II. Halle und Heidelberg
Das vorige Jahrhundert wird mit Recht als das Zeitalter der Geisterrevolution bezeichnet. Allein damals wurden nur erst Parole und Feldgeschrei ausgeteilt, es war nur der erste Ausbruch des großen Kampfes, der sich unter wechselnden Evolutionen an das neunzehnte Jahrhundert vererbt hat, und noch bis heute nicht ausgefochten ist. Die deutschen Universitäten aber sind die Werbeplätze und Übungslager dieses von Generation zu Generation sich erneuernden Kriegsheeres. Von Wittenberg [919] ging einst die Reformation aus, von Halle die Wolffsche Lehre, von Königsberg die Kantsche, von Jena die Fichtesche und Schellingsche Philosophie; lauter unsichtbare Gedankenkatastrophen, die einen wesentlichen und entscheidenderen Einfluß auf das Gesamtleben ausgeübt haben, als sich die Staatskünstler träumen ließen.
Bekanntlich ist unser Jahrhundert unter dem Gestirn der Aufklärung geboren. Kant hatte soeben die philosophische Arbeit seiner Vorgänger streng geordnet und, da er dieselbe in seiner großartigen Wahrheitsliebe für das Ganze als unzureichend erkannte, die Welt lieber sogleich in zwei Provinzen geteilt: in die durch menschliche Erfahrung wahrnehmbare, die er sich glorreich erobert, und in die terra incognita des Unsichtbaren, die er mit der nur dem Genie eigenen heiligen Scheu auf sich beruhen ließ. Seine Schüler aber wollten klüger sein als der Meister und alles aufklären; eine Art chinesischer Schönmalerei ohne allen Schatten, der doch das Bild erst wahrhaft lebendig macht. Sie setzten daher nun ihren lichtseligen Verstand ganz allgemein als alleinigen Weltbeherrscher ein; es sollte fortan nur noch einen Vernunftstaat, nur Vernunftreligion, Vernunftpoesie usw. geben. Da jedoch jene zweite dunkle Provinz höchst unvernünftig mit ihrer Phantasie, mit ihrem Glauben, ihren Volksgefühlen und Traditionen gegen dieses unerhörte Regiment zu rebellieren unternahm, so machten sie sich's bequem, indem sie das Geheimnisvolle und Unerforschliche, das sich durch das ganze menschliche Dasein hindurchzieht, ohne weiteres als störend und überflüssig negierten. Kein Wunder demnach, daß das deutsche Leben und das deutsche Reich, das grade auf diesen unsichtbaren Fundamenten vorzugsweise geruht, sich nun nach allen Seiten hin bedenklich senkte und zuletzt so lebensgefährliche Risse bekam, daß es von Polizei wegen abgetragen werden mußte. Und so war denn in der Tat der ganze alte Bau schon im Anfange unseres Jahrhunderts in sich zusammengebrochen; der Sturm der Französischen Revolution und der nachfolgenden Fremdherrschaft hat nur den unnützen Schutt auseinandergefegt.
Allein auf freiem Felde können dauernd nur Wilde wohnen, über die man sich bei aller Naturvergötterung doch so unendlich erhaben fühlte. Das begriffen alle, und so entstand damals sofort ein unerhörtes Treiben, Klopfen, Hämmern und Richten, als wäre alle Welt plötzlich Freimaurer geworden. Aber der[920] Neubau förderte nicht, weil sie über Fundament, Grund- und Aufriß fortwährend untereinander zankten. Am geschäftigsten und vergnügtesten nämlich zeigten sich zunächst die alten zähen Enzyklopädisten, die jetzt auf dem völlig kahlgefegten Bauplatze endlich ganz freie Hand hatten. Diese wußten wirklich nicht, daß seit Erschaffung der Erde schon mancherlei Bemerkenswertes darauf sich zugetragen; sie wollten daher schlechterdings die Welt ganz von neuem anfangen und abstrakt konstruieren. Als Material hierzu trockneten sie vorerst alle Seelenkräfte auf, um sie in ihren philosophischen Herbarien gehörig zu klassifizieren, und daraus gingen damals die zahllosen neuen Gesetzbücher mit ihren Urrechten und Menschenveredelungen hervor. Sie waren, was sie freilich am wenigsten sein wollten, eigentlich gutmütige Phantasten, wie ja jederzeit grade bei den Nüchternsten das bißchen defekte Phantasie am häufigsten überschnappt, welches der gesunden nicht leicht begegnet. Es ist hiernach auch sehr begreiflich, daß in dieser alles verwischenden Gleichmacherei ohne Nationalität und Geschichte ein kühner Geist, wie Napoleon, den Gedanken einer ganz gleichförmigen europäischen Universalmonarchie fassen konnte.
Aber diesen Transzendentalen gegenüber oder vielmehr direkt entgegen arbeiteten gleichzeitig ganz andere Bauleute: die Freischar der Romantiker, die in Religion, Haus und Staat auf die Vergangenheit wieder zurückgingen; also eigentlich die historische Schule. Das deutsche Leben sollte aus seinen verschütteten geheimnisvollen Wurzeln wieder frisch ausschlagen, das ewig Alte und Neue wieder zu Bewußtsein und Ehren kommen. – Da jedoch beide Parteien einander keineswegs hinreichend gewachsen waren, so nahm bei solchem Stoß und Gegenstoß späterhin die ganze Sache eine diagonale Richtung. Es entstand die aus beiden widerstrebenden Elementen wunderlich komponierte moderne Vaterländerei; ein imaginäres Deutschland, das weder recht vernünftig, noch recht historisch war.
Alle diese verschiedenen Richtungen waren natürlich vorzugsweise und in möglichster Konzentration auch auf den deutschen Universitäten repräsentiert. Namentlich in dem ersten Dezennium unseres Jahrhunderts bildeten dort die obenerwähnten Abstrakten, meist halbverkommene Kantianer, durchaus noch die tonangebende Majorität. Die Philosophen [921] setzten in ihrer Logik, wie wenn man beim Lesen erst wieder buchstabieren sollte, umständlich auseinander, was sich ganz von selbst verstand; die Theologen lehrten eine elegante Aufklärungsreligion; die Juristen ein sogenanntes Naturrecht, das nirgends galt und niemals gelten konnte. Nur etwa die Lehrer des römischen Rechts machten hie und da eine auffallende Ausnahme, weil der Gegenstand sie zwang, sich in das Positive einer großartigen Vergangenheit zu vertiefen. Es ist bekannt, wie Bedeutendes Thibaut auf diesem Felde geleistet und wie der mild-ernste Savigny, der überdies niemals in dieser Reihe gestanden, grade damals sich überall neue Bahnen gebrochen hat. Jene halbinvaliden und philosophischen Handwerker dagegen, da sie an sich so wenig Anziehungskraft besaßen, suchten nun mit allerlei schlauen Kunststücken zu werben; die Derbsten unter ihnen durch zum Teil sehr schmutzige Witze und Späße, die alljährlich bei demselben Paragraphen wiederkehrten; die vornehmeren, zumal wenn sie heiratslustige Töchter hatten, durch intime Soireen und Plaudertees, um die bärtigen Burschen zu zivilisieren. Und das gelang auch ganz vortrefflich, denn zu ihnen hielt in der Tat bei weitem die Mehrzahl der jungen Leute, nämlich alle die unsterblichen Bettelstudenten, wie man sie billigerweise nennen sollte, da sie bloß auf Brot studieren. Es war wahrhaft rührend anzusehen, wie da in den überfüllten Auditorien in der schwülen Atmosphäre der entsetzlichsten Langenweile Lehrer und Schüler um die Wette verzweiflungsvoll mit dem Schlummer rangen, und dennoch überall die Federn unermüdlich fortschwirrten, um die verschlafene Wissenschaft zu Papier zu bringen und in sauberen Heften gewissenhaft heimzutragen.
