Max Dauthendey
Neun Pariser Moritaten

[103] Die alte Hetäre Anastasia

Achtzig Jahr sind ihre Beine,
Wackeln im Laternenscheine.
Nachts, wo stinkend Kästen stehn,
Muß von Tür zu Tür sie gehn.
Lumpen sammelt sie auf Gassen,
So viel ihre Säcke fassen,
Schleicht gebückt die ganze Nacht,
Weil der Hunger Beine macht.
Mit Aristokratenhänden
Tut sie jeden Lumpen wenden,
Taxiert ihn auf Goldgehalt,
Denn kein Lumpen wird zu alt.
Unter Asche, Staubpapieren
Kann sich Manches hinverirren,
Was die Welt verachten tat,
Und was trotzdem Taxe hat.
Anastasia, die Großmutter,
Mühsam sucht sie Lumpenfutter.
Freudvoll flucht der alte Mund
Über jeden Lumpenfund.
Nimmt sie Lumpen in die Hände,
Singen sie ihr ganze Bände.
Lumpen sehn sich düster an,
Dunkle Zeiten hängen dran.
[103]
Zeiten, die sich nie vergessen,
Sind auf Lumpen wie versessen.
Anastasia weiß das gut,
Mancher Lumpen klebt wie Blut.
Manchen wirft man fort mit Schimpfen,
Doch der Blick muß sich einimpfen,
Als wär' dir der Lump verwandt,
Kommt er stets dir in die Hand.
Solcher Lump will dich nicht lassen,
Findst ihn in den fernsten Gassen,
Findst ihn jeden zweiten Tag,
Diesen Lumpen, der dich mag.
Heut' in dunkeln Morgenstunden
Hat sich wieder was gefunden.
Jemand sie beim Namen rief,
Daß ihr's kalt im Rücken lief.
Unterm Mond, blauangelaufen,
Stand da Eine, konnt' kaum schnaufen,
Eine Alte, kahl am Hirn,
Einen Schatten um die Stirn.
Fuchtelt mit dem Lumpenhaken,
Lacht mit ausgedorrten Backen,
Reißt Großmutter fast entzwei,
Kreischt laut, daß sie Fatma sei.
[104]
Anastasia tut die alten
Dohlenaugen grinsend falten:
Verdammt, als ob's gestern sei,
Kennt man Fatma am Geschrei.
Fünfzig Jahre sind's und drüber,
Stehn sich wieder gegenüber:
Wird nie ausgetanzt der Ball
Auf der Erde Bettelstall?
Sah sie oft schon nachts hier streichen,
Wollt' gern ihrem Rock ausweichen.
Manche Lumpenzeit nie stirbt,
Gleich wie manch' Lump nie verdirbt.
»Fatma ist nicht auszurotten«,
Tat die Alte kichernd spotten.
»Nur die Zeit, die geht herum,
Und die Flasche bringt sie um.«
Fatma zieht aus tiefster Tasche
Eine abgenützte Flasche,
Ladet Anastasia ein:
»Heute soll ein Festchen sein!
Laß die Lumpensäcke laufen!
Wollen alten Kümmel kaufen.
Lad' dich in mein Kellerloch,
Käserinden hab' ich noch.
[105]
Wollen uns mal bene tuen,
Ganz wie einst in Atlasschuhen,
Wenn wir uns gut prall geschnürt,
Blank geschminkt, laut aufgeführt.
Heute sind wir Klappersteine.
Einmal schwammen wir im Weine,
Und die Welt war Tag und Nacht
Damals nur für uns gemacht.
Öfters zahltest Du die Zechen,
Dafür will heut' ich mal blechen.
Manches schiebt sich lange auf,
Einmal aber kommt man drauf.«
Anastasia, ohne Tücke,
Fühlt der Freundschaft Scherbenstücke,
Mehr noch als der Kümmel lockt,
Das was rings um Fatma hockt.
Jene drallen Jugendzeiten,
Wo sie um die Venus freiten,
Wo sie wie der Mond zur Nacht
Sich geputzt und fein gemacht.
Die Kulisse ist verschoben!
Ach der Mond, der hängt noch oben,
Sieht sie mit dem Hintern an,
Weil er nur noch spotten kann.
[106]
Und die beiden Alten wandern,
Eine an dem Arm der andern,
Kaufen Doppelkümmel, rein,
Schließen sich bei Fatma ein.
In der Fatma Kellerkammer
Finstert's wüst wie Altersjammer.
Für das Wiedersehensfest
Brennt man einen Unschlittrest.
Fahl schaun beide Klapperköpfe,
Sind wie vielgeflickte Töpfe.
Eine stiert die Andre an:
Daß man so sich ändern kann!
Sie, die flottesten Hetären,
Heute zwei Schindangermähren!
Strotzend war einmal ihr Ruhm, –
Nur noch Lumpen gehen um.
Einen Zeitungsknäul sie finden
Und drin alte Käserinden,
Beide kauen ohne Zahn,
Und der Kümmel gibt Elan.
Kümmel schmatzend tun sie schwätzen,
Und der Schnaps und's Unschlitt setzen
Hitzige Gesichter hin,
Und ein Wetter will aufziehn.
[107]
Fatma kreischt: »War ich nicht immer
Ein geschultes Frauenzimmer?
Wog mich auf für schweres Gold, –
Durch die Finger ist's gerollt!
Meine schönen Schulterbogen
Haben Opern überwogen,
Wenn ich in der Matinee
Halbnackt in der Log' mich seh'.
Keinen konnt' die Oper rühren,
Nur mein Fleisch mußt' Jeder spüren,
Und der Blick von jedem Gauch
Hing wie Zangen mir am Bauch.
Weißt du, wenn's mir eingefallen,
