisspieler – wie mir Alice erzählt hat – und ein nicht schlechterer Gesellschafter scheint er mir zu sein.

FERDINAND.
Wie kommt er in dein Regiment?
OBERST.

Sein Onkel, du hast ihn ja auch gekannt, den Universitätsprofessor Dr. Bergmann, den ehemaligen konservativen Abgeordneten? Er war ein guter Freund von mir. Er hat mich gesund gemacht, als ich vor zwei Jahren schon aufgegeben war. Der hat ihn zu mir gebracht, als er sein Einjährigenjahr abdienen mußte. Nun, und da er sich nach Ablauf dieses Jahres aktivieren lassen wollte und ich inzwischen konstatiert hatte, daß er aus dem Holz geschnitzt ist, aus dem unsere Offiziere geschnitzt sein sollen, so bin ich ihm – schon aus Freundschaft für den inzwischen verstorbenen Professor – und auch, ich muß es sagen, aus Dankbarkeit für ihn, an die Hand gegangen und habe ihn [83] gleich in meinem Regiment behalten. Er ist, wie gesagt, ein äußerst verwendbarer Offizier. Er wird es sicher weit bringen. Ich habe auch die Absicht, sobald er Oberleutnant wird, ihn zu meinem Adjutanten zu machen. Scherzend. Nun, zufrieden, Herr Attaché?

FERDINAND
schweigt.
OBERST.
So mein Sohn und jetzt setz' dich schön daher. Ich schicke dir Alice und dann sprecht ihr euch aus.
FERDINAND.
Ich bitte dich, Onkel ...
OBERST.

Pst, keine Widerrede. Die Genugtuung, daß Alice zu dir kommt, hast du schließlich redlich verdient. Also dahergesetzt und hübsch brav gewartet. Ab.

FERDINAND
geht nervös auf und ab, betrachtet die Bilder, tritt dann links ins offene Nebenzimmer.
Er ist ungesehener Zeuge der folgenden Szene.

Alice, Heinz.
Alice und Heinz treten Arm in Arm ein.
ALICE
ungehalten.
Jetzt sind wir hier und er ist richtig nicht da.
HEINZ.
Ich müßte lügen, wenn ich dem Grafen deshalb böse wäre.
ALICE.
Aber ich umso mehr.
HEINZ
peinlich berührt.
Liegt Ihnen so viel daran, den Grafen zu finden?
ALICE.
Ja, Papa ist ungehalten und wird mich auszanken, wenn wir ohne ihn zurückkommen.
HEINZ.

... Und das – ist der einzige Grund, weshalb Sie bedauern, den Grafen nicht getroffen zu haben? Alice, ist das der einzige Grund?

ALICE.
... Haben Sie einen andern vermutet?
HEINZ.
Alice! Ergreift ihre Hand.
[84]
ALICE
sieht sich um.
Lassen Sie, Heinz. Wir müssen Ferdinand suchen. Kommen Sie. Will gehen.
HEINZ
hält sie zurück, sieht sich um.

Einen Augenblick, nur einen Augenblick ... Ergreift von neuem ihre Hand. Alice, ich weiß nicht ob es der rechte Augenblick ist ... ich weiß es wirklich nicht. Aber sprechen muß ich trotzdem, Alice, ich muß sprechen, bevor wir gehen, den Grafen zu suchen. Darf ich sprechen, Alice?

ALICE
mit gesenktem Kopfe, leise.
Sprechen Sie, Heinz.
HEINZ
zieht sie mit sich in die Ecke; beide setzen sich dicht nebeneinander, Hand in Hand.

Mit bewegter Stimme. Alice, es ist nicht viel, es sind nur einige Worte. Für mich ist es ein Gebet. Ein langes, inniges Gebet. Ein Gebet, ein Bekenntnis, ein Schwur ... Alice, ich hab' dich lieb ... so unaussprechlich lieb ...! Ich will dich auf meinen Händen durchs Leben tragen ... Alice, willst du dich von mir tragen lassen?

ALICE
neigt sich zu ihm hin, bietet ihm ihre Lippen.
Endlich, daß du nur schon gesprochen hast! Du ...Küssen einander.
HEINZ.

Jetzt bist du meine Braut, jetzt gehörst du mir. Ach, wenn du wüßtest, wie ich mich nach dir gebangt, gesehnt habe ... Zieht sie an sich. Ich bin jetzt restlos glücklich. Ich will vom Leben weiter nichts mehr, als stets deine Liebe und die Fähigkeit, dich glücklich zu machen. Und du, was willst du?

ALICE
einfach.
Nichts, denn ich hab' dich.
HEINZ.
Alice!
ALICE.
Und nun erzähle mir von dir, von deinem Leben. Ich weiß ja noch nichts von dir.
HEINZ
ausweichend.

Nicht heute, nicht heute. Heute kümmern wir uns um nichts als um uns. Morgen will ich dir vieles erzählen.

ALICE.

Von deinen Eltern wirst du mir erzählen, ja? Das hast du noch nie getan. Von deinem Vater und von deiner Mutter und auch von deinen Geschwistern?

HEINZ
unruhig.
Ja, ja.
[85]
ALICE.
Du hast doch noch Eltern?
HEINZ.
Meine Mutter ist tot.
ALICE.
Du Armer, so geht es dir wie mir. Aber einen Vater hast du doch noch?
HEINZ
gequält.
Ja. Aber ... aber wir sehen einander ... fast nie. Wir ...
ALICE.
Er ist krank?
HEINZ.
Nein. Aber lassen wir das doch heute. Morgen, morgen will ich dir alles erzählen.
ALICE.
So bist du ganz allein?
HEINZ
in stillem, aufwallendem Glück.
Nein, nicht mehr allein, denn jetzt hab' ich dich; du ersetzest mir alles!

Man hört im Nebenzimmer Schritte.
ALICE
schreckt auf.
Komm, man wird bemerken, daß wir fehlen.
HEINZ
erhebt sich.
Ja, komm. Wir wollen zu deinem Vater gehen.
ALICE.

Nein, heute noch nicht. Du weißt, er hatte mit mir andere Pläne. Laß mich, wenn die Gäste fort sind, erst allein mit ihm sprechen. Ich will ihn vorbereiten. Morgen kannst du dann in Parade angerückt kommen und Papa um meine Hand bitten. Ich werde dann im Nebenzimmer zuhören.

HEINZ
küßt sie.

Ich tue was du willst, obgleich es mir lieber wäre, gleich jetzt mit deinem Vater zu sprechen. Also komm jetzt wieder zu den andern.Beide ab.


Ferdinand allein.
FERDINAND
tritt aus der offenen Türe in das Zimmer, wischt sich den Schweiß.

So weit stehen sie schon, so weit .... und ich ... Er preßt die Lippen zusammen, geht gegen die Ausgangstüre.


[86] Ferdinand, Hohenfels.
HOHENFELS.
Ah, da bist du ja. Du kommst mir gerade recht.
FERDINAND
aufblickend.
Du, Onkel?
HOHENFELS.
Ja, ja, wenn du nichts dagegen hast.
FERDINAND
will an ihm vorüber.
HOHENFELS
faßt ihn am Aermel.

Du, wir sind ja nicht mehr in New-York, wo die Menschen so aneinander vorüberrennen, wie du es eben an mir tun willst.

FERDINAND.
Wünschest du etwas von mir, Onkel?
HOHENFELS.
Allerdings. Ich wünsche dich zu sprechen.
FERDINAND
unangenehm berührt.
Muß das heute sein, Onkel?
HOHENFELS.

Ja, es muß sein. Erregter. Es betrifft übrigens mehr noch dich als mich. Darum lege bitte für einige Minuten deine Diplomatenmiene beiseite und setz' ein vernünftiges Gesicht auf.

FERDINAND.
Wenn es also sein muß, bitte. Ich stehe zur Verfügung.
HOHENFELS
geht zu den Türen, sieht nach, ob niemand in der Nähe ist; halblaut in erregtem Tone.

Kennst du den Offizier, mit dem Alice soeben das Zimmer verlassen hat und der ihr den ganzen Abend schon nicht von der Seite weicht?

FERDINAND
stutzt.
Warum?
HOHENFELS.
Kennst du ihn?
FERDINAND.
Nur dem Namen nach.
HOHENFELS.
Wie heißt er?
FERDINAND
zögernd.
Heinz Bergmann, soviel ich gehört habe.
HOHENFELS
springt auf, schlägt mit der Faust auf den Tisch.

Also hab' ich doch recht gehabt! Da soll der Teufel ... wirklich unerhört! Läuft im Zimmer auf und ab.