Allein nebenher ging auch noch ein anderer geharnischter Geist durch diese Universitäten. Sie hatten vom Mittelalter noch ein gut Stück Romantik ererbt, was freilich in der veränderten Welt wunderlich und seltsam genug, fast wie Don Quijote, sich ausnahm. Der durchgreifende Grundgedanke war dennoch ein kerngesunder: der Gegensatz von Ritter und Philister. Stets schlagfertige Tapferkeit war die Kardinaltugend des Studenten, die Muse, die er oft gar nicht kannte, war seine Dame, der Philister der tausendköpfige Drache, der sie schmählich gebunden hielt, und gegen den er daher, wie der Malteser gegen die Ungläubigen, mit Faust, List und Spott beständig zu Felde lag; denn die Jugend kapituliert nicht und [922] kennt noch keine Konzessionen. Und gleichwie überall grade unter Verwandten – weil sie durch gleichartige Gewohnheiten und Prätensionen einander wechselseitig in den Weg treten – oft die grimmigste Feindschaft ausbricht, so wurde auch hier aller Philisterhaß ganz besonders auf die Handwerksburschen (Knoten) gerichtet. Wo diese etwa auf dem sogenannten breiten Steine (dem bescheidenen Vorläufer des jetzigen Trottoirs) sich betreten ließen, oder gar Studentenlieder anzustimmen wagten, wurden sie sofort in die Flucht geschlagen. Waren sie aber vielleicht in allzu bedeutender Mehrzahl, so erscholl das allgemeine Feldgeschrei: »Burschen heraus!« Da stürzten, ohne nach Grund und Veranlassung zu fragen, halbentkleidete Studenten mit Rapieren und Knütteln aus allen Türen, durch den herbeieilenden Sukkurs des nicht minder rauflustigen Gegenparts wuchs das improvisierte Handgemenge von Schritt zu Schritt, dichte Staubwirbel verhüllten Freund und Feind, die Hunde bellten, die Häscher warfen ihre Bleistifte (mit Fangeisen versehene Stangen) in den verwickelten Knäuel; so wälzte sich der Kampf oft mitten in der Nacht durch Straßen und Gäßchen fort, daß überall Schlafmützen erschrocken aus den Fenstern fuhren und hie und da wohl auch ein gelocktes Mädchenköpfchen in scheuer Neugier hinter den Scheiben sichtbar wurde.
Die damaligen Universitäten hatten überhaupt noch ein durchaus fremdes Aussehen, als lägen sie außer der Welt. Man konnte kaum etwas Malerischeres sehen, als diese phantastischen Studententrachten, ihre sangreichen Wanderzüge in der Umgebung, die nächtlichen Ständchen unter den Fenstern imaginärer Liebchen; dazu das beständige Klirren von Sporen und Rapieren auf allen Straßen, die schönen jugendlichen Gestalten zu Roß, und alles bewaffnet und kampfbereit wie ein lustiges Kriegslager oder ein permanenter Mummenschanz. Alles dies aber kam erst zu rechter Blüte und Bedeutsamkeit, wo die Natur, die ewig jung, auch am getreusten zu der Jugend hält, selber mitdichtend studieren half. Wo, wie z.B. in Heidelberg, der Waldhauch von den Bergen erfrischend durch die Straßen ging und nachts die Brunnen auf den stillen Plätzen rauschten, und in dem Blütenmeer der Gärten rings die Nachtigallen schlugen, mitten zwischen Burgen und Erinnerungen einer großen Vergangenheit; da atmete auch der Student freier auf und schämte vor der ernsten Sagenwelt sich der kleinlichen [923] Brotjägerei und der kindischen Brutalität. Wie großartig im Vergleich mit anderen Studentengelagen war namentlich der Heidelberger Kommers, hoch über der Stadt auf der Altane des halbverfallenen Burgschlosses, wenn rings die Täler abendlich versunken, und von dem Schlosse nun der Widerschein der Fackeln die Stadt, den Neckar und die drauf hingleitenden Nachen beleuchtete, die freudigen Burschenlieder dann wie ein Frühlingsgruß durch die träumerische Stille hinzogen und Wald und Neckar wunderbar mitsangen. – So war das ganze Studentenwesen eigentlich ein wildschönes Märchen, dem gegenüber die übrige Menschheit, die altklug den Maßstab des gewöhnlichen Lebens daran legte, notwendig, wie Sancho Pansa neben Don Quijote, philisterhaft und lächerlich erscheinen mußte.
