[35] Sineds Klagen

Erste Klage 1

Schauerndes Lüftchen! woher?
Trüb ist der Tag. In dem entblätterten Haine
Weder Kehle noch Fittig. Kein Schwan berudert den Teich.
Voll der Winterbilder sitz' ich einsam
Auf mein Saitenspiel gelehnet,
Da kömmst du, Lüftchen! schwirrest mir
So kläglich, so kläglich die Saiten hindurch.
Ist es nicht Hauch des Grabes?
Ist es nicht Sterbeton?
Hat uns ein Held, ein Barde verlassen?
Schauerndes Lüftchen! woher?
Von dem Gestade der düsteren Pleiße
Komm' ich, o Barde! zu dir. Dort hab' ich geflattert
Um Gellerts Grab.
[36]
In Blumen konnt' ich nicht seufzen;
Noch öde steht, bis ihn der Lenz
Mit Blumen deckt, des Grabes Hügel.
Ich hab' in blätterlosen Sträuchern
Umher geseufz't.
Lüftchen, genug! Kein stürmender Nord
Soll dich verschlingen, zärtlicher Trauerbot'!
Und ihr hinab, Saiten! hinab
Zur dumpfen, grabetiefen Todesklage!
Er ist hin, euer Lehrer, Kinder Teuts!
Er ist hin, euer Führer, Bardenchöre!
Er ist hin, dein Verkünder, Tugend!
Deine Freude, Jüngling! Mädchen! deine Lust.
In der Pleiße Rauschen
Quollen seine Lieder.
Ach, die Pleiße rauschet;
Aber nimmer, nimmer
Quillt von ihm ein Lied darein!
Seufzet, Ufer!
Blumen an den Ufern
Erlenschatten an den Ufern!
Nimmer, nimmer quillt von ihm ein Lied darein!
[37]
Vom Tannenberge wälzet sich manch' trüber Gießbach 2
Und nun entspringt am Fuße des Berges
Ein laut'rer, himmelheller Quell.
Schnell hüpfen die Kinder des Waldes
Vom trüben Gießbach', und trinken den Quell:
So zogst du die dürstenden Völker an dich. –
Die Bienenköniginn sammelt ihr zahllos Heer,
Und führt es auf Wiesen voll Frühling's,
Und jede vom Heere
Kömmt honigträchtig zurück:
So setztest du den Söhnen Teuts
Die Süße deines Herzens in Bardenlehren vor!
Und dieses Herz durchgrub des Todes Stachel!
Trauert, ihr Völker! trauert, ihr Söhne Teuts!
Der Quell ist versiegt! der Frühling erstorben!
Ein Jüngling war ich, und jeglicher Trieb
Zur vaterländischen Bardenkunst
[38]
Lag noch in meiner Brust in zweifelndem Schlummer.
Ich hörte dein Lied, und jeglicher Trieb
Entriß sich dem zweifelnden Schlummer 3
Und horchet mir itzo mein Vaterland,
Und thuen mir ältere Barden
Ihr freundliches Herz auf,
Und schändet meine Scheitel
Den heiligen Eichenzweig nicht,
Dir bin ich es schuldig. O nimm, was ich vermag,
Ein Lied und Thränen! –
Aber hinauf, Saiten, hinauf
Zur hellen, himmelhohen Zukunft!
Mein Auge durchstrahlet das Wintergewölk',
Erblicket ihn, den satten Lebensgast,
Unter den Barden der Vorwelt.
Ein großes Erstehen
Von allen Wolkensitzen
Dem Lehrer der Tugend,
[39]
Dem Sittenverbess'rer,
Dem Feßler der Herzen,
Dem holden, menschenfreundlichen Weisen.
Wie dünnere Frühlingsnebel
Von der gebärenden Flur,
So schwindet die zärtliche Schwermuth
Von dem Gesichte des Barden.
Aus den Umarmungen ewiger Sänger
(Ach nicht ewig für uns! Die neidische Zeit
Entriß uns ihre Sitten, ihr Lied,
Ihr Lied in freien Eichenhainen,
Ihr Lied im Mahle tapfrer Fürsten,
Ihr Lied im lauten Schlachtgetümmel
Unter bemaleten Schilden
Hervorgebraust!) 4
[40]
Aus den Umarmungen dieser Sänger
Blicket er lächelnd herab
Auf sein geliebtes, erdewallendes Geschlecht,
Und sieh't sich von Enkel zu Enkel
In seinen Gesängen hinwieder geliebt, verewigt;
Und höret die Kinder der Fremden
Am Rhein und am Po
In ihren Zungen 5 seine Lehren wiederholen,
Und Deutschland segnen, dem der Himmel
Einen Gellert gab.
Also mein Lied zur traurigen Wintergegend.
Aber du, Lüftchen! bist du noch hier
Im blätterlosen Ahorngange,
So nimm dir die besten Töne daraus,
Und decket der kehrende Lenz
Den Hügel des Barden mit Blumen,
Dann seufze sie nach in jenen Blumen,
Derer Haupt am Hügel
Schwerer und gesenkter ist.