FERDINAND.
Ja, was hast du denn?
[87]
HOHENFELS.
Empörend ist's. Geradezu unglaublich! Und zum Schreien lächerlich!
FERDINAND.
Möchtest du mir vielleicht erklären, warum du dich so echauffierst?
HOHENFELS.

Aber ich wußt' es ja gleich! Ich kenne doch die Bergmann'sche Sippe! Und der Sohn geht hier aus und ein! Man sollte ja lachen darüber!

FERDINAND.
So rede doch endlich vernünftig, Onkel. Was hast du gegen diesen Offizier?
HOHENFELS.
Das ist es ja eben! Daß so ein Mensch den Offiziersrock tragen darf!
FERDINAND
ungehalten.

Du sprichst noch immer in Rätseln. Möchtest du mir nicht endlich sagen, was es mit diesem Leutnant Bergmann ist? Ich füge eine Neuigkeit hinzu, welche du noch nicht wissen kannst; ich habe sie eben miterlebt: Leutnant Bergmann hat sich mit Cousine Alice vor fünf Minuten verlobt.

HOHENFELS
prallt zurück, beginnt dann zornig zu lachen.
Ausgezeichnet, ausgezeichnet, das wird ja immer schöner. Der Skandal immer größer!
FERDINAND.
Ich warte auf deine Erklärung, Onkel.
HOHENFELS.
Weißt du, wer der Vater dieses Leutnant Bergmann ist?
FERDINAND.
Nein.
HOHENFELS.
Der Abgeordnete Ernst Bergmann.
FERDINAND.
Nun und?
HOHENFELS
wiederholt fast schreiend.

Nun und? Ja Mensch, findest du das so begreiflich, daß der Sohn des radikalen Fraktionsführers Bergmann Offizier ist, hier aus und ein geht und sich mit deiner Cousine – wie du ja selbst sagst – verlobt? Findest du das so begreiflich, daß der Sohn dieses Kerls, der erst heute wieder diesen Schandartikel geschrieben hat, als enfant gâté hier behandelt wird, daß er womöglich dein Verwandter wird?

FERDINAND
betrachtet schweigend Hohenfels.
[88]
HOHENFELS
sieht ihn erstarrt an.
Du hast am Ende alles gewußt?
FERDINAND
gleichmütig.

Du hast zuviel in das Champagnerglas geguckt, Onkelchen und das tut konservativen Abgeordneten nicht gut. Es regt sich dann auch bei ihnen die Phantasie und sie beginnen, höchst unkonservativerweise, zu kombinieren. Wie kannst du aus einer allerdings fatalen Namensgleichheit solch unsinnige Schlüsse ziehen?

HOHENFELS
erregt.

Unsinnige Schlüsse? Ich gebe dir mein Ehrenwort, daß jener Leutnant Bergmann, dessen Onkel, Professor Friedrich Bergmann, hier Hausarzt war, der Sohn des radikalen Fraktionsführers Bergmann ist. Ich kenne die Bergmanns.

FERDINAND
greift sich an die Stirne.
Onkel, um Gotteswillen, was sagst du da? Bist du dessen wirklich so sicher?
HOHENFELS.
So sicher, als ich jetzt da stehe.
FERDINAND
außer sich.
Und das, das sollte Onkel Franz nicht wissen?
HOHENFELS.
Ich kann doch nicht annehmen, daß er es weiß!
FERDINAND
tritt ans Fenster, denkt nach.

Mit unterdrückter Stimme dann. Onkel, wenn das so ist, dann würde mir plötzlich so manches klar werden. So zum Beispiel, wer sowohl Onkel Franz, als auch dem Rittmeister Horst die heutige Ausgabe der »Wahrheit« zugesendet hat ...

HOHENFELS
pfeift durch die Zähne.
Ah, siehst du wohl?
FERDINAND.

Und zu denken, daß dieser Kerl, der sich in das Regiment eingeschlichen hat, Alice ... es ist einfach nicht zu fassen!

HOHENFELS.
Was machen wir jetzt?
FERDINAND.
Onkel Franz muß augenblicklich alles erfahren. Er kann einfach nichts wissen.
HOHENFELS.
Das ist auch meine Ansicht.
[89]
FERDINAND
läutet; zum eintretenden Diener.

Melden Sie dem Herrn Oberst, der Herr Graf und ich hätten eine dringende Mitteilung zu machen und wir ließen den Herrn Oberst bitten, sich für einen Augenblick hierher zu bemühen.

DIENER.
Sehr wohl, Herr Graf. Ab.

Vorige, Oberst.
OBERST
eilig eintretend.
Was ist denn los? Ist etwas geschehen?
HOHENFELS.

Wir haben dich hierherbitten lassen um dir mitzuteilen, daß wir die Person, welche dir den heutigen Artikel der »Wahrheit« zugesendet hat, gefunden zu haben glauben.

OBERST.

So, das ist sehr liebenswürdig von euch; aber, seid mir nicht böse, es ist mir höchst gleichgültig, wer es getan hat

FERDINAND.

Vielleicht doch nicht ganz, wenn du erfährst, daß es dein zukünftiger Schwiegersohn gewesen sein dürfte?

OBERST
tritt, an Ferdinands Verstand zweifelnd, zurück.
Künftiger Schwiegersohn ... »gewesen sein dürfte?« Du hast mir die Zeitung zugesendet?
FERDINAND.
Ich spreche vom Leutnant Heinz Bergmann, vom Sohne des ...
HOHENFELS
einfallend.

radikalen Fraktionsführers Ernst Bergmann, welcher auch diesen schönen Artikel von heute verfaßt hat.

OBERST.
Ich verstehe kein Wort.
HOHENFELS.
Kennst du den Vater des Leutnant Bergmann?
OBERST.
Den Vater? Nein, was ist's mit ihm?
FERDINAND.

Er ist der Autor dieses gewissen Artikels, nebenbei, wie wir dir schon gesagt haben, der bekannte radikale Fraktionsführer.

[90]
HOHENFELS.

Ja, interessierst du dich denn nicht, wen du in dein Regiment aufnimmst und wen du in deinem Hause mit deiner Tochter verkehren läßt?

OBERST
ganz konsterniert.

Ihr seid ja beide nicht recht bei Trost. Die Namensgleichheit ist ja vorhanden, das kann niemand anzweifeln. Und mir hätte sie auffallen sollen. Aber wie kann man denn gleich so etwas denken! Es ist ja zum Lachen. Leutnant Bergmann ...

FERDINAND.
Hat sich hier eingeschlichen, um ...
OBERST
auffahrend.

Ich verbiete dir weiterzusprechen, Ferdinand. Die Eifersucht geht dir scheinbar an deinen Verstand. Vergiß nicht, daß du von einem Offizier meines Regimentes sprichst, der augenblicklich noch dazu als Gast in meinem Hause weilt. Zu Hohenfels. Und du hast dich ebenfalls täuschen lassen. Dieser verdammte Artikel hat die Geister scheint's aller erregt.

HOHENFELS.
Du glaubst mir also nicht?
OBERST.

Aber das ist doch ein ... ein Unsinn ist's. Anders kann ich das doch gar nicht benennen! Bedenkt doch die Ungeheuerlichkeit, wenn das wahr wäre: Der Sohn Ernst Bergmanns in meinem Regimente, in meinem Hause... das ist ja ... ein ein Unding! So etwas gibt es doch gar nicht.Geht nervös umher.

HOHENFELS.
Wenn du mir also nicht glaubst, frag ihn doch selbst, wer sein Vater ist.
FERDINAND.

Ich erlaube mir hinzuzufügen, Onkel, daß sich vorhin Cousine Alice mit Herrn Leutnant Bergmann verlobt hat. Ich stand als ungerufener Zeuge im Nebenzimmer. Morgen will der Herr Leutnant dir seine Werbung vortragen.

OBERST
stutzt.
Ferdinand?
FERDINAND.

Bitte, bitte, Onkel. Es ist Ernst. Ganz verfluchter Ernst. Mir ist absolut nicht zum Spassen zumute. Sie haben einander geküßt und sich miteinander verlobt. Unter diesen Umständen muß ich mich selbstverständlich zurückziehen. Ich bitte dich, [91] das zur Kenntnis zu nehmen, Onkel. Auf Wiedersehen, Onkel. Ich fahre mit dem morgigen Frühzug nach Hamburg und von dort mit dem nächsten Dampfer wieder nach Amerika. Geht gegen die Türe.

OBERST.
Ferdinand!
FERDINAND
zuckt die Achseln.
Es ist ja nichts mehr zu wollen, Onkel.
OBERST.
Bleib' solange, bis ich mit Leutnant Bergmann gesprochen habe. Das Weitere wird sich finden. Ja?
FERDINAND.
Wie du befiehlst, Onkel.
OBERST.