In jener Zeit brütete äußerlich noch ein unheimlicher Frieden über Deutschland, aber die prophetischen Gedanken, die den Krieg bedeuten, arbeiteten gebunden in jeder Brust, und suchten sich überall in wunderlichen Geheimbünden Luft zu machen. Auch auf den Universitäten bestanden dergleichen Ordensverbindungen, noch ohne speziell politischen Beischmack, bloß auf allgemeine humanistische Zwecke gerichtet, mit allerlei abenteuerlichen Symbolen, furchtbaren Eiden und rasselndem Heldenschmuck, wie man es damals in den vielen Ritterromanen fand. Bestand auch ihr Hauptreiz eben nur in ihrer Heimlichkeit, die Sache war doch ehrlich, bitterernst und für die ganze Lebenszeit gemeint. Als aber jene humanistischen Ideen nach und nach abgenutzt, und alle Lebensverhältnisse immer matter wurden, da trat auch hier an die Stelle der strengen Orden die laxere Observanz der Landsmannschaften. Wie man draußen in der Philisterwelt nun mit dem Anstand statt der Tugend sich begnügte, so gingen auch diese Landsmannschaften eigentlich nur auf den Schein des Seins, auf den bloßen »Komment«. Gegen eine nähere Verbrüderung der speziellen Landsleute, obgleich im allgemeinen beengend und einseitig, ließ sich im Grunde nicht viel einwenden. Allein dies war nicht einmal der Fall bei ihnen, sie warben eifersüchtig auch aus anderen Provinzen und verfolgten die eigenen Landsleute, wenn sie sich ihrem Zwange nicht unterwerfen mochten. Und da mithin hier die rechte sittliche Grundlage fehlte, dieses Treiben vielmehr, wie schon der selbstgewählte fade Name »Kränzchen« andeutet, sich lediglich auf der Oberfläche geselliger [924] Verhältnisse bewegte; so artete das Ganze sehr bald in bloßes Dekorationswesen, in ein pedantisches Systematisieren der Jugendlust aus; Mut, Fröhlichkeit, Tracht, Trinken, Singen, alles hatte seine handwerksmäßige Tabulatur, das unwürdige Prellen und Pressen der »Füchse« war ein löbliches Geschäft, Sittenlosigkeit und affektierte Roheit eine besondere Auszeichnung, und es ist hiernach leicht erklärlich, daß grade ihre Matadore im späteren Leben oft die stattlichsten Philister wurden. Mit der inneren Hohlheit aber wuchs die Prätension, sie knechteten die akademische Freiheit, indem jeder nur auf ihre Weise frei sein sollte, und so währte noch langehin ein gewaltiges Ringen zwischen ihnen und den alternden Orden; ein Kampf, der in einzelnen Fällen mit einer heroischen Aufopferung geführt wurde, die wohl eines größeren Zieles würdig gewesen wäre. So faßte z.B. einst ein hervorragendes Ordensmitglied den kühnen Gedanken sich unerkannt mitten in das feindliche Lager zu begeben, um durch Überredung, Rat und Tat die Gegenpartei zu den Seinigen herüberzuführen. Er hatte sich auch wirklich bereits zum Senior einer Landsmannschaft heraufgeschwungen, und der abenteuerliche Plan wäre fast geglückt, als feiger Verrat alles zu früh aufdeckte, und er nun in zahllosen Zweikämpfen sich durch sämtliche Landsmannschaften wieder herausschlagen mußte, was allerdings ein Kampf auf Tod und Leben war. Das mag uns in gesetzteren Jahren jetzt unnütz und kindisch erscheinen; es war aber immerhin eine Vorschule bedeutender Charaktere, die, wie wir wissen, zur Zeit der Not und als es höhere Dinge galt, sich als tüchtig bewährt haben.
So war in der Tat auf den Universitäten eine gewisse mittelalterliche Ritterlichkeit niemals völlig ausgegangen und selbst in jener Verzerrung und Profanation noch erkennbar. Unter allen diesen Jünglingen aber bildeten die eigentlichen, die literarischen Romantiker wiederum eine ganz besondere Sekte. – Die allgemeine Stimmung oder vielmehr Verstimmung war schon seit langer Zeit so prosaisch geworden, daß jeder romantische Anflug für ein Sakrilegium gegen den gesunden Menschenverstand gehalten und höchstens als ein barocker Jugendstreich noch toleriert wurde. Der schwere Proviantwagen der Brotwissenschaften bewegte sich langsam in dem hergebrachten Geleise eines hölzernen Schematismus, die Religion mußte Vernunft annehmen und beim Rationalismus [925] in die Schule gehn, die Natur wurde atomistisch wie ein toter Leichnam zerlegt, die Philologie vergnügte sich gleich einem kindisch gewordenen Greise mit Silbenstechen und endlosen Variationen über ein Thema, das sie längst vergessen, die bildende Kunst endlich brüstete sich mit einer sklavischen Nachahmung der sogenannten Natur. Die Kraftgenies in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts hatten durch ihre Übertreibung und lärmende Renommisterei das Übel eigentlich nur noch schlimmer und unheilbarer gemacht, indem sie in vollem Burschenwichs ohne weiteres aus der Universität in die Welt hinaussprengten und Leben und Literatur burschikos einrichten wollten, was natürlicherweise einen allgemeinen Landsturm der Gelehrten gegen die Freibeuter auf die Beine brachte. Zwar hatten Lessing, Hamann und Herder nach den verschiedensten Richtungen hin schon Blitze und Leuchtkugeln dazwischengeschleudert. Allein Lessings kritische Blitze waren nur kalte Schläge, und da sie nicht zündeten, meinte jeder, es gelte den Nachbar, und hielt ihn getrost für den Seinigen. Herder dagegen trug aus aller Welt herrliche Bausteine zusammen, als es aber ans Bauen kam, war er inzwischen alt und müde geworden, sein Leben und Wirken blieb ein großartiges Fragment; und Hamanns Geisterstimme verklang unverstanden in den Wolken. Auch in der Poesie hatten Goethe und Schiller bereits den neuen Tag angebrochen, aber sie hatten noch keine Gemeinde. Das Wetterleuchten dieser Genien, obgleich den Frühling andeutend und vorbereitend, blendete und erschreckte vielmehr im ersten Augenblick die Menge; man hörte überall die Sturmglocken gehn, niemand aber wußte, ob und wo es brennt, die einen wollten löschen, die anderen schüren, und so entstand die allgemeine Konfusion, womit das neunzehnte Jahrhundert debütierte.
Da standen unerwartet und fast gleichzeitig mehrere gewaltige Geister in bisher ganz unerhörter Rüstung auf: Schelling, Novalis, die Schlegels, Görres, Steffens und Tieck. Schelling mit seiner kleinen Schrift über das akademische Studium, worin er den geheimnisvollen Zusammenhang in den Erscheinungen der Natur sowie in den Wissenschaften andeutete, warf den ersten Feuerbrand in die Jugend; gleich darauf suchten andere diese pulsierende Weltseele in den einzelnen Doktrinen nachzuweisen: Werner in der Geologie, Creuzer im Altertum und dessen Götterlehre, Novalis in der Poesie. Es war, als sei [926] überall, ohne Verabredung und sichtbaren Verein, eine Verschwörung der Gelehrten ausgebrochen, die auf einmal eine ganz neue wunderbare Welt aufdeckte.
