Maria Stuart und Sir Gordon

1.
An Englands Grenze harret die schöne Sünderin:
Doch nicht mehr steht nach London, nach anderm steht ihr Sinn.
Er steht nach neuer Liebe, nach neuem Glück und Wahn:
Das war Sir Leslie Gordon, der hatt' es ihr angetan.
Er nahm in Gordon Castle die Flücht'ge gastlich auf, –
Er ahnte nicht, welch' Unheil er lud zu sich herauf!
Mit höf'schen Rittersitten er dient' ihr als Vasall
Und schaute kalten Auges die süße Schönheit all.
Das konnte sie nicht tragen: – nicht lag's in ihrer Art: –
Noch hatt' in ihrer Nähe kein Mann sein Herz gewahrt.
Tief sah sie in sein Auge, und als das blieb so kühl,
Entflammt' das eigne Herz ihr bezwingendes Gefühl.
Sie rang mit ihrer Liebe, und ihre Liebe gewann,
Und eines Abends trat sie vor den geliebten Mann:
[409]
Gesenkten Hauptes, gleitend, wie geheime Liebe tut,
Vertausendfacht ihr Liebreiz durch leise rieselnde Glut.
»Sir Leslie,« haucht sie bittend, »Sir Leslie, gebt mich frei,
Mir träumte schwer, mir träumte, daß ich Eure Gefangne sei.«
»Dies Schloß ist Euer, Kön'gin – gefangen? Ihr sprecht im Scherz!«
»Ich sprech' im tiefsten Jammer und gefangen ist – mein Herz.«
Und sie drückt die verschlungnen Hände vor die Stirne marmorweiß:
»Ich liebe dich, Leslie Gordon, Mary Stuart liebt dich heiß.«
Da trat Sir Leslie Gordon zurück zwei Schritte weit:
Und stolz sprach er und eisig: »Lady Stuart, das tut mir leid.
Ihr liebt mir zu geschwinde: – ich kann nicht folgen so schnell:
Sir Cecil und Sir Darnley und Rizzio und Bothwell: –
Und meint Ihr, Leslie Gordon, der wäre der Fünfte? Nein!
Lady Stuart, es wollen die Gordons überall die Ersten sein.«
Da hob das Haupt Maria, das sie tief vor ihm gebeugt,
Ein Blick voll tiefsten Liebens und Vorwurfs auf ihn fleugt:
»Wohl hab' ich das verdienet – doch nicht aus deinem Mund!
Auf! sattelt meine Rosse, nach London geht's zur Stund'!«
Und Leslie Gordon sah ihr betroffnen Blickes nach
Und Scham und Schmerz und Reue sich brandend in ihm brach.
2.
»Sie schmachtet im dumpfen Tower, vom Mord das Haupt bedroht,
Und ich hab' sie gestoßen von mir in den bittern Tod.
[410]
Das süßeste Weib auf Erden bot Herz mir, Hand und Heil,
Und ich zum Dank entgegen stieß sie dem Henkerbeil.
O nur noch einmal küssen den Staub von deinen Schuh'n,
Sonst kann in Himmel und Hölle meine Seele nimmer ruhn.
Nein, nein, du sollst nicht sterben, ich rette dich, bei Gott,
Ich rette dich, Maria, oder teile dein Schafott.« –
Zu London im alten Tower hielt man zu scharfe Wacht,
Am Tage vor Maria ward er zum Tod gebracht.
Fest schritt er aufs Gerüste: »Hier ist der Vortrittmein:
Sagt ihr, es müssen die Gordons überall die Ersten sein.«

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Dahn, Felix. Gedichte. Balladen. Zweites Buch. Maria Stuart und Sir Gordon. Maria Stuart und Sir Gordon. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-6952-D