Konnt' ich glühen wie Korallen.
Hatte es mir mal beliebt,
Fragte Keiner, was er gibt.
Mancher lebte so geschwinder,
Warf für mich fort Weib und Kinder;
Sah mich einer zärtlich an, –
Ruinierte ich den Mann.«
Anastasia mit Vergnügen
Spricht: »Verdammt tust Du doch lügen!
Doch auch Dich belog die Welt,
Weil sie heut' nicht zu Dir hält.«
[108]
Fatmas Zung' geht wie 'ne Spule,
In ihr schwillt die alte Buhle,
Prahlt vom Schlittennachmittag,
Wo der Schnee mal künstlich lag.
Einer hatte ihr zu Füßen
Tausend Fässer Salz streun müssen;
Von dem Schloß am Waldesrand
Eine Meile in das Land ....
Anastasia unterdessen
Hat sich schweigend heißgesessen,
Etwas reißt sie wie die Gicht,
Und wie Pfeffer brennt's Gesicht.
Schmählich ist's ihr eingefallen:
Diesem Einen unter allen
War es, dem sie sich verschwor –
Fatma doch kam ihr zuvor!
Fatma ist mit ihm verschwunden.
Schwieriger als Todesstunden
War ihr dieser Schicksalsschlag.
Heute noch wurmt sie der Tag.
Schnaps nach Schnaps muß sie schnell trinken,
Weil die alten Wunden stinken.
Überall im Kellerloch
Schleicht jetzt dieser Eine noch.
[109]
Damals dorrten ihr die Brüste.
Keiner mit Verstand so küßte,
Keiner mehr so stark verstund
Einzubrennen seinen Mund.
Hitzig war er wie die Heiden!
Sie ließ ihn mit Wollust leiden,
Wollt ihm darum wiederstehn,
Um sein Herz seufzen zu sehn.
Und im Grund mußt' man sich schämen,
Tadellos war sein Benehmen.
Dralle Schweine waren wir,
Und er immer Kavalier.
Fatma, mit den Heuchelbrüsten,
Konnt' mir diesen Mann verwüsten!
Sah, wie ich für ihn geschwärmt,
Hat ihn sich mit Kunst erwärmt.
Heut' noch läg' er mir zu Füßen –
Scheusal Fatma, sollst mir's büßen!
Mache sie zu kaltem Aas,
Weil sie sich an mir vergaß.
Und die Alte muß ausspucken:
Diese Fatma will ich ducken!
Dieses soll mein Festlein sein,
Heute ist die Rache mein.
[110]
Anastasias Augen stechen,
Ihre Hände wollen rächen ....
Schnell fliegt's Schnapsglas an die Wand,
Als ob sich ein Gift drin fand.
Und nach langen fünfzig Jahren
Tut ein Feuer in sie fahren.
Keiner wußte wie's geschah –
Mundoffen schweigt Fatma da.
Aufrichtet sich stier die Alte,
Blut brennt ihr in jeder Falte,
Und zum Schlag holt aus der Blick –
Fatma fröstelt's im Genick.
Aus dem Kiefer, aus dem hohlen,
Fällt das kleine Wort »gestohlen«:
»Ja, gestohlen hast du ihn!«
Anastasia schleudert's hin.
Ihre Fäuste, ihre steifen,
Nach dem Lumpenhaken greifen.
Ehe Fatma noch konnt' schrein,
Schlug das Eisen wütend ein.
Dann hört man's nur einmal klatschen,
Als tät eine Tür zupatschen.
Fatma fiel zur Diele tot,
Und die Bretter wurden rot.
[111]
Anastasia, nicht zufrieden,
Läßt ringsum die Rach' aussieden.
Stühle, alles was sie fand,
Links und rechts fliegt's an die Wand.
Sprühendheiß sind ihre Glieder;
Bei der Leiche hockt sie nieder,
Und sie pufft sie dann und wann,
Zählt ihr auf, was sie getan:
»Glaubst du, Liebe läßt sich narren?
Alle sollten Gold dir karren!
Stahlst mir frech das Allerbest!
Finster ist mein Lebensrest.
Tatst mir seine Lippen schmatzen,
Schielend nur nach seinen Batzen!
Dieser Eine, er war mein, –
Stecktest dir ihn auch noch ein!
Konnt' dir kein Gewissen klopfen?
Gabst ihm geile Liebestropfen.
Hast an Liebe nie geglaubt,
Nur wie Elstern Gold geraubt.
Denk' ich heut' noch meiner Qualen,
Kann's dein Leben nicht bezahlen.
Dafür ist dein Tod zu klein,
Solltest tausend Mal tot sein.
[112]
Mein Herz ward zur Schinderkammer.
Widerlich lag drin mein Jammer.
Lange hebt man so was auf,
Einmal aber stößt man drauf.
Lebt ein Mensch auch unter Lumpen,
Keiner soll sein Ich verschlumpen.
Auch beim kleinsten Lebensstrund
Schmeckt die Rache stets gesund.«
Anastasia muß sich schneutzen,
Schatten an den Wänden kreuzen,
Paffend geht das Unschlitt aus,
Als ging Mordlust aus dem Haus.
Eine Weil' tut's Licht noch fackeln,
Und die Kammer scheint zu wackeln;
Anastasia starrt hinein,
Nickt erschöpft beim Leichnam ein.
Weiß nicht mehr, nach wieviel Stunden
Hat sie endlich heim gefunden;
Reulos ging sie von dem Ort.
Ungerächt blieb dieser Mord.
Wär' es auch herausgekommen,
Feig' hätt' sie sich nicht benommen.
Töter macht nicht das Schaffott,
Ist man schon im Grunde tot.