Am auffallendsten wohl zeigte sich die Verwirrung, welche diese plötzliche Revolution anrichtete, auf der damals frequentesten Universität: in Halle, weil dort das heterogenste Material auch den entschiedensten Kampf provozierte. Hier trennte sich alles in zwei Hauptlager: in das stabile der Halbinvaliden, und das bewegliche des neuen Freikorps, während das letztere wieder in mehrere verschiedenartige Gruppen zerfiel, welche aber von der Jugend, die noch nicht so ängstlich sondert, unter den Begriff der Romantik zusammengefaßt wurden. An der Spitze der Romantiker stand Steffens. Jung, schlank, von edler Gesichtsbildung und feurigem Auge, in begeisterter Rede kühn und wunderbar mit der ihm noch fremden Sprache ringend, so war seine Persönlichkeit selbst schon eine romantische Erscheinung, und zum Führer einer begeisterungsfähigen Jugend vorzüglich geeignet. Sein freier Vortrag hatte durchaus etwas Hinreißendes durch die dichterische Improvisation, womit er in allen Erscheinungen des Lebens die verhüllte Poesie mehr divinierte, als wirklich nachwies. Am unmittelbarsten mußte diese Naturphilosophie begreiflicherweise die Mediziner berühren, unter denen die besseren Köpfe sich jetzt von der bisherigen Empirie zu dem ritterlichen Reil und zu Froriep wandten, die überall auf das geheimnisvolle Walten höherer Naturkräfte hindeuteten. – Eine andere Gruppe wieder bildeten die jungen Theologen, welche sich um Schleiermacher scharten. Dieser merkwürdig komponierte Geist schien, seiner ursprünglichen stachelichten Anlage nach zum Antipoden der Romantik geeignet; und doch hielt er wacker zu ihr, und hat auf demselben platonischen Wege der Theologie, die damals zum Teil in toten Formeln, zum Teil in fader Erfahrungsseelenlehre sich erging, wieder Gemüt erobert; eine Art von geharnischtem Pietismus, der mit scharfer Dialektik alle Sentimentalität männlich zurückwies. – Am entferntesten wären vielleicht die Philologen geblieben, hätte nicht Wolf, obgleich persönlich nichts weniger als Romantiker, hier wider Wissen und Willen die Vermittelung übernommen durch den divinatorischen Geist, womit er das ganze Altertum wieder lebendig zu machen wußte, sowie durch eine geniale Humoristik und den schneidenden Witz, mit dem der[927] stets Streitlustige gegen Schütz und andere, welche die Alten noch immer mumienhaft einzubalsamieren fortfuhren, fast in dramatischer Weise beständig zu Felde lag. – Zwischen diese Gruppen klemmte sich endlich noch eine ganz besondere Spezies von Philosophen herein, die den unmöglichen Versuch machte, die Kantsche Lehre ins Romantische zu übersetzen. Hierher gehörte Professor Kayßler, ein ehemaliger katholischer Priester, der geheiratet, und nun, gleichsam zur Rechtfertigung dieses abenteuerlichen Schrittes, sich eine noch abenteuerlichere Philosophie erfunden hatte. Er hatte es indes als doppelter Renegat mit den Kantianern wie mit den Romantikern verdorben; seine trockenen, abstrusen Vorträge fanden fast nur unter seinen schlesischen Landsleuten geringen Anklang, und wir wollten ihn hier bloß nennen, um das Bild der damaligen elementarischen Gärung möglichst zu vervollständigen. – Gegenüber allen diesen neuen Bestrebungen lag aber die breite schwere Masse der Kantschen Orthodoxen und der Stockjuristen, sämtlich von dem wohlfeilen Kunststück vor nehmen Ignorierens fleißig Gebrauch machend; unter den letzteren einerseits Schmaltz, der nachherige Geheimrat der Demagogenjäger, der die Kantsche Philosophie, die er vor kurzem sich in Königsberg geholt, auf seine faselige Weise elegant zu machen suchte; andrerseits Dabelow, König, Woltaer u.a., die von der Philosophie überhaupt nichts wußten.
Übrigens stand Halle, so unfreundlich auch die Stadt und ein großer Teil ihrer Umgebung ist, in jener Zeit noch in mancherlei lokalem Rapport mit der romantischen Stimmung. Der nahe Giebichenstein mit seiner Burgruine, an die sich die Sage von Ludwig dem Springer knüpft, war damals noch nicht modern englisiert und eingehegt, wie jetzt, und bot in seiner verwilderten Einsamkeit eine ganz artige Werkstatt für ein junges Dichterherz. Wer als Jüngling von dieser Höhe hinabgeblickt, und sie im Alter nach vielen Jahren wiedersieht, dem wird vielleicht dabei ungefähr zumute sein, wie dem Autor nachstehenden Liedchens:
Da steht eine Burg überm Tale
Und schaut in den Strom hinein,
Das ist die fröhliche Saale,
Das ist der Giebichenstein.
[928]Da hab ich so oft gestanden,
Es blühten Täler und Höhn,
Und seitdem in allen Landen
Sah ich nimmer die Welt so schön!
Durchs Grün da Gesänge schallten,
Von Rossen, zu Lust und Streit,
Schauten viel schlanke Gestalten
Gleichwie in der Ritterzeit.
Wir waren die fahrenden Ritter,
Eine Burg war noch jedes Haus,
Es schaute durchs Blumengitter
Manch schönes Fräulein heraus.
Das Fräulein ist alt geworden,
Und unter Philistern umher
Zerstreut ist der Ritterorden,
Kennt keiner den andern mehr.
Auf dem verfallenen Schlosse,
Wie der Burggeist, halb im Traum,
Steh ich jetzt ohne Genossen
Und kenne die Gegend kaum.
Und Lieder und Lust und Schmerzen,
Wie liegen sie nun so weit –
Jugend, wie tut im Herzen
Mir deine Schönheit so leid.
Völlig mystisch dagegen erschien gar vielen der am Giebichenstein belegene Reichhardsche Garten mit seinen geistreichen und schönen Töchtern, von denen die eine Goethesche Lieder komponierte, die andere sogar Steffens' Braut war. Dort aus den geheimnisvollen Bosketts schallten oft in lauen Sommernächten, wie von einer unnahbaren Zauberinsel, Gesang und Gitarrenklänge herüber; und wie mancher junge Poet blickte da vergeblich durch das Gittertor, oder saß auf der Gartenmauer zwischen den blühenden Zweigen die halbe Nacht, künftige Romane vorausträumend. – Nicht allzu fern davon aber, um auch in dieser Beziehung die Gegensätze zu [929] vervollständigen, bewohnteLafontaine ein idyllisches Landhaus. Man erzählte von ihm, daß er selbst an seinen schlechten Romanen eigentlich am wenigsten schuld sei, daß ihn vielmehr seine Verleger von Zeit zu Zeit nach Berlin verlockten und dort so lange gleichsam eingesperrt hielten, bis er einen neuen dicken Roman fertig gemacht; was er denn, um nur wieder freizukommen, jedesmal mit unglaublicher Geschwindigkeit besorgt habe. Und hiemit stimmte in der Tat auch seine ganze äußere Erscheinung. Es war ein bequemer, freundlicher, lebensfroher Mann, der jetzt, da die Zeit seine Sentimentalität quiesziert hatte, sich getrost auf das Übersetzen alter Klassiker verlegte, und wie ein harmloser Revenant unter der verwandelten Generation umherging.