Fußnoten

1 Ueber Gellerts Tod.

2 Die deutschen Fabeldichter vor Gellert.

3 Das erste, was dem Dichter aus der Hallerischen Epoche zu Gesicht kam, waren Gellerts Fabeln.

4 Celebrant germani carminibus antiquis (quod unum apud illos memoriae et annalium genus est) Tuistonem Deum terra editum, et filium Mannum, originem gentis conditoresque. – Ituri in proelia canunt. Sunt illis haec quoque carmina, quorum relatu quem Barditum vocant, accedunt animos etc. Tacit. Germ. C. 2 et 3.

5 In französischen u. italienischen Uebersetzungen.

[41] Zweite Klage

Traurig ist der Tag!
Von der Himmelstochter
Blicken ungetröstet
Dämmert er dahin.
Graue Nebelsäulen
Steigen von Gebirgen.
Endlos ist der Wolken Zug. –
Ha, du bist von meinem Herzen,
Tag, ein Bild!
Traurig ist mein Herz. –
Hat im deutschen Vaterlande
Je sein Volk ein Barde
Mehr geliebt, als ich,
O so reiße diese Saiten,
Von der Schwermuth schlaff gelassen,
Unter meinen Griffen
Unsichtbare Kraft entzwei!
Und dennoch – ach der Zeiten! –
Empört sich mir ein Lied im Herzen,
[42]
Und greif' ich nach dem Harfenspiele,
Sey's in der Winterhalle,
Sey's in der Eiche Schatten,
Und steh'n die Kinder meines Volkes
Dem Liede lauschend her um mich;
Und hat das Lied nun ausgequollen,
Dann seh' ich manches Nackenschütteln.
Dann hör' ich manches Hohngeflüster:
»Die Fremden singen besser.
Wer mag sein Lied versteh'n!«
Dann sinkt mein Haupt auf's Harfenspiel.
Ein Seufzer reißt sich aus der Brust,
Und jede Saite winselt
Ihm leise leise nach.
Kinder meines Volkes!
Soll ein deutscher Barde singen,
Und sein Herz wüßte nichts davon?
Ist die Wolke nicht des Blitzes,
Und das Herz nicht der Lieder Sitz?
Und wie geußt ein volles Herz sich aus?
Strömt es nicht drängend und gewaltig,
Unaufhaltsam, seelenfassend
Seinen Inhalt fort?
[43]
Spricht es nicht Heldensprache, Geistersprache? –
Ha! »Wer mag sein Lied versteh'n!«
Kinder meines Volkes! jener,
Der Allvaters hohe Gabe,
Der den Funken des Gefühles,
Der den Saamen der Empfindung,
Als er ward in ihn geleget,
Nicht ersticket hat.
Kinder meines Volkes!
Ein verderblich Wort
Haben euch die Fremden angehauchet.
Dieses Wort kannten eure Väter nicht.
Barde! sprachen eure Väter:
Gib uns Liebe, gib uns Klagen,
Gib uns Lust zu großen Thaten,
Gib uns Muth für's Vaterland zu sterben!
Keiner sprach: Gib uns Witz!
Witz ist eine kalte Wasserblase,
Die sich an der Sonne färbet,
Und zerschellt,
Witz ein frostiges Behagen,
Das mit Träumen niedersteiget,
[44]
Und am Morgenstrahle schwindet.
Schmelzet Witz ein Herz?
Röthet Witz die Wange?
Locket Witz die Thränen?
Und soll Witz, soll Witz im Liede seyn?
Und könnte denn nicht auch Sined vor euch
Mit kalten Wasserblasen sich äffen?
Und könnt' er nicht auch
Ein frostig Traumbehagen euch schaffen? –
Aber sein Herz gibt ihm ein lautes Verbot.
Greis Ossian in dem Geleite
Der Barden und Skalden besucht ihn.
Er höret am schweigenden Monde
Gesänge vergangener Alter,
Wie kann er?
Harfe! daß noch etwa Zeiten kommen
Uns'rer Arbeit hold.
Daß noch etwa Menschen sprechen:
Uns're Väter haben Sined,
[45]
Und sein Lied verkannt.
Aber eines Neugeweihten 1
Bist du dann vielleicht,
Und auf meinem Hügel
Sprossen Ringelblumen,
Sprosset lange Wermuth auf.