[113] [115]Leda auf den langen Stühlen

[115][117]
Leben ist so eingerichtet:
G'scheit ist Jedermann im stillen,
Doch wer noch so klug es sichtet,
Handelt dumm meist widerwillen.
Hast Du Dir auch vorgenommen,
Dunkle Kräfte nicht zu leiden,
Fühlst sie mit verstopften Ohren.
Denn Gefühl läßt sich nicht meiden.
Leda war bei der Gesandtin
Zu Besuch, mit Gönnermiene.
Sah sie Einen und erfand ihn
Lieb, genoß sie's mit Routine.
Immer lag auf langen Stühlen
Sie in den Salons herum
Und ließ ihre Wimpern fühlen,
Wie ein Impfer sein Serum.
Lange Stühle wie Altäre
Trugen festlich Ledas Glut.
Wenn der Stuhl mal kürzer wäre,
Machte es sich nicht so gut.
Ledas indische Muss'line
Hüllten gutgepflegte Reize,
Und verkappt lebten die Sinne,
Wie die Falken bei der Beize.
[117]
Hatte sie mal klar bekommen,
Wen sie wünschte sich als Sieger,
Hat sie Rücksicht nie genommen,
Machte Jünglinge zu Tiger.
Nun bei der Gesandtin sollte
Heut' man eine Hochzeit geben.
Ihre Tochter trauen wollte
Einem Grafen man fürs Leben.
Sorglos kam man vom Altare,
Spät erhob man sich vom Mahle.
Leda dann wie Liebesware
Auf dem längsten Stuhl im Saale
Sich hinlegt; tut mit den Wimpern
Durch die festerhitzte Menge
Nach dem Bräutigame klimpern –
Diesen zieht es aus der Enge,
Fühlt gleich seinen Absatz wanken,
Hört laut seine Lackschuh knarren,
Sieht, daß sie ganz in Gedanken
Mit ihm fortgegangen waren.
Leda hat mit schwüler Wange
Kaum ihr Auge aufgehoben,
Und die Hochzeitsnacht ward lange,
Wenn nicht ewig, dann verschoben.
[118]
Weil sich Ledas Augen dehnen,
Fühlt er seines Blutes Schwächen,
Sieht am langen Stuhl sich lehnen,
Möcht' den langen Stuhl zerbrechen.
»Heute Nacht laß mich nicht warten,«
Läßt sich Ledas Stimm' vernehmen,
»Rechts der Pavillon im Garten«, –
Nochmals tat ihr Aug' ihn lähmen.
Dann erhob sie sich vom langen
Stuhl, er durft' sie nicht berühren,
Ist vom Bräutigam gegangen;
Der konnt' kaum die Braut noch spüren.
Wackelnder als ging's auf Eier,
Schlug sein Herz, das Neugetraute,
Daß ihm vor der Hochzeitsfeier
Hinterm Hochzeitsfracke graute.
Abends nach dem Feuerwerke,
Als sich alles retirierte,
Fühlt der Bräutigam die Stärke,
Daß er Leda gern düpierte.
Schleunig schrieb er ein Paar Zeilen,
Schlich dann völlig ungesehen
Hin, wo sich die Wege teilen
Und zum Pavillone gehen.
[119]
Will die Absag' auf der Stelle
Durch die Ritz' der Türe schieben,
Aber einmal vor der Schwelle,
Ist es nicht dabei geblieben.
Selbst durchs Brett der weißen Türe
Sieht er brenzelig ein Funkeln,
Als ob's aus der Hölle führe –
Ledas Augen sind's im Dunkeln.
Und sein Blut schlägt Narrenflammen,
Drückt die Hand auf die Türklinken;
Hinter ihm stürzt was zusammen, –
Ach, sein Brautstand tat versinken.
Schnell steht er im Handumdrehen
In dem Pavillon, dem großen,
Muß im Dunkeln weitergehen,
Einen langen Stuhl umstoßen.
Er greift zu mit beiden Händen,
Leda tut vor Wonnestöhnen –
Es war nicht mehr abzuwenden,
Er muß ihrer Liebe fröhnen.
Wenn er nur Gedanken hätte –
Aber Liebe kann nicht denken,
Denkt nicht an die Braut, die nette.
Widerwillen muß er kränken.
[120]
Nie mehr hat er heimgefunden,
Floh mit Leda vor dem Morgen,
Widerwillig schlug er Wunden
Und macht' andern Leuten Sorgen. –
So kann's Leben an Dir handeln,
Ganz wider Dein Grundbenehmen.
Tut es so mit Dir anbandeln –
Sollte sich das Leben schämen.