Dann laßt mich bitte einen Augenblick allein. Hohenfels und Ferdinand ab; Oberst läutet; zum Diener. Ich lasse Herrn Leutnant Bergmann bitten. Wenn er hier ist, sorgst du, daß wir nicht gestört werden.

DIENER
ab.

Oberst, Heinz, später Alice.
HEINZ
tritt kurz darauf ein.
Herr Oberst haben befohlen?
OBERST.

Ja, Herr Leutnant. Mustert ihn schweigend. Wollen Sie bitte Platz nehmen, Herr Leutnant, ich habe mit Ihnen zu sprechen.

HEINZ
verneigt sich, nimmt dem Oberst gegenüber Platz.
OBERST.

Sie haben in der letzten Zeit viel in meinem Hause verkehrt, Herr Leutnant. Ich habe Ihnen viel Vertrauen in Bezug auf den Umgang mit meiner Tochter entgegengebracht. Mehr, als sonst den Herren des Regimentes oder jenen, welche in meinem Hause verkehren. Ich hoffe, Herr Leutnant, Sie haben mein Vertrauen bisher nicht mißbraucht?

HEINZ
sich erhebend.
Wie darf ich das verstehen, Herr Oberst?
OBERST.
Bitte, wollen Sie Ihren Platz wieder einnehmen, Herr Leutnant. Pause, Heinz setzt sich.
[92]
OBERST
fortfahrend.

Ich habe, wie Ihnen bekannt sein dürfte – dergleichen spricht sich ja herum und auch Sie werden davon bestimmt gehört haben – gewisse Pläne mit meiner Tochter. Sie ist fast offiziell mit meinem Neffen, Graf Ferdinand Krondorf, verlobt. Ist Ihnen das bekannt, Herr Leutnant?

HEINZ.

Mir ist nur bekannt, Herr Oberst, daß die Komtesse bisher nicht offiziell mit dem Grafen verlobt ist.

OBERST.
Es ist meine Absicht, in den nächsten Tagen diese Verlobung zu einer offiziellen zu machen.
HEINZ.

Herr Oberst, ich weiß, der Zeitpunkt ist nicht der richtige. Aber nachdem die Angelegenheit sich so verhält ... ich hatte die Absicht Herrn Oberst zu bitten, mich morgen vormittag zu empfangen.

OBERST
betrachtet ihn schweigend.
Sie interessieren sich für meine Tochter?
HEINZ
erhebt sich.
Ich bitte gehorsamst um die Hand der Gräfin Alice, Herr Oberst.
OBERST
schweigt.
HEINZ
wartet.
OBERST.

Sie werden mir entschuldigen, wenn ich Ihnen vorderhand nicht antworte. Pause. Brechen wir das Thema auf eine Weile ab, wir sprechen noch davon.

HEINZ.
Wie Herr Oberst befehlen. Setzt sich.
OBERST
nimmt ein Zeitungsblatt aus der Tasche, biegt die Ränder um.

Ich wünsche Sie mit allem bekannt zu machen, Herr Leutnant, ebenso durch Sie von allem zu erfahren, was für Sie, andererseits für mich von Interesse sein kann. Gegen mich ist eine unangenehme Sache im Anzug. Hier, bitte, lesen Sie; ich lege Gewicht auf Ihr Urteil, Herr Leutnant. Reicht ihm die Zeitung hin, ihn ununterbrochen beobachtend.

HEINZ
liest; in der Türe erscheint, unbemerkt bleibend, Alice.
OBERST
nach einer Weile, als Heinz zu Ende gelesen hat.
Sie sind fertig?
[93]
HEINZ.
Ja, Herr Oberst.
OBERST.
Ihr Urteil?
HEINZ
zuckt die Achseln.
Eine Gemeinheit, Herr Oberst.
OBERST.
Ihr Urteil über den Verfasser?
HEINZ.

Jedenfalls ein zweifelhafter Ehrenmann. Was ist das für eine Zeitung, wenn ich gehorsamst fragen darf, Herr Oberst?

OBERST
ausweichend.

Das tut ja nichts zur Sache. Irgend ein Schmierblatt. Pause. Sie halten Ihr Urteil unter allen Umständen aufrecht, Herr Leutnant?

HEINZ.
Gewiß, Herr Oberst. Kleine Pause.
OBERST
nach einer Weile.

Um auf unser voriges Thema zurückzukommen, Herr Leutnant ... Sie werden es begreiflich finden, daß ich über Ihre persönlichen Verhältnisse orientiert sein möchte ...

HEINZ
wird unruhig.
OBERST.
Sie haben noch Eltern?
HEINZ.
Nur einen Vater, meine Mutter ist tot.
OBERST.
Tot? Sehr bedauerlich. Schon lange gestorben?
HEINZ.
Ja, schon lange.
OBERST.
Und Ihr Herr Vater? Er ist wohl nicht Offizier?
HEINZ.
Nein.
OBERST.
Darf ich mir die Frage erlauben, was er ist, welche Stellung er inne hat?
HEINZ
zuckt zusammen.
OBERST.

Die Frage ist Ihnen doch nicht unangenehm, Herr Leutnant? Sie werden sich doch Ihres Herrn Vaters nicht zu schämen haben?

HEINZ
auffahrend.
Nein, Herr Oberst. Mein Vater ist Abgeordneter und Führer einer parlamentarischen Fraktion.
OBERST.

Ah, in der Tat? Abgeordneter? Das ist ja sehr respektabel. Da wird ihn ja mein Vetter Hohenfels wahrscheinlich kennen?

[94]
HEINZ.
Wahrscheinlich, Herr Oberst.
OBERST.
Ihr Herr Vater gehört auch der konservativen Partei an?
HEINZ.
Nein, Herr Oberst.
OBERST.

Nicht? Welcher Partei denn sonst, wenn ich fragen darf? Sie entschuldigen meine Neugierde, aber Sie werden sie begreiflich finden.

HEINZ
mühsam.
... der radikalen.
OBERST
unterdrückt seine Bewegung.

Ah, der ra dikalen... also doch der radikalen. Nach einer Weile. Sie müssen zugeben, Herr Leutnant, ein – sagen wir – etwas seltener Beruf in der jetzigen Zeit für den Vater eines Berufsoffi ziers.

HEINZ.

Herr Oberst, ich gebe gehorsamst zu bedenken, daß ich für den Beruf meines Vaters nicht verantwortlich bin.

OBERST
beißend.

Ja, da haben Sie Recht. Nach dem Gesetze können Sie weder für den Beruf Ihres Vaters verantwortlich gemacht werden, noch für das, was er schreibt. In der Gesellschaft – Hochmütig. in unseren Sphären natürlich, in den Ihren mag das ja anders sein – denkt man darüber allerdings anders. Biegt die Ränder der Zeitung wieder um, reicht sie Heinz. Langsam, abgewogen, sich dabei erhebend. Herr Leutnant Bergmann, halten Sie Ihr Urteil über Artikel und Autor auch jetzt noch aufrecht?

HEINZ
wirft einen Blick auf den Artikel; ein Blitz erschreckten Erkennens überzieht sein Gesicht.

Er wankt, greift unwillkürlich nach einer Stütze. Alice tritt festen Schrittes zu ihrem Vater, an seine Seite.

OBERST
mit schneidender Stimme.

Ich habe bis jetzt darüber nachgedacht, wer dafür gesorgt haben mag, daß ich die »Wahrheit« dieses ehrenwerte Blatt, den Artikel rot angestrichen, so prompt zugestellt erhalten habe. Denn ich habe mir eingebildet, zu keinem Mitglied der radikalen Partei in irgendwelchen Beziehungen zu stehen. Ich habe mich ja auch stets bemüht, [95] mich von dieser Geißel des Jahrhundertes in genügender Entfernung zu halten. Leider muß ich jetzt sehen, daß mir das nicht geglückt ist. Pause, dann in großer Erregung. Herr Leutnant Bergmann, haben Sie mir vielleicht noch etwas zu sagen?

HEINZ
würgend.
Herr Oberst ... Alice ...
OBERST
eisig.

Fordern Sie vielleicht die Bezahlung der Zeitung? Auflachend. Ich würde sie Ihnen verweigern müssen, denn ich habe die »Wahrheit« nicht abonniert oder bestellt ...

HEINZ
in furchtbarer Erregung auf den Oberst zuspringend.

Herr Oberst, noch bin ich Offizier wie Herr Oberst, noch trage ich den Rock Sr. Majestät wie Herr Oberst.

ALICE
hart.
Ja, leider noch!!!
HEINZ
taumelt zurück, entsetzt.
Alice!
OBERST
läutet; Diener tritt ein.
OBERST
zum Diener.
Der Herr Leutnant befiehlt seinen Wagen.
HEINZ
verneigt sich leicht, geht festen Schrittes hinaus.