Von nicht geringer Bedeutsamkeit war auch die Nähe von Lauchstädt, wo die Weimarschen Schauspieler während der Badesaison Vorstellungen gaben. Diese Truppe war damals in der Tat ein merkwürdiges Phänomen, und hatte unter Goethes und Schillers persönlicher Leitung wirklich erreicht, was späterhin andere, z.B. Immermann in Düsseldorf, vergeblich anstrebten, nämlich das Theater zu einer höheren Kunstanstalt und poetischen Schule des Publikums emporzuheben. Sie hatten allerdings, und wir möchten fast hinzufügen: glücklicherweise, keine eminent hervorragenden Talente, die durch das Hervortreten einer übermächtigen Persönlichkeit so oft die Harmonie des Ganzen mehr stören als fördern, gleichwie die sogenannten schönen Stellen noch lange kein Gedicht machen. Aber sie hatten, was damals überall fehlte, ein künstlerisches Zusammenspiel. Denn eben jener höhere Aufschwung der waltenden Intentionen hob alle gleichmäßig über das Gewöhnliche und schloß das Gemeine oder Mittelmäßige von selbst aus; jeder hatte ein intimeres Verständnis seiner Kunst und seiner jedesmaligen Aufgabe, und ging daher mit Lust und Begeisterung ans Werk. Und so durften sie wagen, was den berühmtesten Hoftheatern bei unverhältmäßig größeren Kräften damals noch gar nicht in den Sinn kam. Mitten in der allgemeinen Misere der Kotzebueaden und Iffländerei eroberten sie sich kühn ganz neue Provinzen; gleichsam die Tragweite der Kunstwerke und des Publikums nach allen Seiten hin prüfend, brachten sie Calderon auf die Bühne, gaben den »Alarcos« und den »Jon« der Schlegel, Brentanos »Ponce de Leon« usw. – Man kann leicht denken, wie sehr dieses Verfahren grade das [930] empfänglichste und dankbarste Publikum der Studenten enthusiasmieren mußte. Die Komödienzettel kamen des Morgens schon, gleich Götterboten, nach Halle herüber, und wurden, wie später etwa die politischen Zeitungen und Kriegsbulletins, beim »Kuchenprofessor« eifrigst studiert. War nun eines jener literarischen Meteore oder ein Stück von Goethe oder Schiller angekündigt, so begann sofort eine wahre Völkerwanderung zu Pferde, zu Fuß, oder in einspännigen Kabrioletts, nicht selten einer großen Retirade mit lahmen Gäulen und umgeworfenen Wägen vergleichbar; niemand wollte zurückbleiben, die Reicheren griffen den Unbemittelten mit Entree und sonstiger Ausrüstung willig unter die Arme, denn die Sache wurde ganz richtig als eine Nationalangelegenheit betrachtet. In Lauchstädt selbst aber konnte man, wenn es sich glücklich fügte, Goethe und Schiller oft leibhaftig erblicken, als ob die olympischen Götter wieder unter den Sterblichen umherwandelten. Und außerdem gab es dort auch vor und nach der Theatervorstellung, in der großen Promenade noch eine kleine Weltkomödie, in welcher, wenigstens in den Augen der jüngeren Damen, die Studenten selbst die Heldenrollen spielten. Diese fühlten sich hier überhaupt wahrhaft als Musensöhne, es war ihnen zumute, als sei dies alles eigentlich nur ihretwegen veranstaltet, und sie hatten im Grunde recht, da sie vor allen andern das rechte Herz dazu mitbrachten.
Dieses althallesche Leben aber wurde im Jahre 1806 beim Zusammensturz der preußischen Monarchie unter ihren Trümmern mit begraben. Die Studenten hatten unzweideutig Miene gemacht, sich in ein bewaffnetes Freikorps zusammenzutun. Napoleon, dem hier zum ersten Male ein Symptom ernsteren Volkswillens gleichsam prophetisch warnend entgegentrat, hob daher zornentbrannt die Universität auf, die Studenten wurden mit unerhörtem Vandalismus plötzlich und unter großem Wehgeschrei der Bürger nach allen Weltgegenden auseinandergetrieben und mußten, ausgeplündert und zum Teil selbst der nötigen Kleidungsstücke beraubt, sich einzeln nach Hause betteln. – Wunderbarer Gang der Weltgerichte! Dieselben vom übermütigen Sieger in den Staub getretenen Jünglinge sollten einst siegreich in Paris einziehen. Der Geist einer bestimmten Bildungsphase läßt sich nicht aufheben, wie eine Universität. Was wir vorhin als das Charakteristische [931] jener Periode bezeichnet: die Opposition der jungen Romantik gegen die alte Prosa war keineswegs auf Halle beschränkt, sondern ging wie ein unsichtbarer Frühlingssturm allmählich wachsend durch ganz Deutschland. Insbesondere aber gab es dazumal in Heidelberg einen tiefen, nachhaltenden Klang. Heidelberg ist selbst eine prächtige Romantik; da umschlingt der Frühling Haus und Hof und alles Gewöhnliche mit Reben und Blumen, und erzählen Burgen und Wälder ein wunderbares Märchen der Vorzeit, als gäb es nichts Gemeines auf der Welt. Solch gewaltige Szenerie konnte zu allen Zeiten nicht verfehlen, die Stimmung der Jugend zu erhöhen und von den Fesseln eines pedantischen Komments zu befrein; die Studenten tranken leichten Wein anstatt des schweren Bieres, und waren fröhlicher und gesitteter zugleich als in Halle. Aber es trat grade damals in Heidelberg noch eine ganz besondere Macht hinzu, um jene glückliche Stimmung zu vertiefen. Es hauste dort ein einsiedlerischer Zauberer, Himmel und Erde, Vergangenheit und Zukunft mit seinen magischen Kreisen umschreibend – das warGörres.
Es ist unglaublich, welche Gewalt dieser Mann, damals selbst noch jung und unberühmt, über alle Jugend, die irgend geistig mit ihm in Berührung kam, nach allen Richtungen hin ausübte. Und diese geheimnisvolle Gewalt lag lediglich in der Großartigkeit seines Charakters, in der wahrhaft brennenden Liebe zur Wahrheit und einem unverwüstlichen Freiheitsgefühl, womit er die einmal erkannte Wahrheit gegen offene und verkappte Feinde und falsche Freunde rücksichtslos auf Tod und Leben verteidigte; denn alles Halbe war ihm tödlich verhaßt, ja unmöglich, er wollte die ganze Wahrheit. Wenn Gott noch in unserer Zeit einzelne mit prophetischer Gabe begnadigt, so war Görres ein Prophet, in Bildern denkend und überall auf den höchsten Zinnen der wildbewegten Zeit weissagend, mahnend und züchtigend, auch darin den Propheten vergleichbar, daß das »Steiniget ihn!« häufig genug über ihm ausgerufen wurde. Drüben in Frankreich hatte er bei den Banketten der bluttriefenden Revolution, hier in den Kongreßsälen der politischen Weltweisen las Menetekel kühn an die Wand geschrieben, und konnte sich nur durch rasche Flucht vor Kerker und Banden retten, oft monatelang arm und heimatlos umherirrend. – Seine äußere Erscheinung erinnerte einigermaßen an Steffens und war doch wieder grundverschieden. [932] Steffens hatte bei aller Tüchtigkeit, etwas Theatralisches, während Görres, ohne es zu wollen oder auch nur zu wissen schlicht und bis zum Extrem selbst die unschuldigsten Mittel des Effekts verschmähte. Sein durchaus freier Vortrag war monoton, fast wie fernes Meeresrauschen schwellend und sinkend, aber durch dieses einförmige Gemurmel leuchteten zwei wunderbare Augen und zuckten Gedankenblitze beständig hin und wider; es war wie ein prächtiges nächtliches Gewitter, hier verhüllte Abgründe, dort neue ungeahnte Landschaften plötzlich aufdeckend, und überall gewaltig, weckend und zündend fürs ganze Leben.