Fußnoten

1 In der Bardenkunst.

[46] Dritte Klage

Auch dieses will ich, Vaterland! dir klagen,
Dein ewigtreuer Sohn.
Vielleicht daß einstens klüg're Zeiten sagen:
Dieß klagte Sined schon.
Ebrauset, Saiten! der gerechte Kummer
Des Barden ist empört.
Ich will euch kränzen, wenn ihr mir den Schlummer
Getäuschter Aeltern stör't.
Oft geht von Teuts Geschlecht' ein frischer Knabe,
Schön wie der bunte Mai,
Hoch wie der Hirsch, voll jeder Heldengabe
Mein einsam Dach vorbei.
Da seufz' ich nach: O edles Blut! verloren
Das bist du für dein Land!
Man gab dich, ach zu spät, zu spät geboren!
In eines Fremden Hand!
Ein Fremder (nicht der Beste seines Landes,
Nein, dem's an Brod gebricht;
[47]
Dieß mißt der Mann voll Tugend und Verstandes
In seiner Heimath nicht.)
Ein Fremder kam. Von diesem sollst du lernen,
Was Deutsche bilden kann.
Liebt er sein eigen' Volk nicht? Bei den Sternen!
Er ist ein schlechter Mann;
Und liebet er sein Volk, was wird er preisen,
Als seines Volkes Macht,
Gesetze, Sitten, Werke seiner Weisen,
Und seiner Fürsten Pracht?
Du sitzest, horchest, glaubest seinem Prahlen.
Denn ach dein Herz ist gut!
Und seine Zunge schlüpfrig gleich den Aalen,
O junges, edles Blut!
Dein Land wird unvermerkt vor dir verdüstert.
Dich leitet falscher Schein,
Bis gar der Wunsch in deiner Seele flüstert:
Ich wollt' ein Fremder seyn!
[48]
Auf! zeiget mir zu Gegenden die Wege,
Wo Menschen bess'rer Art,
Wo Sitten sind. Mein Volk ist kalt und träge,
Voll Einfalt, steif und hart.
Du reisest, kehrest nach verschwelgtem Gute,
Frech, wenn der Himmel droht,
Mit siechen Gliedern und verderbtem Blute,
Dem Vaterlande todt. –
Ha, Väter, oder sag' ich besser, Mütter!
Ist dieses eure Pflicht?
Sind eure Kinder eure größten Güter?
Wie? oder sind sie's nicht?
Gehört ihr Herz nicht ihrem Vaterlande?
Und scheint es euch erlaubt,
Daß es durch euch ein Fremder, o der Schande!
Dem Vaterlande raubt?
Fragt eure Söhne von der Deutschen Thaten,
Von uns'rer Ahnen Zeit,
Von Weisen, die wir haben, die wir hatten,
Und ihrer Trefflichkeit;
[49]
Von uns'rer Barden feuervollem Singen,
Von uns'rer Künste Zahl,
Von allem dem, was uns're Gauen bringen,
O fraget hundertmal!
Sie steh'n und schweigen. Könnt' ihr dieses ahnden?
Bei'm Teut! Ihr könnt es nicht!
Woher von dem, was Lehrer nicht verstanden,
Des Lehrlings Unterricht?
Und wird sich der stolz einen Deutschen nennen,
Der nichts von Deutschland weiß?
Wird je sein Herz dem Vaterlande brennen? –
Dann brennet auch das Eis!
Er rang von seinem Volke sich zu reißen.
Kein Deutscher ist er mehr,
Und ward kein Fremder. Ha! wie soll er heißen?
Ein zwittrig Ungefähr!
Und, Aeltern! ach mit solchen Mitteldingen
Füllt ihr die Gauen an!
Hat uns der Fremden List sich einzudringen
Nicht Leid's genug gethan?
[50]
O flößet lieber uns'rer edlen Jugend
Der Ahnen Sitten ein,
Und heißt sie thätiger und stiller Tugend
Geschworne Freunde seyn.
Ein rascher Mund voll frecher Prahlereien,
Zu früher Lüste Sucht,
Wuth, sich zu schmücken, wie ein Weib entweihen
Thuiskon's Heldenzucht.
Wer mit eräfften, flatternden Geberden
Fremd durch die Nase spricht,
Wird noch darum kein Volkbeglücker werden,
Schlägt noch die Feinde nicht.
Hört, Aeltern! Uns're Biederahnen riefen,
Dann als ihr Auge brach:
Willkommen, Mutter Hertha! deine Tiefen! 1
Wir lassen Deutsche nach.