Vorhang.

4. Akt

[96] [99]Vierter Akt

Arbeitszimmer Ernst Bergmanns. Ein Sommervormittag. Die Fenster und die Balkontüre stehen weit offen. Man hört von der Straße herauf den Großstadtlärm.
Bergmann, Dr. Schroeder.

BERGMANN
sitzt vor seinem Schreibtisch.

Er ist sehr gealtert. Seine Haltung ist müde, sein Aussehen schlecht. Er hat nicht mehr die kraftvollen, energischen, selbstsicheren Bewegungen von einst. Nur hie und da flackert in der Sprache seine einstige Energie auf. Dann werden seine Bewegungen straffer, seine Haltung aufrechter. Der Gesamteindruck ist der eines vom Schicksal schwer getroffenen Mannes, den nur Pflichtgefühl und ein unbezähmbarer Arbeitsdrang aufrechterhalten.

DR.

SCHROEDER sitzt Bergmann gegenüber. Er ist etwa 46 Jahre alt und macht den Eindruck eines ruhigen, arbeitsamen, ernsten, in seinem Beruf aufgehenden Menschen. ... ich bin der Hausarzt Ihrer Frau Schwester, Herr Abgeordneter. Ich habe die Ehre, schon bald fünfzehn Jahre der Hausarzt Ihrer Frau Schwester in Innsbruck zu sein und ...

BERGMANN
in Papieren blätternd.

Ah, wirklich? Das freut mich ganz außerordentlich. Ich erinnere mich übrigens, Ihren Namen gelegentlich auch gehört zu haben. Ja, ganz bestimmt.

SCHROEDER.
... und da ich gerade hier bin, ich fahre übrigens bereits heute abends wieder zurück, so ...
BERGMANN.

So haben Sie die außerordentliche Liebenswürdigkeit gehabt, mich aufzusuchen.Blickt sehr nervös auf die Uhr. Sie bringen mir Grüße von meiner Schwester und von meiner Tochter, nicht wahr? Erhebt sich, reicht ihm die Hand. Meinen aufrichtigsten Dank. Es geht doch hoffentlich gut? Und wenn Sie zurückfahren – und Sie fahren ja, wie Sie sagten, noch heute zurück – bestellen Sie bitte von mir auch herzliche Grüße. Ja?[99] Sieht nochmals auf die Uhr. Und jetzt verzeihen Sie, bester Herr Doktor, aber ich habe in zwanzig Minuten eine wichtige Konferenz, für die ich noch einiges vorzubereiten habe. Auf Wiedersehen, Herr Doktor.

SCHROEDER
sehr ruhig.
... und da ich gerade hier bin, habe ich mir erlaubt Sie aufzusuchen, da ich ...
BERGMANN.

Ach so, ach so ... ich verstehe. Brauchen Sie irgendwie meine Intervention, mein Eingreifen? Sehr gerne, sehr gerne. Verehrtester Herr Doktor, jetzt habe ich aber wirklich keine Zeit. Vielleicht bemühen Sie sich während meiner Sprechstunde heute zu mir. Von vier bis sechs Uhr nachmittags. Für Sie bin ich übrigens auch bis halb sieben zu sprechen ... einen Augenblick übrigens, ich muß erst nachsehen, ob es auch möglich ist ... nämlich heute, bis halb sieben, Blättert in einem Buche, halblaut. dreiviertel sieben Sitzung der Parteileitung, ... ja, es ist möglich. In zehn Minuten bin ich ja bequem dort. Also bitte, bis halb sieben, Herr Doktor. Aber keinesfalls später. Auf Wiedersehen, jetzt, Herr Doktor.

SCHROEDER.

Ich bin nicht in eigenen Angelegenheiten zu Ihnen gekommen, Herr Abgeordneter, sondern ich sitze in meiner Eigenschaft als Arzt, als Hausarzt Ihrer Frau Schwester hier. Ich bin im Auftrage Ihrer Frau Schwester als der Arzt Ihres Fräuleins Tochter, also in Ihren Angelegenheiten, Herr Abgeordneter, hier. Wollen Sie mich, also endlich ruhig aussprechen lassen, Herr Abgeordneter. Ich muß Sie sprechen und ich muß Sie jetzt sprechen. Erstens, weil es sich um eine Sache handelt, welche keinen langen Aufschub zuläßt ...

BERGMANN
blickt auf.
SCHROEDER.
... und zweitens, weil ich noch heute nach Innsbruck zurückfahren muß.
BERGMANN
ruhig.

Dann erlauben Sie, Herr Doktor, daß ich Ihnen umso herzlicher danke. Viel leicht bemühen Sie sich also um halb zwei, in meiner Mittagspause, [100] zu mir ... Ausbrechend. Ich habe auch für meine Angelegenheiten jetzt nicht Zeit, Herr Doktor. Die Partei benötigt mich gerade in diesem Augenblick.

SCHROEDER
mißt ihn kalt, erhebt sich.

Wie Sie wünschen, Herr Abgeordneter. Ich bedaure, Ihnen zu einer andern Zeit nicht zur Verfügung stehen zu können. Auch meine Zeit ist gemessen, wenn ich auch nicht radikaler Fraktionsführer bin. In Innsbruck warten auf mich mit Sehnsucht Kranke, Schwerkranke, vor denen ich's nicht verantworten könnte, meine Zeit in Ihrem Warteraum zu verbringen. Adieu, Herr Abgeordneter. Wendet sich zur Türe.

BERGMANN.

Herr Doktor ... nur einen Augenblick bitte ... Mit der Uhr spielend. Was ist denn meiner Tochter? Doch nichts Ernstes?

SCHROEDER
ruhig.
Sie sieht ihrer Entbindung entgegen.
BERGMANN
taumelt zurück.
Was tut sie?
SCHROEDER.
Es ist übrigens auch möglich, daß die Entbindung zu dieser Stunde schon vorüber ist.
BERGMANN
gänzlich fassungslos.
Aber Herr Doktor, Herr Doktor, das ist doch ... das ist doch ... unmöglich ...! Meine Tochter ...
SCHROEDER
schweigt.
BERGMANN.
Es ist doch ganz unmög lich ...
SCHROEDER
tritt zu ihm.

Ich hätte es Ihnen schonend beigebracht, Herr Abgeordneter, Sie selbst haben mich zu dieser Art Mitteilung gezwungen, Herr Abgeordneter ...

BERGMANN
tritt schweren Schrittes ans Fenster, sucht sich zu sammeln.
SCHROEDER
tritt näher, herzlich.

Nehmen Sie's nicht zu tragisch, Herr Abgeordneter ... Ich gebe ja zu, es ist eine böse Sache für Sie. Aber es gibt Aergeres. Herr Abgeordneter ... und Gott sei Dank, Gott sei Dank, in unserer Zeit denkt und urteilt man über dergleichen anders als noch vor zehn Jahren ... Pause; dann [101] leise und warm. Ihre arme Tochter wartet in ihrer schwersten Stunde auf ihren Vater ...

BERGMANN
wendet sich, im Kampfe mit sich, kaum um.
Wissen Sie ... Näheres?
SCHROEDER.

Ich glaube ... es handelt sich um einen jungen Grafen Hohental ... oder so ähnlich; der Name ist mir entfallen. Es ist derselbe junge Graf, der sich vor mehreren Monaten in Innsbruck aus damals unerklärlichen Gründen erschossen hat ... die Sache hat viel Staub aufgewirbelt, Sie werden bestimmt aus den Zeitungen davon gehört haben. Pause. Ich glaube, wir stehen vor der Lösung des damaligen Rätsels ...

BERGMANN
ist bei Nennung des Namens zusammengezuckt.
SCHROEDER
bewegt.

Herr Abgeordneter ... Sie sind beteiligter Miterleber einer Tragödie geworden, welche umso größer ist, als es sich um eine Tragödie des Alltags handelt ... Ihr armes, armes Kind wartet... unten steht mein Wagen ... wir erreichen noch bequem den Mittagsschnellzug ... so dringend werden Ihre Geschäfte nicht sein, daß der Abgeordnete dem Vater nicht ein bis zwei Tage Urlaub geben könnte; ... Ihre Tochter ...

BERGMANN
beherrscht.

Ich danke Ihnen, Herr Doktor ... aber eine Reise meinerseits wäre überflüssig ... ich habe keine Tochter mehr.

SCHROEDER.
Herr Abgeordneter?
BERGMANN
wie vorhin.
Ich bin Ihnen tief verbunden, Herr Doktor, ich werde stets in Ihrer Schuld sein ...
SCHROEDER.