[121] [123]Der Metzgerlehrling Paul

[123][125]
Schön und nicht nur obenhin
Schien dem Paul die Metzgerin.
War er auch der Lehrling nur,
Trug er doch schon Schnurrbartspur.
An der blut'gen Schlächterbank
Machten ihn zwei Augen krank.
Schlug er Kälber ins Genick,
Leicht trug er den Todesblick.
Doch das Aug' der Metzgerfrau
Machte ihm den Blick voll Tau.
Und der Schleifstein fiel ihm hin,
Dran ers Messer sollt' abziehn.
Eingeweid' kroch um ihn her,
Kalb und Schwein verwechselt er.
Sieht die Metzgerin ihn an,
Unser Paul gleich sterben kann.
Und mal, mittags war's, im Laden
Seine Lehrlingskameraden
Neckten ihn: er wär' wie Teig,
Und vielleicht im Grunde feig.
Sie saß grade an der Kassen,
Und der Paul, er mußt' erblassen:
»Wollt Ihr einen Spaß schnell sehn?«
Rief er, tat das Messer drehn.
[125]
Stieß sich's bis ans Heft ins Herze
Und fiel um, bleich wie 'ne Kerze.
Denn er wußte schrecklich gut,
Nur der Tod beweist den Mut.
Was half's, daß die Metzgerin
Tausend Schreie schreit um ihn!
Nichts mehr seine Leiche rührte,
Wenn er's noch so gern auch spürte.