Fußnoten

1 Der Erde Grab.

[51] Vierte Klage 1

Klagen will ich. Du gönnst es mir endlich,
Milder gewordenes Herzeleid!
Klagen will ich. Du hörest mich, Winterhain!
Denn bist du nicht selber ein Kläger?
Ein Kläger deines abgefall'nen Laubes
Ein Kläger deiner ausgestorb'nen Schatten!
Zwar dein Klagen stillt der Lenz,
Bringt dir Laub und Schatten wieder;
Aber soll dem Barden
Seine Freude wieder werden,
Die der Tod ihm vom Herzen riß?
Klein, voll Unschuld war sie, meine Freude,
Sittsam grau war ihr Gefieder,
Glänzend schwarz war ihre Scheitel.
Ach ich denke noch den Tag des Herbstes,
Da sie durch die falben Hecken
Dürstend zu der Quelle strich,
Die mit meinen Mistelruthen
Rund umpflanzet war.
[52]
Da fing ich dich, Sänger der Wipfel!
Wie schlug dir der Busen! wie sträubtest du dich!
Denn kanntest du damal mein Herz?
Aber bald lehrte die freundliche Miene,
Die niedliche Speise, die reinliche Pflege,
Mein lispelnder Mund
Deinen Wirth dich kennen.
Und jetzo vertrugen dein tonvoll Geschlecht
Schon zehnmal die letzteren Hauche des Herbstes
Zu wärmeren Himmeln,
Und zehnmal kehrte dein tonvoll Geschlecht
Im ersten Hauche des Lenzes,
Und sang vom hohen Schottendorne 2
Den Gruß in mein einsam' Gemach dir zu,
Und hörte den freundlichen Dank von dir. –
Tonvoll Geschlecht meines Entrissenen!
Kehrst du wieder diesen Lenz,
Singe nimmer deinen Gruß
Von dem hohen Schottendorne!
Still ist mein einsam' Gemach.
Ich höre den Gruß, und mir blutet das Herz!
[53]
Uebel vergaltst du dem Barden die Wohlthat,
Du frosterstarreter Hund!
Dich hatt' ich in grimmiger Winternacht
Unter mein wärmendes Dach genommen.
Ich kehrte zurücke.
Wedelnd kamst du mir entgegen,
Und mit dir ahnungsvoller Schauer –
Ich riß mich hinein.
Da gab die kleinste Saite
Meines ruhenden Harfenspiels
Einen Wehlaut, dem letzten Seufzer
Scheidender Liebenden ähnlich.
Da lag mein alter, treuer Lebenszeuge
Erwürgt, zerfiedert auf der Erde!
Undankbarer Gast! – Aber konnt' ich damals klagen?
Klagen will ich. Nun gönnt es mir endlich
Mein milder gewordenes Herzeleid.
Fröhlich war mein Erwachen zur Morgenfeier;
Denn mein Erwachen war mitten in Liedern.
Barde! wach' auf! schien mir mein Sänger zu sagen:
Schön ist der kommende Tag,
Glänzend der Wiesenthau, lieblich die Blumenduft.
Barde! wach' auf!
[54]