Herr Abgeordneter, um Gotteswillen, das ist doch nicht Ihr Ernst...? Das kann doch unmöglich Ihr Ernst sein?

BERGMANN.
Ich habe nichts mehr hinzuzufügen.
SCHROEDER
tritt näher.

Herr Abgeordneter, ich bin fünfzehn Jahre Hausarzt Ihrer Frau Schwester. Es ist nur natürlich, daß ich auch über Ihre Verhältnisse, über die jüngsten Ereignisse auch in Ihrem Hause unterrichtet bin ... Verzeihen Sie, ich will mich nicht [102] in Dinge mischen, die mich nichts angehen, nicht vielleicht kaum vernarbte Wunden aufreißen ... aber ich, fühle das Bedürfnis als Anwalt Ihres armen Kindes zu sprechen ... Herr Abgeordneter, Sie haben viel Unglück in der letzten Zeit gehabt ... Ihr Herr Bruder ist tot, Ihr einziger Sohn im Felde, Ihr bester, langjähriger Freund hat sich als ... ich erspare mir eine Kritik, die mir nicht zusteht ... Ihre Frau ... ist ... fort, Sie haben sich von ihr scheiden lassen ... Sie können doch unmöglich das Einzige, was Sie noch an Liebem fest in Händen haben, fortstoßen, weil ... dergleichen kann doch vorkommen, Herr Abgeordneter, und Sie sind doch ein moderner, fortschrittlicher Mensch, der selbst unzählige Male für die Märtyrerinnen unter den Frauen eingetreten ist, für die Frauen, welche sich aus reinster, natürlicher Liebe dem Manne geben, ohne an das in den meisten Fällen so wahrhaft unmoraliche Versorgungsinstitut, welches sich Ehe nennt, zu denken oder dank unserer weisen herrschenden Moral auch nur daran denken zu dürfen ... Sie, Herr Abgeordneter, können sich doch, wo es sich um Sie selbst handelt, nicht Lügen strafen! Pause.

BERGMANN
noch einer Weile wie vorhin.

Sie sind gütig, Herr Doktor, sehr gütig. Ich kann mich leider nicht mit Ihnen in eine Debatte einlassen. Hier handelt es sich nicht um meine Tochter, sondern um die Tochter Ernst Bergmanns, die der Graf Hohenfels ... Schweigt; nach einer Weile. Ernst Bergmann darf so eine Tochter nicht haben, Herr Doktor, verstehen Sie mich? Er darf nicht. Die Partei verbietet es ihm. Die Partei, welche durch ihn beschimpft wäre. Pause, dann schwer. Es heißt entweder die Zügel niederlegen in einem Augenblick, in welchem ich's nicht vor meinem Gewissen und dem Vaterlande verantworten kann ... oder op fern, aber ausharren. Pause. Ich muß ausharren. Leiser. So muß ich auch op fern. Lange Pause. [103] Heute können Sie mich nicht verstehen, in einigen Monaten werden Sie mich begreifen.

SCHROEDER
nach einer Weile.
Und Ihre Tochter?
BERGMANN
gefaßt.

Ich verurteile sie nicht, wenn ich ihr auch nicht verzeihen kann. Pause. Ich werde mich mit meiner Schwester schriftlich auseinandersetzen ... noch heute. Sagen Sie das, bitte, in Innsbruck. Nimmt die Uhr.

SCHROEDER.

Sie werden sich die Sache noch überlegen, Herr Abgeordneter. Jetzt sehe ich, ich kann Sie nicht länger aufhalten. Leben Sie wohl, Herr Abgeordneter, und denken Sie daran, daß Sie zuerst Vater waren, bevor Sie Abgeordneter geworden sind. Daß sie zuerst Vaterpflich ten haben und erst dann andere. Verneigt sich, ab.

BERGMANN
blickt ihm nach, sinkt schwer in den Schreibtischsessel; lange Pause.

Bergmann, Ferndorf.
FERNDORF
in Leutnantsuniform tritt ein, legt seine Hand auf Bergmanns Schulter.
Bergmann ...
BERGMANN
schreckt auf.
Ferndorf, du? ... Wo kommst du her?
FERNDORF.
Direkt aus dem Feld und gerade in einem Augenblick ...
BERGMANN.
Du weißt?
FERNDORF.
Ich habe draußen Dr. Schröder gesprochen. Er ist ein alter Freund von mir.
BERGMANN
bitter.

Nun, da bist du ja gleich über alle Neuigkeiten orientiert, die's in der Heimat gibt. Was sagst du denn dazu?

FERNDORF.

Ich frage dich, ob du tatsächlich den Standpunkt, den du Dr. Schröder gegenüber eingenommen hast, auch mir gegenüber weiterhin vertreten willst?

BERGMANN
sieht ihn groß an.

So sprichst du? Gerade du? Du scheinst dir über die Tragweite nicht [104] im klaren zu sein. Fast schreiend. Die Tochter des radikalen Fraktionsführers erwartet vom Sohne des konservativen Grafen Hohenfels ein uneheliches Kind!

FERNDORF
hart.
Du hast sie gehindert, ein ehe liches erwarten zu dürfen. Was willst du jetzt?
BERGMANN
sinkt in sich zusammen.
FERNDORF
milder.

Sie ist ein Opfer unserer Vorurteile geworden. Gib dem armen Kind jetzt endlich Frieden. Die Steine, die du werfen willst, treffen höchstens dich.

BERGMANN.
Vorurteile –? Ferndorf!
FERNDORF.
Vorurteile.
BERGMANN.
Wo hast du dir diese Anschauungen geholt?
FERNDORF.
Draußen.
BERGMANN.
An der Front?
FERNDORF.

Ja, draußen, an der Front. Draußen, wo all' der kleinliche Hader, der Parteihader, schweigen muß, draußen, wo alle, welche empfinden können, nur das eine empfinden, daß sie zu sammengehören, daß sie eins sein müssen, daß sie zusammenhalten müssen und daß es frevelhafter Uebermut ist, sich in glücklichen, frohen Friedenstagen um Nichtigkeiten willen das Leben zu verbittern. Leidenschaftlich. Drau ßen, wo infolge der ständigen Lebensgefahr, infolge des stets drohenden Todes der Hunger nach Glück sich ins Uferlose steigert, draußen habe ich gelernt, das Glück zu schätzen und alle die zu verlachen Drohend. und zu bekämpfen, die verhindern wollen oder in ihrer Kurzsichtigkeit verhindern, daß Menschen glücklich werden.Pause.

BERGMANN
müde.

Lassen wir das. Es führt zu nichts. Ich habe viel gelernt in diesem unseligen Krieg. Das aber als Vorurteil anzusehen, was ein gut' Teil Inhalt meines Lebens war und ist, das als Vorurteil anzusehen, worauf ich mein Leben und mein Lebenswerk [105] aufgebaut hab', das hab' ich Gott sei Dank noch nicht lernen müssen. Und wenn es einmal dazu kommen sollte, wenn die Zeit es mich lehren sollte, daß ich unnütz gelebt und gearbeitet habe, nein, daß ich vielmehr Schädliches, Schlechtes, zu Verwerfendes geleistet habe, dann ... dann ... Abbrechend. Ich werde mich an den Gedanken gewöhnen müssen, meine Tochter mehr zu haben.

FERNDORF
schwer.
Du wirst allein sein, Bergmann, ganz allein.
BERGMANN.

Ich werde mich mit Heinz aussöhnen. Er ist gescheitert, er hat genug gebüßt, daß er seinem Vater nicht gefolgt hat Er wird freudig den Weg zu mir zurückfinden, wenn ich ihm entgegengehe. Ich brauche ihn. Ihn und dich. Ich brauche junge, kräftige Elemente, die zum Kampf geschaffen sind. Ich brauche treue, aufopfernde Menschen, die zu mir stehen in der nächsten Zeit. Denn ich habe Großes vor. Ich will die Fraktion reorga nisieren, ich will ihr die radikale, alles Bestehende zersetzende Spitze nehmen. Ich will ihr andere Tendenzen zugrunde legen. Sie soll Zersplittertes einigen, sie soll Zersetztes zusammenkitten, sie soll Zerstörtes erneuern, sie soll wieder aufbauen! Sie soll Leiser. gutmachen, wenn sie gefehlt hat. Längere Pause. Nun begreifst du wohl ... warum ich vom Plane nicht verschwinden darf... Langes Schweigen; dann fortfahrend. Du bist auf Urlaub jetzt?

FERNDORF.
Ja.
BERGMANN.
Wie lange?
FERNDORF.
Ich bin heute gekommen und fahre morgen zurück.
BERGMANN.
So kurzen Urlaub? Weswegen bist du denn hier?
FERNDORF
ausweichend.
Ich habe hier zu tun.
BERGMANN.