[126] Die Dame und das Grammophon

[127][129]
Einmal, in der Sommerfrische,
Stand auf einem Gasthaustische
Schön poliert ein Grammophon,
Dieses hatte Menschenton.
Prächtig schrie sein Blechzylinder.
Solches lockt zuerst die Kinder,
Doch auch Damen ist Geschrei
Nicht so gänzlich Einerlei.
Manche stand mit langem Halse
An dem Trichter und der Walze.
Denn nicht Jeder sieht gleich, wie
Vor sich geht die Melodie.
Keiner glaubt von diesem Dinge,
Daß es Stimmen fertig bringe.
Niemand gar vermutet hätt',
In dem Dinge ein Quartett.
Ist 'ne Nummer abgelaufen,
Darf man sich 'ne andere kaufen.
Und weil es die Walze kann,
Kommt auch ein Tenor daran.
Der Tenor brüllt aus dem Trichter,
Und verzückt sind die Gesichter.
Manche Dam' hätt's gern heraus,
Wie sieht der Tenor wohl aus!
[129]
Und mein Gott, wer hätt's erwartet!
Schicksale sind abgekartet!
Eine Dame – das kommt vor –
Wird besessen vom Tenor.
Ach, er singt so unverfroren
Sich ins Herz ihr und die Ohren.
Aus der Walze, die sich schiebt,
Singt ein Mann, den's nicht mehr gibt.
Ihn, der einst hineingeschrieen,
Möcht' die Dame an sich ziehen;
Und die Dam', mit einem Wort,
Geht nicht mehr vom Trichter fort.
Ach, total tut sie erwarmen,
Möcht' den Trichter fest umarmen.
Endlich kauft sies Grammophon.
Hätt' sie nur was mehr davon!
Aber ich darf's nicht verhehlen,
Sie tat nur die Nachbarn quälen.
Kaum kam der Tenor ins Haus,
Stirbt ein jedes Stockwerk aus.
Und auch sie wär' dran gestorben,
Wärs Gehör nicht erst verdorben.
Jetzt ihr's nicht mehr schaden kann,
Denn sie wurde taub daran.
[130]
Doch weil sie nicht blind, die Tauben,
Schraubt sie weiter an der Schrauben,
Schont auch gar nicht den Tenor,
Bis er seine Stimm' verlor.
Wenn sich auch die Walzen drehen,
Kein Tenor tut mehr entstehen;
Denn das Grammophon, das hat
Endlich mal die Sache satt.
Nur die Dam' ist noch vorhanden.
Und nach Jahren noch, da fanden
Wir sie an dem Grammophon
Horchend und verzückt davon.
Keiner könnt' es ihr beibringen,
Daß die Walzen nicht mehr singen.
Trotz sie taub auf jedem Ohr,
Hört sie heut' noch den Tenor.

[131] [133]Die Gouvernante Esther

[133][135]
Ein kleines, ganz winziges Zimmer
Sieht oben vom Dach auf die Welt.
Im Fenster liegt Abendgeflimmer.
Keins ahnt, was das Zimmer enthält.
Im Zimmer da sitzt Fräulein Esther,
Gouvernante von unten im Haus.
Sie preßt ihre Zähne noch fester,
Denn traurig sieht's rings um sie aus.
Zum Teufel man soll's ja nicht sehen!
Die Leute sind so ideal!
Die Esther liegt nämlich in Wehen,
Die Wehen, die werden fatal.
Die Esther, die preßt ihre Hände,
Die Esther verzerrt ihr Gesicht.
O Gott, wenn so Jemand sie fände!
Auf Sitte legt jeder Gewicht.
Besonders beim Stande der Lehrer –
Die Esther, sie preßt auf den Mund
Aus Marmor den Briefebeschwerer,
Der erst auf dem Schreibtische stund.
Gottvater, sie darf ja nicht schreien!
O Himmel, Du ahnst es wohl nicht,
Wie schwer heut' die Menschen verzeihen. –
Ach, Lieb' ist nicht nur ein Gedicht!
[135]
Die Lieb' ist entsetzlich zu tragen!
Und hauptsächlich, wenn was entsteht.
Und Niemandem darf man es sagen,
Wenn's nicht standesamtlich hergeht.
Denn alle es stündlich betonen:
Vermeide Geschichten mit Herrn!
Und hier gleich danebenan wohnen
Nähmädchen, die horchen so gern.
Kein Seufzer, kein Schrei darf hindringen.
Die Zungen, die schlügen mich tot. –
Die Esther, sie fängt an zu singen,
Sie singt im Gesang sich blaurot.
Sie singt hohe Coloraturen
Und singt viele Volkslieder laut;
Erleidet gebärend Torturen,
Weil sie sich zu schreien nicht traut.
Daneben die Nähtermaschinen,
Die poltern und stampfen, gottlob!
Sie rasseln wild überm Verdienen,
Daß leis' sich manch' Seufzer dreinschob.
Und dann singt sie wieder hinreißend,
Sie denkt: ach, die Lieb' war es wert,
Wenn man, seine Schmerzen verbeißend,
Im Singen die Kinder gebärt.
[136]
Denn Liebe kann mächtig erheben
Und klein ist dagegen das Leid.
Die Menschen, die nie was erleben,
Die urteilen auch nicht gescheit.
Nur spät erst in nächtlichen Stunden,
Da haben, voll törichter Scham,
Die Nähmädchen Esther gefunden,
Als ihr schon das Sterben ankam.
Die Mädchen, sie hörten im Winde,
Der nachts um die Dachstuben strich,
Die Stimme wie von einem Kinde,
Die nicht von den Ohren mehr wich.
Erst glaubte man, 's käm vom Kamine.
Da horchte man bald an der Wand.
Die Jüngste, genannt Josephine,
Am schnellsten die Sache verstand.
»Daneben hats Fräulein geboren,
Durchs Schlüsselloch sah ich's im Gang.«
Sie rief es, rot bis in die Ohren,
Weil's doch gar so aufregend klang.
Die Esther, gestorben im Singen,
Lag neben dem Sopha in Ruh'.
Im Hause die Klatschmäuler gingen,
Und kein Mund im Haus ging mehr zu.