Lächelnd erhub ich mich dann, und lobte die Gottheit mit ihm,
Die uns den Wiesenthau, die uns den Blumenduft,
Die uns den schönen kommenden Tag verlieh.
Ach nun lob' ich die Gottheit allein!
Hatt' ich, Tugend! dir, Vaterland! dir,
Und dir, göttliche Bardenkunst!
Jeden geschäftigen Tag hindurch
Manchen blühenden Heldensohn
Würdig zu bilden gesucht,
Hatt' ich sein deutsches Herz
Wider das fremde Verderben bewacht;
Schied nun der Tag,
Glühte das Abendroth, folgte der Mondenglanz,
Warf ich mich nun dankend der Gottheit hin;
Siehe! da nahte durch Schatten mein Sänger sich,
Dankete lispelnd der Gottheit mit mir,
Die uns das Abendroth, die uns den Mondenglanz,
Die uns den schönen scheidenden Tag verlieh.
Ach, nun dank' ich der Gottheit allein!
Wenn mich in Stunden heiliger Trunkenheit
Die Barden alter Tage besucheten,
[55]
Wenn Oscar's Vater 3 seinen Liedern
Auf deutschen Saiten lächelnd horchte,
Und mich verweg'ne Griffe lehrte;
Wenn auf ihren Wirbeln hergetragen
Werdomar und Rhingulph 4 mich umschwebten;
Wenn bei mir aus dem hohen Norden
Regner, Egill und Thorlaugur, 5
Und der spröden Elisif Skalde 6 niedersank,
Und von Zeiten sprach, da Gesang und Harfen
Unverstimmt von der Fremden Künsteleien,
Unverachtet von den Menschenherrschern,
Nur Empfindung in die Seele goßen;
Damal gab mein kleiner Sänger,
Er der Zeuge meiner Wonne,
Voll der Ehrfurcht keinen Laut;
Denn da war mein Gemach, wie Walhalla. –
Aber schieden sie zischend auf Winden
Ueber den schattenden Wipfel
Des Schottendornes hinweg,
[56]
Dann sang er den Scheidenden Urlaub nach.
Sie blickten zurück, und lächelten Dank;
Nun blicken und lächeln sie nimmer zurück!
Nimmer kömmt mir Antwort,
Wenn ich dich mit Namen nenne,
Die sich meine Liebe schuf.
Nimmer pickst du mir, hold' Geschöpf!
Süßes Brod von den Lippen.
Nimmer brütest du mir zwitschernd
In der hohlen Hand,
Nimmer trag' ich dich in den heit'ren Nächten
Auf dem Finger an das Mondenlicht. –
Zwar spiegelten die Sterne sich in deinem Auge,
Du schliffst dein Schnäbelchen, und hubst die kleinen Schwingen,
Die Gegend im Monde gefiel dir;
Aber du hieltst dich am Finger fest.
Und dennoch bist du mir entrissen! –
Alle meine Freuden
Sterben nach und nach um mich.
Bald hab' ich nur dich, Bardengesang!
Und euch, gefällige Freunde,
Und dich, ermunternder Blick in's andere Leben.