So, so. Ich werde mich jedenfalls bemühen, für dich in der nächsten Zeit Urlaub zu erwirken. Für dich und für Heinz. Man wird es mir[106] nicht abschlagen, wenn ich den Grund nenne. Ich will noch heute ins Ministerium ... Oder meinst du, es wäre besser, ich würde mir einen Paß verschaffen und Heinz im Felde aufsuchen? Wir müssen uns ja erst aussprechen. Ich glaube, das wäre noch besser, wenn ich ihn im Felde aufsuchen würde. Ich weiß ja auch gar nicht, ob er mit mir arbeiten will, wenn ihm diese Arbeit auch keinen Gesinnungsbruch zumutet. Was meinst du, Ferndorf?

FERNDORF
blickt zu Boden, schweigt.
BERGMANN
betroffen.
Du glaubst, er wird nicht wollen?
FERNDORF
schweigt.
BERGMANN
ungeduldig.
Nun, so sprich doch ...
FERNDORF.
Es ... es wird wohl nicht möglich sein ...
BERGMANN.

Daß ich hinfahre? Oh, nichts leichter als das. In 24 Stunden habe ich den Paß. Ich gehe zum Minister. Oder meinst du, ich werde Heinz nicht auffinden können? Das erfahre ich auch in wenigen Stunden im Ministerium, wo er augenblicklich steht. Was soll also nicht möglich sein?

FERNDORF.
Ihn zu sprechen ...
BERGMANN.

Das sollte nicht möglich sein? Du glaubst, daß er mit seinem Vater nicht sprechen würde, wenn der zu ihm kommt? Ach, du kennst meinen Heinz schlecht. Der Dickkopf will nur nicht den ersten Schritt zur Versöhnung tun und so muß ich's halt besorgen. Ich war auch zu hart damals und leise wenn ich ehrlich sein soll ... ich sehne mich nach meinem Jungen.

FERNDORF.
... das meine ich nicht ...
BERGMANN.

Das meinst du nicht? Was denn ... dann ...? Versteht plötzlich. Er richtet sich halberstarrt auf, sagt dann ruhig mit erloschener Stimme. Er ist tot?

FERNDORF.
Ja. Lange Pause.
BERGMANN.
Und du hast dir Urlaub genommen, mir's zu sagen?
[107]
FERNDORF
nickt; eine Weile Schweigen.
Willst du Näheres wissen?
BERGMANN
abwehrend.
Später. Pause; atmet tief auf. So bleibt mir nur noch die Partei.
FERNDORF.
Und deine Tochter. Man hört draußen Stimmengewirr.
BERGMANN.
Oder meine Tochter. Nach schwerem Kampfe. Ich gehöre der Partei.

Vorige, Annie.
ANNIE
stürzt durch die aufgerissene Türe, zerrauft, in unordentlicher Kleidung, den Ausdruck hilflosesten Entsetzens im Gesicht, zu ihrem Vater.
BERGMANN UND FERNDORF
prallen zurück.
Annie!
ANNIE.
Vater, Vater, hilf mir! Beschütz' mich, Vater, versteck' mich!
BERGMANN.
Was ist geschehen?
ANNIE
klammert sich verzweifelt an ihn, blickt mit Grauen nach der Tür.
Beschütz' mich, Vater, nur diesmal, Vater, verlaß mich nicht!
BERGMANN
dem etwas Ungeheuerliches dämmert, schreiend.
Wo ... wo ... ist ... das ... dein Kind –?
ANNIE.
Vater ... Vater ...
BERGMANN.
Wo ist dein Kind?
ANNIE.
Ich ... es ... ich ... weiß ... es ... nicht...!
BERGMANN UND FERNDORF.
Annie!
ANNIE.

Vor ... ich weiß ja nicht mehr, wann ...Greift sich an den Kopf. da ... war es plötzlich da ... und ... und die Tante ... die Tante ... und die andern ... die haben alle gesagt ... ich könnte die Schande ... nicht über dich ... und die Familie bringen ... und ... und ...

[108]
BERGMANN UND FERNDORF.
Und?
ANNIE.

... und ... und da hab' ich es in den Garten gelegt, an die Mauer ... wo niemand hinkommt, in das Gebüsch ... wo es niemand sehen kann ... ich hab' es ja zuerst töten wollen ...

BERGMANN.
Annie!
ANNIE.

Ja, das hab' ich wollen ... aber ich hab' nicht können, Vater, es ist ja doch mein Kind... und dann hab' ich es wieder zurücknehmen wollen ...

FERNDORF.
Nun und?
ANNIE.

Aber da ist der Gärtner gekommen und ich hätt' an ihm vorüber müssen ... mit dem Kind ... und das hab' ich nicht gekonnt...

BERGMANN.
Du hast es im Garten liegen lassen?
ANNIE
nickt.

... Ich hab' es liegen lassen ... und bin fort ... fort auf die Bahn ... zu dir ... keinem hab' ich was gesagt ... keinem ... und die Leute, die haben mich so eigen angesehen ... so ganz eigen ... besonders die Wachleute ... und bis hierher sind sie mir gefolgt ... bis hierher, Vater ... Schreiend. Ich hab' ja solche Angst ... Rennt zum Fenster, schreit auf in namenlosem Entsetzen. Da ... da ... stehen sie ... zwei ... und schauen hinauf ... sie warten auf mich ... Vater ... mich suchen sie ...!!!

BERGMANN
ist in den Sessel gesunken.
FERNDORF
ist zum Fenster getreten, zieht jetzt Annie fort.

Beruhigen Sie sich, Annie, die stehen immer hier. Kein Mensch tut Ihnen etwas zuleide. Fürchten Sie sich nicht. Es kann noch immer alles gut werden. Es läutet.

BERGMANN
stöhnend.
Meine Tochter ... eine Kindsmörderin! ...
ANNIE
wimmernd.
Vater, Vater, hilf mir ... du bist ja Abgeordneter ...
FERNDORF
zu Bergmann.

Ich gehe an deine Schwester telephonieren. Vielleicht ist noch alles zu retten ... Das Kind wird gefunden werden ... Es kann noch [109] leben ... Und Sie, Annie, legen sich einstweilen nieder. Vertrauen Sie mir nur, es wird noch alles gut. Greift ihr an die Stirne. Sie glühen ja, Sie haben hohes Fieber. Will sie ins Nebenzimmer führen.

JOHANN.
Der Herr Polizeikommissär Reiter möchte den Herrn Abgeordneten sprechen.
ANNIE
schreit auf, klammert sich an Bergmann.
BERGMANN UND FERNDORF
zucken zusammen.
BERGMANN
wischt sich den Schweiß.
Entsetzlich ... Ringt nach Fassung.
FERNDORF.

Es ist ja unmöglich ... unmöglich ... wir wollen sehen, was er will. Annie, gehen Sie ins Nebenzimmer. Gehen Sie. Und du, Bergmann, nimm dich zusammen. Jetzt heißt es Ruhe bewahren.

ANNIE
flehend.
Laßt mich bei euch ...
FERNDORF.
Es geht nicht, Annie.
ANNIE
in furchtbarer Angst.
Verlaßt mich nicht! Laßt mich bei euch!
BERGMANN
mühsam.
Geh' ins Nebenzimmer.
ANNIE
mit vor Angst irrem Blick ab.
BERGMANN
beherrscht.
Ich lasse bitten. Tritt Reiter ruhig entgegen.

Vorige ohne Annie, Polizeikommissär Reiter.
REITER
sehr höflich.

Hoffentlich störe ich nicht, das wäre mir sehr fatal, Herr Abgeordneter. Hoffentlich störe ich nicht?

BERGMANN
tonlos.
Womit kann ich dienen, Herr Kommissär? Bitte, machen Sie's kurz, ich bin auf alles gefaßt.
FERNDORF
stoßt Bergmann warnend an.
REITER
lachend.

Auf alles gefaßt? Köstlich, ausgezeichnet, Herr Abgeordneter, wirklich sehr gut. Auf alles gefaßt, hahaha ... auf alles gefaßt ... wenn ein Polizeikommissär kommt, nicht wahr, muß man[110] auf alles gefaßt sein ... hahaha ... wirklich sehr gut ... haha ...

FERNDORF.

Um was handelt es sich denn, Herr Polizeikommissär? Sie müssen entschuldigen, aber wir haben eine außerordentlich wichtige Konferenz. Und nur weil der Herr Polizeikommissär Reiter es ist, haben wir unterbrochen ...

REITER.