Neben ihm standen zwei Freunde und Kampfgenossen: Achim von Arnim und Clemens Brentano, welche sich zur selben Zeit nach mancherlei Wanderzügen in Heidelberg niedergelassen hatten. Sie bewohnten im »Faulpelz«, einer ehrbaren aber obskuren Kneipe am Schloßberg, einen großen luftigen Saal, dessen sechs Fenster mit der Aussicht über Stadt und Land die herrlichsten Wandgemälde, das herüberfunkelnde Zifferblatt des Kirchturms ihre Stockuhr vorstellte; sonst war wenig von Pracht oder Hausgerät darin zu bemerken. Beide verhielten sich zu Görres eigentlich wie fahrende Schüler zum Meister, untereinander aber wie ein seltsames Ehepaar, wovon der ruhige mild-ernste Arnim den Mann, der ewig bewegliche Brentano den weiblichen Part machte. Arnim gehörte zu den seltenen Dichternaturen, die, wie Goethe, ihre poetische Weltansicht jederzeit von der Wirklichkeit zu sondern wissen, und daher besonnen über dem Leben stehen und dieses frei als ein Kunstwerk behandeln. Den lebhafteren Brentano dagegen riß eine übermächtige Phantasie beständig hin, die Poesie ins Leben zu mischen, was denn häufig eine Konfusion und Verwickelungen gab, aus welchen Arnim den unruhigen Freund durch Rat und Tat zu lösen hatte. Auch äußerlich zeigte sich der große Unterschied. Achim von Arnim war von hohem Wuchs und so auffallender männlicher Schönheit, daß eine geistreiche Dame einst bei seinem Anblick und Namen in das begeisterte Wortspiel: »Ach im Arm ihm« ausbrach; während Bettina, welcher, wie sie selber sagt, eigentlich alle Menschen närrisch vorkamen, damals an ihren Bruder Clemens schrieb: »Der Arnim sieht doch königlich aus, er ist nicht in der Welt zum zweitenmal.« – Das letztere konnte man zwar auch von Brentano, nur in ganz anderer [933] Beziehung sagen. Während Arnims Wesen etwas wohltuend Beschwichtigendes hatte, war Brentano durchaus aufregend; jener erschien im vollsten Sinne des Worts wie ein Dichter, Brentano dagegen selber wie ein Gedicht, das, nach Art der Volkslieder, oft unbeschreiblich rührend, plötzlich und ohne sichtbaren Übergang in sein Gegenteil umschlug und sich beständig in überraschenden Sprüngen bewegte. Der Grundton war eigentlich eine tiefe, fast weiche Sentimentalität, die er aber gründlich verachtete, eine eingeborene Genialität, die er selbst keineswegs respektierte und auch von andern nicht respektiert wissen wollte. Und dieser unversöhnliche Kampf mit dem eigenen Dämon war die eigentliche Geschichte seines Lebens und Dichtens, und erzeugte in ihm jenen unbändigen Witz, der jede verborgene Narrheit der Welt instinktartig aufspürte und niemals unterlassen konnte, jedem Toren, der sich weise dünkte, die ihm gebührende Schellenkappe aufzustülpen, und sich somit überall ingrimmige Feinde zu erwecken. Klein, gewandt und südlichen Ausdrucks, mit wunderbar schönen, fast geisterhaften Augen, war er wahrhaft zauberisch, wenn er selbstkomponierte Lieder oft aus dem Stegreif zur Gitarre sang. Dies tat er am liebsten in Görres' einsamer Klause, wo die Freunde allabendlich einzusprechen pflegten; und man könnte schwerlich einen ergötzlicheren Gegensatz der damals florierenden ästhetischen Tees ersinnen, als diese Abendunterhaltungen, häufig ohne Licht und brauchbare Stühle, bis tief in die Nacht hinein: wie da die dreie alles Große und Bedeutende, das je die Welt bewegt hat, in ihre belebenden Kreise zogen, und mitten in dem Wetterleuchten tiefsinniger Gespräche Brentano mit seinem witzsprühenden Feuerwerk dazwischenfuhr, das dann gewöhnlich in ein schallendes Gelächter zerplatzte.
Das nächste Resultat dieser Abende war die »Einsiedlerzeitung«, welche damals Arnim und Brentano in Heidelberg herausgaben. Das selten gewordene Blatt war eigentlich ein Programm der Romantik; einerseits die Kriegserklärung an das philisterhafte Publikum, dem es feierlich gewidmet und mit dessen wohlgetroffenen Poträt es verziert war; andrerseits eine Probe- und Musterkarte der neuen Bestrebungen: Beleuchtung des vergessenen Mittelalters und seiner poetischen Meisterwerke, sowie die ersten Lieder von Uhland, Justinus Kerner u.a. Die merkwürdige Zeitung hat nicht lange gelebt, [934] aber ihren Zweck als Leuchtkugel und Feuersignal vollkommen erfüllt. Übrigens standen ihre Verfasser in der Tat einsiedlerisch genug über dem großen Treiben und Arnim und Brentano, obgleich sie neben Tieck, die einzigen Produzenten der Romantiker waren, wurden doch von der Schule niemals als vollkommen zünftig anerkannt. Sie strebten vielmehr, die Schule, die schon damals in überkünstlichen Formen üppig zu luxurieren anfing, auf die ursprüngliche Reinheit und Einfachheit des Naturlauts zurückzuweisen. In diesem Sinne sammelten sie selbst auf ihren Fahrten und durch gleichgestimmte Studenten überall die halbverschollenen Volkslieder für »Des Knaben Wunderhorn«, das, wie einst Herders »Stimmen der Völker«, durch ganz Deutschland einen erfrischenden Klang gab.