[137] [139]Die Hochzeithemden Frida und Heinerich

[139][141]
Bett an Bett, zwei Betten standen,
Drauf sich zwei Pakete fanden.
Frische Wäsche war darin.
Zwei legten sie vorhin hin.
Diese Zwei sind dann gegangen.
Und mit Blicken, mit schmerzlangen,
Schieden sie vom Zimmerort.
Denn man ging für immer fort.
Und in den Paketen drinnen
Lagen Hemden, zwei aus Linnen.
Eines davon war ein Herr,
Doch das andere weiblicher.
Beide Hemden sich gut kannten
Und sich laut beim Namen nannten.
Das, vom Herrn, hieß Heinerich,
Frida rief das andere sich.
»Heinerich, was soll's bedeuten?
Was geht vor mit unsern Leuten?
Etwas muß im Gange sein,
Man schließt uns hier seltsam ein.«
»Frida, mußt Dich nicht erschrecken,
Sonst kriegt Leinewand Stockflecken.
Sieht mans Leben zu genau,
Wird leicht jeder Faden grau.«
[141]
»Heinerich, mir wird's so eigen!«
»Frida, später wird sich's zeigen.«
»Heinerich, mir wird so schwül!«
»Echte Leinwand, Weib, bleibt kühl.«
»Heinerich, ich fühl ohn' Ende
Jene Finger jener Hände,
Jenes Blut, das mich sonst wärmt,
Schien mir heute so verhärmt.
Heute stehn wir vor dem Tode!
Gestern noch in der Kommode –
Heinerich, wer hätt's gedacht,
Leichen schmücken wir zur Nacht.«
»Frida, was treibt Dich zu Schlüssen,
Die sich erst beweisen müssen?
Unser Leben war nie schwer,
Lustig ging's stets in uns her.
Denk' nur an die Hochzeitshitzen,
Die in unseren Fäden sitzen!
Dampfend lag Dein Spitzenlatz
Oft an meinem Brusteinsatz.
Frida, mach' nicht mehr Grimassen!
Man muß Dich sonst bügeln lassen«.
»Heinz, etwas ins Zimmer tritt,
Kalt wie einer Schere Schnitt.
[142]
Eiskalt werden meine Spitzen.
Siehst Du es am Bett nicht sitzen?
Ach, ich sehe es genau,
's ist der Tod mit seiner Frau.«
Beide Hemden, unter Zittern,
Bei dem Bett den Tod kalt wittern.
Und es krachte jede Naht,
Weil der Tod sie schütteln tat.
Horch! Ein Poltern auf den Treppen.
Männer jetzt zwei Leichen schleppen.
Frida kannte sie sogleich,
Und auch Heinerich wird bleich.
Denn der guten Hemden Leute,
Gar zu mies ging's ihnen heute.
Elend sucht den Tod, weil's muß –
Tot zog man sie aus dem Fluß.
In derselben Nacht im Zimmer
Lagen Zwei im Bett wie immer;
Eins im Tode, außen fremd,
Schmückte sie ihr Hochzeitshemd.

[143] [145]Johanna mit der Rumflasche

[145][147]
Die Zeit hat viele Beine,
Zwei kannst Du an Dir sehn.
Zum Kommen ist das eine,
Das andere zum Gehn.
Ist Jemand fortgegangen,
So sieht man sich allein.
Hast Du an ihm gehangen,
Fallen Dir Tränen ein.
So weinte auch Johanna,
Beweinte ihren Franz.
Ihr Herz, sonst süß wie Manna,
Verbitterte sich ganz.
Am Sarg saß sie daneben
Mit Tüchern in der Hand.
Und Tränen wollt' sie geben,
Bis ihr das Aug' leer stand.
Dann hat sich ein Gedanke
Zu Hanna hingesetzt.
Er pufft sie in die Flanke,
Sie hat's nicht unterschätzt.
Sie sammelt sich entschlossen
Und nickt voll Seelenruh'
Ihm, der sie angestoßen,
Verständnisinnig zu.
[147]
Sie nimmt ein Kohlenbecken,
Füllt's mit Holzkohlen an.
Den Tod soll das bezwecken,
Wenn man nicht anders kann.
Am Fensterbrett, da lachen
Die Blumenstöck' ihr zu;
Gelbe Kanari machen
Laut singend viel Getu'.
Und daß der Tod vollkommen,
Trinkt sie 'nen Liter Rum.
Der Tod hat Platz genommen,
Und doppelt kam sie um.
Zu Franz kam dann Johannen
Im Himmelbette an.
Niemand durft' sie verdammen,
Da sie's aus Lieb' getan.
Nur ist ihr Himmelsnäschen
Jetzt rot – Franz lächelt stumm.
Sie leert noch oft ein Gläschen,
Gewöhnt ans Liter Rum.