Ah, ah, ah? Eine Konferenz, eine Sitzung, sozusagen? Eine Sitzung, wie? Hab' mir ja gleich gedacht, daß der Herr Abgeordnete zu tun hat und ich nur stör', wenn ich komm' ... gleich hab' ich mir's gedacht ... Der Herr Abgeordnete Bergmann ist der meistbeschäftigte Mann der Stadt. Jawohl, das hab' ich immer behauptet. Die anderen Herren Abgeordneten, haha ... die nehmen's nicht so ernst, das »Volksvertreten« ... haha ... ein gutes Wort, wie? »Volksvertreten«? Haha ... Ja, die nehmen's nicht so ernst. Aber der Herr Abgeordnete Bergmann, der ist immer beschäftigt. Und dabei immer bei Humor. Immer »auf alles gefaßt«, wenn ein Polizeikommissär kommt ... haha ... na, ich will nicht länger stören, wenn es sich um eine wichtige Konferenz, um eine Sitzung sozusagen, um eine Sitzung ... handelt. Ich komm' halt ein anderes Mal wieder, wenn ich vorüber komm'.

BERGMANN
mit Anstrengung.
Nein, nein ... bleiben Sie nur. Und sprechen Sie.
REITER.

Es ist ja auch nur kurz. Und wenn ich noch einen Augenblick jetzt aufhalte, ist es vielleicht besser, als wenn ich dann noch einmal kommen muß. Und stören tu' ich ja ohnehin immer, wenn ich komm'. Der Herr Abgeordnete hat ja immer zu tun. Nicht wahr?

BERGMANN.
Ja, ja. Also wenn ich bitten darf ...
REITER
zieht umständlich ein dickes Buch hervor, spitzt bedeutsam einen Bleistift, sucht im Buche, dann im Amtstone.

Es handelt sich um den Thomas Müller, geboren in Wien, im Kronlande Oesterreich unter der Enns, [111] römisch-katholisch, verheiratet, nein, ledig, nein, verheiratet, nein, ledig ...Kratzt sich. is' er jetzt verheiratet oder ledig? ... Vater eines unehelichen Kindes und zweier ehelicher Kinder. Eheliche Kinder? Da is' er scheinbar doch verheiratet? Na, da werd' ich noch nachfragen. Obzwar, nicht wahr, wenn er eheliche Kinder sozusagen in die Welt ... bitte, bitte, ich weiß schon was ich sage und brauche keine Belehrung; also: wenn er sozusagen eheliche Kinder in die Welt hat setzen lassen ... dann muß oder soll wenigstens die Ehe, wenn auch nur zum Scheine, bestehen. Nicht war? Also, da werd' ich noch fragen, ob eine Ehe besteht oder nicht. Uebrigens, da hab' ich's ja schon. Verheiratet mit Aloisia, geborene Zankapfel, geboren in Linz, im Kronlande Oesterreich ob der Enns ....

FERNDORF
einfallend.
Sie sprechen offenbar von dem Schreiber Müller, der im vorigen Jahre von uns entlassen wurde.
REITER.
So ist es. Genau so. Da steht es ja. Thomas Müller, geboren in Wien, im Kronlande ...
FERNDORF.
Niederösterreich ... ja, ja. Was wünschen Sie denn über ihn zu erfahren?
REITER
beleidigt.

Ich? Ich gar nichts. Die Be hörde. Die Behörde wünscht zu erfahren. Ich stehe hier als Vertreter der Behörde.

BERGMANN.
Also die Behörde wünscht etwas zu erfahren, was denn?
REITER
vergnügt.

So ist es. Die Behörde. Die Behörde wünscht zu erfahren, an welchem Tage der Thomas Müller, geboren ...

FERNDORF.
... in Wien, im Kronlande Niederösterreich usw.
REITER.

Ja, usw. aus Ihren Diensten entlassen wurde. Es stimmt nämlich um einen Tag nicht. Er behauptet einmal am 26. April und dann wieder am 27. April. Daher muß das zutreffende Datum erhoben werden. Behördlich, amtlich erho ben werden.

[112]
FERNDORF.

Ja, spielt denn das eine besondere Rolle? Soviel ich weiß, hat dieses Datum ja mit der ganzen Angelegenheit nichts zu tun?

REITER
aufgeregt.

Eine Rolle? Eine besondere Rolle? Die Protokolle stimmen nicht, Sie stimmen nicht ... Es läutet mehrmals.

BERGMANN.

Sie haben vollkommen recht, Herr Kommissär. Leider kann ich Ihnen jetzt keine Auskunft geben, da mir die Bücher nicht zur Verfügung stehen. Aber ich sende Ihnen noch heute meinen Sekretär hinüber, der Ihnen Nachricht bringt.

REITER.

Sehr gütig, sehr liebenswürdig, Herr Abgeordneter. Und jetzt will ich nicht weiter stören, Herr Abgeordneter. Ich habe die Ehre, meine Herren, habe die Ehre. Ab.

BERGMANN.
Gott sei Dank! Gott sei Dank!
JOHANN
bringt ein Telegramm herein.

Ein Telegramm, Herr Abgeordneter. Und dann: draußen warten schon eine Weile mehrere Herren von der Fraktion. Sie lassen bitten, sofort vorgenommen zu werden. Ab.

BERGMANN.

Eine Sekunde noch, eine Sekunde noch. Aufgeregt zu Ferndorf. Aus Innsbruck. Erbricht das Telegramm. Ferndorf, das Kind ist ge funden, es lebt! Ferndorf Fast schluchzend vor Bewegung. das Kind ist gefunden, es lebt! Lieber Himmel, wie dank' ich dir!

FERNDORF
ebenfalls ganz glücklich.
Was telegraphiert deine Schwester?
BERGMANN.
Nichts weiter als: Kind gefunden, lebt, keine Sorge haben!
FERNDORF.
Ich will zu Annie! So ist, Gott sei Dank, doch alles gut geworden. Will zur Türe hinaus.

Vorige, drei Herren der Fraktion.
Die drei Herren treten ein.

1. HERR tritt Ferndorf in den Weg, dringend, halblaut. Wohin? Einen Augenblick, Kollege, Sie sind hier jetzt [113] dringend nötig ... Man hört in der Ferne dumpfes Stimmengewirr.

FERNDORF
erstaunt.

Sofort, ich komme gleich wieder.

1. HERR wie vorhin, mit Bedeutung. Hören Sie nicht unten? Bleiben Sie hier. Jede Sekunde ist kostbar. Es kann ein Unglück geben.

FERNDORF
lauscht, erschrickt.
Was ist das?
1. HERR. Sie bleiben? Tritt mit den anderen nach vorne.
FERNDORF.
Was wird dieser Unglückstag noch bringen! Bleibt im Zimmer.
BERGMANN
sich zu den Herren wendend.

Möchten die Herren nicht Platz nehmen? Doch was sehe ich? Die Herren im Frack? Stutzt. Was gibt es denn? Stimmengewirr nähert sich.

HERREN
schweigen.

1. HERR. Eh ... ja ... wir kommen, Herr Abgeordneter, im Dienst und im Auftrage der Fraktion her ... wir sind nicht die Kommission, welche Herr Abgeordneter zur Konferenz erwarten. Die Konferenz unterbleibt heute. Die Herren kommen nicht. Pause.

BERGMANN
stutzt.

Warum kommen denn die Herren nicht? Was ist denn geschehen? Und warum werde ich denn nicht sofort unterrichtet, wenn die Herren nicht kommen? Es können doch unmöglich alle krank sein? Was ist denn los?

1. HERR. Wie gesagt ... eh ... es ist schwer ... ja, wir kommen, wie gesagt, im Dienste und über Auftrag der Fraktion her. Ringt nach Worten.

BERGMANN
immer erstaunter.

Ueber Auftrag der Fraktion? Zu mir? Was wünschen Sie denn? Der Lärm unten wird immer stärker und nähert sich, vehement anwachsend.

1. HERR. Es wird uns schwer, ganz furchtbar schwer ... und daß gerade wir es sind ... ich es sein muß, der ... Bergmann blickt auf ihn, horcht dann erstaunt nach unten.

