Nur ein Mensch

Ich stand auf sturmbestrichnem, granitnem Bergeshaupt,
Umbrüllt vom Eisorkane, von stechendem Schnee umstaubt –
Tief unter mir, umschlungen vom Nebelgewande der Nacht,
Lag Wahn und Menschenschicksal, lag Elend und Kronenpracht ...
[56]
Lag all das wirre Suchen: die Pilgerfahrt zum Licht –
Lag all das ewige Irren: ein wüstes Höllengedicht!
Lag gleißender Glanz und Entsagung – Gethsemane und Rom:
Dort wurmt sich ein armer Schwärmer – hier schwillt der Lüste Strom!
Lag all die blöde Verblendung, die vor den Götzen kniet –
Lag all die feige Knechtschaft, die sich im Staube müht,
Faulende Früchte zu sammeln, lohender Brünste voll –
Lag all die jähe Verzweiflung – der heilige Rächergroll! ...
Die Sklavenkette klirrte – ihr schneidender Ton verklang;
Die Schellenkappe tönte – ihr lockend Geläut versank –
Von bleichen Märtyrerlippen verwehte der letzte Schwur –
Im Schweigen der Bergeswüste verstummt die Kreatur ...
Die einst mit flammenden Schwertern über den Erdball gebraust,
Die Babel-Dome gefestet mit blut'ger Despotenfaust –
[57]
Die ihre Cäsarenspuren mit ehernem Meißel gehauen,
Hier an den Felsenbrüsten zerfällt das irdische Grauen,
Das sie heraufbeschworen im bangenden Menschenhirn –
Ihre Kronenzepter zersplittern an der steinernen Bergesstirn –
Und ihrer Allmacht Male zerbröckeln wie mürbe Spreu:
Das Schweigen der Felsenöde verschlingt den Siegerschrei ...
Im Schweigen der Bergeswüste verstummt die Kreatur –
Hier lebt und atmet nur eines: die unbefleckte Natur ...
Und mich durchdrang die Wollust, an dieser Felsenbrust
Mein Sünderhaupt zu zerschmettern – all meine Erdenlust –
All meine Erdenduldung, von dieser Größe zerdrückt –
All meine Gramverschuldung, wiedergeburtsbeglückt –
Wiedergeboren und enden: zum erstenmal ein Held!
Ausatmen in diese Wildnis meine kleine, dürftige Welt!
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Da kroch es heran, das Entsetzen, belastete mich wie Erz –
Und hämmern spürt' ich mein armes, todbangendes Menschenherz:
Gemach kehrt' ich zu Tal mich, nach Menschenspur hinab –
Bei Alltagsmühen zu suchen nach meinem Alltagsgrab.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Conradi, Hermann. Gedichte. Lieder eines Sünders. Inferno. Nur ein Mensch. Nur ein Mensch. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-57D9-6