[148] Kasian

[149][151]
Schrecklich viel darauf beruht,
Wenn die rechte Hand nicht weiß,
Was die linke Hand Dir tut.
So erging es Kasian.
Stets gedenkt er siedend heiß,
Was zwei Hände ihm getan.
Zum Verzweifeln häßlich ist er.
Nur daß nichts er dafür kann.
Hebammen sind manchmal Biester,
Sie ist Schuld am Kasian.
Über sie er heut' noch murrt,
Ihre Hand tat es ihm an.
Sie zog auf die Nachgeburt
Und warf fort den Kasian.
Aus Versehen es geschah,
Daß man's nicht mal strafen kann.
Ach, so häßlich steht er da,
Schon von Weitem denkt man dran.
Nachgeburten sind kaum Wesen!
Fort warf man den rechten Mann.
Schöner wär' er sonst gewesen.
Scheußlich ist jetzt Kasian.
Immer wirkt er nur als Rest.
Glücklich er nie werden kann.
Heut', am Nachgeburtstagsfest,
Tötete sich Kasian.
[151]
Seele ganz und ohne Leib
Fühlt er sich jetzt würdig an.
Fand im Himmel gleich ein Weib,
Das ihn seelisch lieben kann.
Nur der Erde bleiben fern
Leute wie der Kasian.
Reste hat die Erd' nicht gern.
Glück macht nur ein ganzer Mann.