1. HERR sich sammelnd. Herr Abgeordneter, Ihnen sind die Ereignisse der letzten Tage bekannt. Das[114] Volk ist ja wie von Sinnen. Und was das Böseste an der Sache ist, es schiebt jetzt uns, unserer Fraktion einen Hauptteil der Schuld an dem allgemeinen Zusammenbruch, durch die verschiedenen Parteipressen aufgehetzt, zu. »Wir«, heißt es jetzt allgemein, hätten den Ausbruch des Krieges noch in letzter Minute verhindern können, hätten wir auch in den letzten Tagen vor Kriegsbeginn unsere ursprüngliche Politik fortgesetzt. So aber hätten wir dadurch, daß selbst wir vorbe haltlos die Rüstungs- und Kriegskredite bewilligt haben, alle jene, welche schwankten und sich verzweifelt nach einem Rückgrat, nach einer Stütze umsahen, mit welcher vereint sie noch gegen den Ausbruch des Krieges hätten ankämpfen können, ins kriegsfreundliche Lager getrieben. Dadurch, daß selbst wir ins Kriegslager eingeschwenkt wären, jubelnd ins Kriegslager eingeschwenkt wären, wäre der Krieg erst ganz beschlossene Sache geworden. Dies wäre die eine Seite unserer Schuld. Die zweite werde durch unser fast jedesmaliges Ablehnen der verschiedenen Militärvorlagen Jahre hindurch gebildet, wodurch wir die Schaffung günstigerer Kampfbedingungen, wodurch wir eine günstigere Ausrüstung unseres Heeres verhindert hätten. Wären wir gerüsteter in den Krieg eingetreten, hätten sich vielleicht die letzten Niederlagen, vor allem aber Verluste vermeiden, wenigstens verringern lassen ... Bange Pause.


Der Lärm unten wächst orkanartig an.

1. HERR setzt fort. Herr Abgeordneter, die Partei kann ohne Gefahr für ihren weiteren Bestand diese Vorwürfe, auf welche sie nur wenig oder nichts zu erwidern vermag, nicht länger auf sich ruhen lassen ohne zu ihnen Stellung zu nehmen und der allgemeinen Volksmeinung, der Volksstimmung ... Zugeständnisse zu machen. Es muß vor aller Welt [115] ein Opfer gebracht werden. Eher ist nicht Ruhe. Pause; mit abgewandtem Gesichte, zu Boden blickend. Es muß der geopfert werden, der für alles, was die Partei getan und unternommen hat, auch die Verantwortung zu tragen hat. Lange Pause; dann mit erhobener Stimme. Herr Abgeordneter, die Fraktion bittet Sie ... »die Fraktionsleitung und Ihr Mandat niederzulegen!« Es tritt ein schweres, ängstliches Schweigen ein. Die Menge unten steht. Rufe, Johlen, wüstes Geschrei tönt herauf. Unsere Kinder! Unsere Söhne! Gebt uns unsere Männer und Söhne wieder! Wir wollen un sere Kinder zurückhaben! Mörder! Verräter! Unsere Männer und Kin der wollen wir wieder zurückha ben! Dazwischen gellende Rufe. Pfui Berg mann!! Nieder mit ihm! Er hat unsere Männer und Kinder in den Tod getrieben! Erschlagt ihn! Mörder!! Schuft!! Verräter!!!

BERGMANN
greift wankend nach einer Stütze.
FERNDORF
springt hinzu.
BERGMANN
wehrt ab, rafft sich auf, will auf den Balkon.

1. HERR tritt ihm in den Weg, warnend. Herr Abgeordneter, die Leute sind nicht mehr bei Sinnen. Es kann ein Unglück geben!

BERGMANN
beherrscht.
Das ist unsere Fraktion?
1. HERR. Ja.
BERGMANN
rauh.
Macht Platz!
1. HERR. Herr Abgeordneter, ich warne Sie ...
BERGMANN.

Macht Platz! Tritt auf den Balkon. Er hebt die Hand. Augenblicklich tritt Schweigen ein. Aber es dauert nur Sekunden. Dann bricht tosender Lärm los. Ein Steinhagel fällt durch die splitternden Fensterscheiben ins Zimmer. Gellende Rufe ertönen. »Mörder! Verräter! Mör der unserer Männer und Kinder! Erschlagt ihn! Erschießt ihn! Den Hund, der unsere Männer und Söhne in den Tod getrieben hat!«Tosender Lärm. Ein neuer Steinhagel fällt ins Zimmer. Plötzlich [116] fallen mehrere Schüsse. Der Lärm dauert an; Ferndorf zieht Bergmann mit Gewalt ins Zimmer. Es tritt unten Ruhe ein.

BERGMANN
sinkt auf einen Sessel.

Man wirft nach mir mit Steinen, man schießt auf mich ... meine Fraktion ... Friedrich, du hast Recht behalten ...! Nach einer Weile, fest. Ich tue, was die Fraktion will. Ich lege die Fraktionsführung und mein Mandat nieder.

1. HERR zieht einen Bogen Papier hervor. Herr Abgeordneter brauchen nur zu unterfertigen ...

BERGMANN
liest, unterschreibt sodann.

1. HERR tritt auf den Balkon, mit lauter Stimme. Geht jetzt nach Hause, Leute. Was ihr gewollt habt, habt ihr erreicht: Herr Bergmann hat sein Mandat und die Fraktionsführung niedergelegt.Unten ertönt lautes Bravo- mit Pfuirufen auf Bergmann untermischt; dann von unten.

KRÄFTIGE MÄNNERSTIMME.

Wir wollen wissen, wer sein Nachfolger wird!

1. HERR verlegen, unschlüssig. Das kann ich noch nicht sagen, das weiß ich noch nicht ... Unten geht das Getöse wieder los.

VIELE STIMMEN.
Sein Nachfolger, ja, seinen Nachfolger möchten wir sehen ... wer sein Nachfolger wird ...
1. HERR. Den müßt ihr ja erst wählen ...
KRÄFTIGE MÄNNERSTIMME.
Der Helden berg muß es werden, der ist der wahre Volksfreund!
VIELE STIMMEN.
Ja, der Heldenberg! Der Heldenberg!
KRÄFTIGE MÄNNERSTIMME.
Da kommt er ja gerade! Hoch Heldenberg! Hoch Hel denberg, der neue Parteiführer! Hoch!
ALLE.

Hoch Heldenberg! Hoch der neue Parteiführer! Nieder, pfui, Bergmann! Unter diesen Rufen ziehen die Demonstranten ab.

BERGMANN
rauh auflachend.
Bergmann geht. Heldenberg kommt! Sein Lachen mahnt bedenklich an ein unterdrücktes Schluchzen.
[117]
FERNDORF
winkt den drei Herren zu gehen.
DIE DREI HERREN
ab.
FERNDORF
mit Bewegung.
Bergmann ...
BERGMANN.
Das ist das Ende ...
FERNDORF.

Nein, Bergmann, das ist der Anfang. Der Anfang deines neuen Lebens. Dank' dem lieben Herrgott, daß du das hinter dir hast. Jetzt, zum ersten Male, wirst du Zeit haben für deine Familie und für dich zu leben. Pause. Du hast zu wählen gehabt zwischen deinem Kind und der Partei. Der Himmel selbst hat entschieden, Bergmann. Du hast von heute an nur eine Aufgabe noch: Dein armes Kind glücklich zu machen, ihm den Lebensweg, von dem es abgeglitten ist, neu aufzubauen. Mit Wärme. Bergmann, willst du das tun? Hält ihm die Hand entgegen.

BERGMANN
tief aufatmend und sich reckend.
Ja, Ferndorf, ich will's versuchen! Schüttelt Ferndorf die Hand. Wirst du mir auch helfen?
FERNDORF
einfach.
Ja. Als dein Freund oder als – dein Schwiegersohn. Es hängt von ihr ab.
BERGMANN.
Ferndorf? Nach dem???
FERNDORF.
Du hast recht, man muß ihr Zeit geben zu verwinden ...
BERGMANN.
Aber ich spreche ja nicht von ihr, von dir red' ich, von dir ganz allein ...?
FERNDORF.
Von mir? Ich hab sie lieb ... oder sollt' ich sie weniger lieb haben, weil sie un glücklich ist?
BERGMANN
drückt ihm in wortloser Rührung beide Hände.
FERNDORF.
Ich will sie holen. Die Arme weiß ja noch gar nicht, daß alles wieder gut ist.
BERGMANN.

Sie wird schlafen. Aber geh', hol' sie nur. Bring' du ihr die gute Nachricht. Die Botschaft wird ihr noch besser tun als Schlaf ...

FERNDORF
ab.
BERGMANN
tritt ans Fenster, seufzt tief auf.
FERNDORF
stößt drinnen nach einer Weile einen markerschütternden [118] Schrei aus, stürzt mit allen Anzeichen des Entsetzens hinaus.
Schreiend. Sie hat ... sich ... sie ... hat ... sich ... am ... Fensterkreuz ... erhängt!!!
BERGMANN
richtet sich starr auf, fällt dann in den Schreibtischsessel.

In fassungslosem Entsetzen starrt er Ferndorf an, dann beginnt er zu lachen. Ein unheimliches, grelles Lachen. Er verlacht darin sein ganzes Leben.


Vorhang fällt langsam.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Chlumberg, Hans von. Dramen. Die Führer. Die Führer. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-4F05-5