Auch Creuzer lebte damals in Heidelberg und gehörte, wiewohl dem genannten Triumvirat persönlich ziemlich fernstehend, durch seine Bestrebungen diesem Kreise an. Seine mystische Lehre hat, z.B. später in Lobeck, sehr tüchtige Gegner gefunden, und wir wollen keineswegs in Abrede stellen, daß die phantastische Weise, womit er die alte Götterlehre als ein bloßes Symbolum christlich umzudeuten sucht, gar oft an den mittelalterlichen Neuplatonismus erinnert und am Ende zu einer gänzlichen Auflösung des Altertums führt. Allein in Kriegszeiten bedarf ein grober Feind auch eines gewaltsamen Gegenstoßes. Erwägt man, wie geistlos dazumal die Mythologie als ein bloßes Schulpensum getrieben wurde, so wird man Creuzers Tat billigerweise wenigstens als eine sehr zeitgemäße und heilsame Aufregung anerkennen müssen. – Noch zwei andere, höchst verschiedene Heidelberger Zeitgenossen dürfen hier nicht unerwähnt bleiben; wir meinen: Thibaut und Gries. In solchen Übergangsperioden ist die sanguinische Jugend gern bereit, den Spruch: »Wer nicht mit uns ist, ist gegen uns« gelegentlich auch umzukehren und jeden für den Ihrigen zu nehmen, der nicht zum Gegenpart hält; und in dieser Lage befand sich Thibaut. Schon seine äußere Erscheinung mit den lang herabwallenden, damals noch dunkelen Locken, was ihm ein gewisses apostolisches Ansehen gab, noch mehr der eingeborene Widerwillen gegen alles Kleinliche und Gemeine unterschied ihn sehr fühlbar von dem Troß seiner eigentlichen Zunftgenossen, und mit seiner propagandistischen Liebe und Kenntnis von der Musik der alten tiefsinnigen[935] Meister berührte er in der Tat den Kreis der Romantiker. – Bei weitem unmittelbarer indes wirkte Gries. Wilhelm Schlegel hatte soeben durch das dicke Gewölk verjährter Vorurteile auf das Zauberland der südlichen Poesie hingewiesen. Gries hat es uns wirklich erobert. Seine meisterhaften Übersetzungen von Ariost, Tasso und Calderons Schauspielen treffen, ohne philologische Pedanterie und Wortängstlichkeit, überall den eigentümlichen Sinn und Klang dieser Wunderwelt; sie haben den poetischen Gesichtskreis unendlich erweitert und jene glückliche Formfertigkeit erzeugt, deren sich unsere jüngeren Poeten noch bis heut erfreuen. Auch war Gries sehr geeignet, für den Ritt in das alte romantische Land Proselyten zu machen. Er verkehrte gern und viel mit den Studenten, die Abendtafel im Gasthofe »Zum Prinzen Karl« war sein Katheder, und es war, da er sehr schwerhörig, oft wahrhaft komisch, wie da die leichten Scherze und Witze gleichsam aus der Trompete gestoßen wurden, so daß die heitere Konversation sich nicht selten wie ein heftiges Gezänke ausnahm.
Man sieht, die Romantik war dort reich vertreten. Allein sie hatte auch damals schon ihren sehr bedenklichen Afterkultus. Graf von Löben war in Heidelberg der Hohepriester dieser Winkelkirche. Der alte Goethe soll ihn einst den vorzüglichsten Dichter jener Zeit genannt haben. Und in der Tat er besaß eine ganz unglaubliche Formengewandtheit und alles äußere Rüstzeug des Dichters, aber nicht die Kraft, es gehörig zu brauchen und zu schwingen. Er hatte ein durchaus weibliches Gemüt mit unendlich feinem Gefühl für den salonmäßigen Anstand der Poesie, eine überzarte empfängliche Weichheit, die nichts Schönes selbständig gestaltete, sondern von allem Schönen wechselnd umgestaltet wurde. So durchwandelte er in seiner kurzen Lebenszeit ziemlich fast alle Zonen und Regionen der Romantik; – bald erschien er als begeisterungswütiger Seher, bald als arkadischer Schäfer, dann plötzlich wieder als aszetischer Mönch, ohne sich jemals ein eigentümliches Revier schaffen zu können. In Heidelberg war er gerade »Isidorus Orientalis« und novalisierte, nur leider ohne den Tiefsinn und den dichterischen Verstand von Novalis. In dieser Periode entstand sein frühester Roman »Guido«, sowie die »Blätter aus dem Reisebüchlein eines andächtigen Pilgrims«; jener durch seine mystische Überschwenglichkeit, diese durch ein unkatholisches Katholisieren, ganz wider Wissen und [936] Willen, die erstaunlichste Karikatur der Romantik darstellend. Er hatte in Heidelberg nur wenige sehr junge Jünger, die ihn gehörig bewunderten; aber die Gemeinde dieser Gleichgestimmten war damals sehr zahlreich durch ganz Deutschland verbreitet. Es wäre eine schwierige, ja fast unmögliche Aufgabe, jenes wunderliche Gewirr von Talent und Zopf, Lüge und Wahrheit mit wenigen Worten in einen Begriff zusammenzufassen; und doch ist dieses Treiben insofern von literarhistorischer Wichtigkeit, als dasselbe den schmählichen Verfall der Romantik vorzüglich verschuldet hat. Es sei uns daher lieber vergönnt, aus unserer frühesten Schrift (»Ahnung und Gegenwart«) die aus dem Leben gegriffene Darstellung der damaligen Salonwirtschaft hier einzuschalten, da sie, obgleich erfunden, und doch vielleicht unmittelbarer, als eine Definition, in den Zirkel einführen dürfte.
Es ist nämlich dort von einer Soiree in der Residenz die Rede, wobei die Gesellschaft über die soeben beendigte Darstellung eines lebenden Bildes in große Bewegung geraten. »Mitten in dieser Entzückung fiel der Vorhang plötzlich wieder, das Ganze verdeckend, herab, der Kronleuchter wurde heruntergelassen und ein schnatterndes Gewühl und Lachen erfüllte auf einmal wieder den Saal. Der größte Teil der Gesellschaft brach nun von allen Sitzen auf und zerstreute sich. Nur ein kleiner Teil von Auserwählten blieb im Saale zurück. Graf Friedrich« (der Held des Romans) »wurde währenddessen vom Minister, der auch zugegen war, bemerkt und sogleich der Frau vom Hause vorgestellt. Es war eine fast durchsichtig schlanke, schmächtige Gestalt, gleichsam im Nachsommer ihrer Blüte und Schönheit. Sie bat ihn mit so überaus sanften, leisen, lispelnden Worten, daß er Mühe hatte, sie zu verstehen, ihre künstlerische ›Abendandachten‹, wie sie sich ausdrückte, mit seiner Gegenwart zu beehren, und sah ihn dabei mit blinzelnden, fast zugedrückten Augen an, von denen es zweifelhaft war, ob sie ausforschend, gelehrt, sanft, verliebt, oder nur interessant sein sollten.
Die Gesellschaft zog sich nun in eine kleinere Stube zusammen. Die Zimmer waren durchaus prachtvoll und im neuesten Geschmacke dekoriert, nur hin und wieder bemerkte man einige auffallende Besonderheiten und Nachlässigkeiten, unsymmetrische Spiegel, Gitarren, aufgeschlagene Musikalien und Bücher, die auf den Ottomanen zerstreut umherlagen.