[152] Die Bettlerjungfrau Fifine

[153][155]
Heute früh, im nebelnassen
Morgen rückten durch die Gassen
Heulende Fleischklumpen an.
Menschen man nicht sagen kann.
Eine wüste Bettlerherde
Schwoll an wie der Schlamm der Erde,
Als ob reif, mit einem Schrei,
Ein Geschwür geborsten sei.
Und die eleganten Straßen
Schienen kaum den Kot zu fassen.
Der Geschäftsgang stockte still.
Jeder fragte, was das will.
Tausend Mäuler voll Gegreine,
Menschenstummel, ohne Beine,
Schoben, karrten sich heran.
Wie ein Lumpenberg kam's an.
Vor dem Polizeigebäude
Sammelte sich an die Meute,
Unheimlich und trauervoll,
Keiner wußte, was das soll.
Drunter die Dämonenalten
Schienen stutzig Rat zu halten,
Fragten endlich, scheu versteckt,
Nach dem Polizeipräfekt.
[155]
Schwierig sie die Rede bauten,
Die sie erst wie Speichel kauten.
Nur das Eine wurde klar:
Irgendwo 'ne Jungfrau war.
Von der Jungfrau war die Sprache
Und von einer Mördersache.
Endlich schrie sich Jemand rot:
»Unsere Jungfrau, die ist tot!
Tot ist sie, tot ist Fifine!«
Tausend schrien's mit einer Miene.
Ein Geheule wüst entstand,
Als käm's Weltend' in das Land.
Weiter tat sich's klar dann machen:
Gestern konnt' Fifin' noch lachen,
Heute früh liegt Fifin' tot,
Grauerwürgt im Morgenrot.
Die Fifin', die eine, ihre
Bettlerköchin im Quartiere,
Sie, die in der Garküch' stand
Von dem Betteleiverband.
Unsterblich ist sie gewesen,
Nicht nur durch gekochtes Essen,
Mehr noch durch die Jugendkraft
Und die holde Jungfraunschaft.
[156]
Fifin' war am heutgen Tage
Unbedingte Lebensfrage.
Soviel ward allmählich klar,
Daß ihr Tod nicht richtig war.
Noch mußt' man den Mörder missen.
Wer hat sie auf dem Gewissen?
Und es sprach sich scheu herum:
Ungerächt geht sie jetzt um.
Keiner konnt' den Mörder raten,
Selbst nicht Polizeisoldaten.
Und man murrte schon darob,
Als sich Jemand vorwärtsschob.
Übernächtig in den Haaren,
Drängte Jemand durch die Scharen.
Auch sein Inneres, verstört,
War, als ob's ihm nicht gehört.
Seine Arme, die erschreckten,
Hängten sich um den Präfekten.
Schreiend klappt er in die Knie:
Unschuldig wär' er wie nie!
Aufrichtig mit ganzer Miene
Schwur der Mörder von Fifine:
»Niemand hat den Mord gemacht.
Liebe hat sie umgebracht.«
[157]
Alle sollten es nur wissen:
Niemand hat sie am Gewissen,
Tot lag sie mit stummem Mund
Schon in erster Morgenstund'.
Nämlich Jeden ließ sie schwitzen,
Jeder wollte sie besitzen.
Alle diese Bettelleut'
Hatten sich um sie gebläut.
Endlich mußte man sich einen:
Lieben sollt' Fifine Keinen,
Jungfrau bleiben, vorderhand,
Für den Betteleiverband.
»Doch ich kann's nicht mehr verhehlen,
Heimlich tat sie sich vermählen,
Und ich bin der Jungfrau Mann,
Der sie nur beweinen kann.
Gestern traute uns ein Pater.
Abends war'n wir im Theater.
Wunderschön war es darin,
Wollten heute wieder hin.
Wohl ist Liebe nicht zum Lachen,
Fifin' nahm zu ernst die Sachen.
Jeden Augenblick sie schwor:
So was Schön's käm' nie mehr vor.
[158]
Sonst tat sie nur immer kochen
Alle Tage, alle Wochen.
Nicht weil sie nach Essen roch,
Hielt sie jeder Bettler hoch.
Sie stand in der Bettlerküchen
Über allen den Gerüchen,
Schon ihr Anblick hat genährt,
Heilig wurde sie erklärt.
Reichlich gab sie zum Erbauen
Brüste, Wangen, schön zu schauen.
Ich vertiefte mich mit Lust –
Keiner hat das End' gewußt.
Hör' sie noch ins Ohr mir sagen:
Jede wäre zu beklagen,
Die nicht eine Nacht bekäm' –
Auch, wenn's bös' ein Ende nähm.
Während alle Pulse rasen,
Rief sie lachend in Extasen:
Möglich ist's, daß ich am Tag
Jetzt nie wieder kochen mag.«
Liebe, die vergoldet Lumpen.
Fifin' rief's bei Talglichtstumpen:
»Küßt Du mich, wird's allemal
Hell wie im Theatersaal.«
[159]
»Und kein Kuß ging ihr daneben.
Ihr Lieb' mußt man erleben.
In und um sie, ohne Maß,
Überall ein Herz ihr saß.
Erst im frühsten Morgenschlummer
War's, als preßte mich ein Kummer.
Als ob etwas drückt aufs Dach,
Wurde ich beklommen wach.
Schrecken riß mich fast in Fetzen,
Eiskalt saß ich im Entsetzen.
Grau, wie's Licht vom frühen Tag,
Fifins Leiche bei mir lag,
Mit dem Lächeln ohne Gleichen,
Unwahrscheinlich wie nur Leichen. –
Schnell ich einen Ruck mir gab
Und sprang auf wie aus dem Grab.
Nichts wollt' sich an Fifin' rühren.
Furchtbar war ihr Tod zu spüren.
All mein Schrein blieb ohne Zweck –
Meine Füße rannten weg.
Und ich lief und kann's nicht nennen,
Wie und wohin ich tat rennen.
Vorwärts lief ich ohne Ziel,
Hinter mir lag's leichenstill.
[160]
Hab nochs Aug' voll Totenflecken,
Seh' die Stadt voll Leichen stecken.
Und ich bitt' Euch: nehmt mich auf,
Daß ich nicht ins Wasserlauf'!«
Jenem Mann, der so gesprochen,
Hing die Kinnlad' wie gebrochen.
Alle sahen es ihm an:
Lügen sind da keine dran.
Der Präfekt sprach: »Meine Herren,
Keiner darf sich hier beschweren.
Ist das Leben mal vorbei,
Nützt Euch keine Polizei.
Geht jetzt heim, Ihr guten Leute!
Fifin' ward der Liebe Beute.
Die Natur 's nicht Jedem gibt,
Daß er so wie Fifin' liebt.«
Und gleich feuchten Brunnensteinen
Sah man Tausend lautlos weinen.
Jedes Herz ward Fifin's Grab,
Jammernd senkt man sie hinab.
Heimwärts dann die Bettler krochen,
Weiterschleppend ihre Knochen.
Aber jeder Bettelblick
Trug verklärter sein Geschick.
[161]
Stolz gab Jeder Dir zu lesen:
Fifin' ist dran schuld gewesen,
Daß man dort, wo's elegant,
's Herz gezeigt vom Bettlerstand.
Trotz des Stankes und des Schimmel
Hat der Ärmste einen Himmel.
Lieb' macht selbst 'ne Bettlerin
Zu des Tages Königin.
[162]

Notes
Erstdruck: Die Ammenballade. Acht Liebes- Abenteuer - Neun Pariser Moritaten, München (Bonsels) 1907.
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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Dauthendey, Max. Neun Pariser Moritaten. TextGrid Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-725B-1