Fußnoten

1 Ueber den Tod eines geliebten Vogels.

2 Der Akazienbaum, der auf Sineds Halle schattete.

3 Ossian.

4 Klopstock und Kretschmann.

5 Siehe: Gerstenberg's Skalden. Altona, 1815. II. Bd. S. 87.

6 Harald Hardraade.

[57] Fünfte Klage 1

Entweihe sie nicht, die Gesangkraft!
Als sie vom Himmel herniederfuhr,
Säuselten Namen ihr nach:
Botinn Allvaters, Seelenerhöherinn,
Herzenschmelzerinn, Tugendbelohnerinn!
Sänger! entweihe sie nicht!
Dieß lehrten dich nicht die Barden der Vorzeit.
Sie sangen umstanden von Knaben.
Was trugen vom Liede die Knaben? Entschluß,
Bieder und tapfer, so wie die Väter, zu werden.
Sie sangen umsessen von Mädchen.
Was trugen vom Liede die Mädchen? Entschluß,
Häuslich und treue, so wie die Mütter, zu werden.
Aber entmanntest du dich,
Von bangen, unwilligen Saiten
Thierbrunst empörende Klänge zu reißen;
Sprudelte giftiger Unflath
[58]
Von geilheittrunkenen Lippen
Ueber dein üppiges Harfenspiel ab,
Daß sich dem Knaben die Wange verfärbte,
Daß sich das Mädchen im Schleier barg;
O dann, Entweiher der hohen Gesangkraft!
O dann blicke nicht auf, wo sie herniederfuhr!
Athme nicht auf: Was frommet es dir?
Du sogst vom Schlamme der Pfütze.
Rein ist es oben. Warum
Hauchtest du Nebel in's Reine?
Und sängest du schöner, als einer der Barden
Die Wunder Allvaters, und Gräber hinüber
Verherrlichter Liebenden Wiederumarmen,
Und Lehren der Weisheit, und Preise der Tugend –
Schweig! Blicke nicht auf! Athme nicht auf!
Du sogst vom Schlamme der Pfütze.
Noch starb in manchem unbewahrten Ohre
Der letzte deiner schnöden Klänge nicht,
Noch sprüht von deinen Liedern loh gefächelt
In manchem Busen wilde Glut.
Und jetzo lehrtest du die Weisheit?
Und jetzo priesest du die Tugend?
[59]
Auf eben diesen Saiten?
Aus eben diesem Munde?
Schweig, feiler Heuchler! Deine Lehre
Verführet, und dein Preis ist Schändung;
Denn unentschieden, unentschieden ist dein Herz!
Da steht ein ehrenwerther Barde
Die Brust voll Gottheit, und voll Liebe
Zum Glücke seiner Miterschaff'nen,
Mit treuen Sorgen an der Stirne,
Mit Eiferthränen in dem Auge,
Mit edlem Feuer auf den Wangen
Im Kreise seines Volkes auf.
Allvaters Rechte verkündet sein Lied,
Erhebet den Adel der Tugend,
Den glänzenden Lohn der Pflichtenerfüllung.
Er schleußt. Und jetzo wandelt's leise
Durch der Hörer Menge fort:
Schön! Doch wann beginnt er uns von Wollust
Eben ein so schönes Lied zu thauen?
Auch in seinem Harfenspiele
Wohnet ungezweifelt Wollust
Wäre denn von and'ren Harfen
Sie, die seine, nur verschieden?
[60]
Wär' er nicht, wie der und jener Sänger,
Der uns jetzo feurig von Allvater,
Jetzo feurig von der Wollust sang?
Sined! hülle dich ein!
Geuß Nacht der Klagen her um dich
Ueber deines Volkes Weisen,
Die so schön nicht leben, wie sie lehren,
Die aus einem Munde
Tugenden und Lüste preisen!
Klage, Sined! über deines Volkes Schaden,
Das von solchen zweigezüngten Sängern
Irrgeleitet göttliche Gesangkraft
Nur für feile Laune,
Nur für spielende Verstellung hält.
Aber heilet deine Klage diesen Schaden?
Schweig, und hülle dich ein!
Zu breit, zu rasch ist der Strom.
Ihn dämmet, o Barde! dein Lied nicht.
Nur Erdegötter könnten ihn dämmen.

Fußnoten

1 Ueber den Mißbrauch der Dichtkunst.


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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2012). Denis, Michael. Sineds Klagen. TextGrid Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-7E02-5