[937] Friedrich kam es vor, als hätte es der Frau von Hause vorher einige Stunden mühsamen Studiums gekostet, um in das Ganze eine gewisse unordentliche Genialität hineinzubringen.
Es hatte sich unterdes ein niedliches, etwa zehnjähriges Mädchen eingefunden, die in einer reizenden Kleidung mit langen Beinkleidern und kurzem schleiernen Röckchen darüber, keck im Zimmer herumsprang. Es war die Tochter von Hause. Ein Herr aus der Gesellschaft reichte ihr ein Tamburin, das in einer Ecke auf dem Fußboden gelegen hatte. Alle schlossen bald einen Kreis um sie, und das zierliche Mädchen tanzte mit einer wirklich bewunderungswürdigen Anmut und Geschicklichkeit, während sie das Tamburin auf mannigfache Weise schwang und berührte und ein niedliches italienisches Liedchen dazu sang. Jeder war begeistert, erschöpfte sich in Lobsprüchen und wünschte der Mutter Glück, die sehr zufrieden lächelte. Nur Friedrich schwieg still. Denn einmal war ihm schon die moderne Knabentracht bei Mädchen zuwider, ganz abscheulich aber war ihm diese gottlose Art, unschuldige Kinder durch Eitelkeit zu dressieren. Er fühlte vielmehr ein tiefes Mitleid mit der schönen kleinen Bajadere. Sein Ärger und das Lobpreisen der anderen stieg, als nachher das Wunderkind sich unter die Gesellschaft mischte, nach allen Seiten hin in fertigem Französisch schnippische Antworten erteilte, die eine Klugheit weit über ihr Alter zeigten, und überhaupt jede Unart als genial genommen wurde.
Die Damen, welche sämtlich sehr ästhetische Mienen machten, setzten sich darauf nebst mehreren Herren unter dem Vorsitz der Frau vom Hause, die mit vieler Grazie den Tee einzuschenken wußte, förmlich in Schlachtordnung und fingen an, von Ohrenschmäusen zu reden. Der Minister entfernte sich in die Nebenstube, um zu spielen. – Friedrich erstaunte, wie diese Weiber geläufig mit den neuesten Erscheinungen der Literatur umzuspringen wußten, von denen er selber manche kaum dem Namen nach kannte; wie leicht sie mit Namen herumwarfen, die er nie ohne heilige tiefe Ehrfurcht auszusprechen gewohnt war. Unter ihnen schien besonders ein junger Mann mit einer verachtenden Miene in einem gewissen Glauben und Ansehen zu stehen. Die Frauenzimmer sahen ihn beständig an, wenn es darauf ankam, ein Urteil zu sagen, und suchten in seinem Gesichte seinen Beifall oder Tadel im voraus herauszulesen, um sich nicht etwa mit etwas Abgeschmacktem zu prostituieren.
[938] Er hatte viele genialische Reisen gemacht, in den meisten Hauptstädten auf seine eigene Faust Ball gespielt, Kotzebue einmal in einer Gesellschaft in den Sack gesprochen, fast mit allen berühmten Schriftstellern zu Mittag gegessen oder kleine Fußreisen gemacht. Übrigens gehörte er eigentlich zu keiner Partei, er übersah alle weit und belächelte die entgegengesetzten Gesinnungen und Bestrebungen, den eifrigen Streit unter den Philosophen oder Dichtern: Er war sich der Lichtpunkt dieser verschiedenen Reflexe. Seine Urteile waren alle nur wie zum Spiele flüchtig hingeworfen mit einem nachlässig mystischen Anstrich, und die Frauenzimmer erstaunten nicht über das, was er sagte, sondern was er, in der Überzeugung nicht verstanden zu werden, zu verschweigen schien.
Wenn dieser heimlich die Meinung zu regieren schien, so führte dagegen ein anderer fast einzig das hohe Wort. Es war ein junger voller Mensch mit strotzender Gesundheit, ein Antlitz, das vor wohlbehaglicher Selbstgefälligkeit glänzte und strahlte. Er wußte für jedes Ding ein hohes Schwungwort, lobte und tadelte ohne Maß und sprach hastig mit einer durch dringenden gellenden Stimme. Er schien ein wütend Begeisterter von Profession und ließ sich von den Frauenzimmern, denen er sehr gewogen schien, gern den heiligen Thyrsusschwinger nennen. Es fehlte ihm dabei nicht an einer gewissen schlauen Miene, womit er niedrere, nicht so saftige Naturen seiner Ironie preiszugeben pflegte. Friedrich wußte gar nicht, wohin dieser während seiner Deklamationen so viel Liebesblicke verschwende, bis er endlich ihm gerade gegenüber einen großen Wandspiegel entdeckte. Der Begeisterte ließ sich übrigens nicht lange bitten, etwas von seinen Poesien mitzuteilen. Er las eine lange Dithyrambe von Gott, Himmel, Hölle, Erde und dem Karfunkelstein mit angestrengtester Heftigkeit vor, und schloß mit solchem Schrei und Nachdruck, daß er ganz blau im Gesicht wurde. Die Damen waren ganz außer sich über die heroische Kraft des Gedichts, sowie des Vortrags.
Ein anderer junger Dichter von mehr schmachtendem Ansehen, der neben der Frau vom Hause seinen Wohnsitz aufgeschlagen hatte, lobte zwar auch mit, warf aber dabei einige durchbohrende neidische Blicke auf den vom Lesen erschöpften Begeisterten. Überhaupt war dieser Friedrich schon vom Anfang an durch seinen großen Unterschied von jenen beiden Flausenmachern aufgefallen. Er hatte sich während der ganzen [939] Zeit, ohne sich um die Verhandlungen der andern zu bekümmern, ausschließlich mit der Frau vom Hause unterhalten, mit der er eine Seele zu sein schien, wie man von dem süßen zugespitzten Munde beider abnehmen konnte, und Friedrich hörte nur manchmal einzelne Laute, wie: ›Mein ganzes Leben wird zum Roman‹ – ›überschwengliches Gemüt‹ – ›Priesterleben‹ – herüberschallen. Endlich zog auch dieser ein ungeheures Paket aus der Tasche, und begann vorzulesen, unter andern folgendes Assonanzenlied:
›Hat nun Lenz die silbern'n Bronnen
Losgebunden:
Knie ich nieder, süßbeklommen,
In die Wunder.
Himmelreich, so kommt geschwommen
Auf die Wunden
Hast du einzig mich erkoren
Zu den Wundern?
In die Ferne süß verloren
Lieder fluten,
Daß sie, rückwärts sanft erschollen,
Bringen Kunde.
Was die andern sorgen, wollen,
Ist mir dunkel,
Mir will ew'ger Durst nur frommen
Nach dem Durste.
Was ich liebte und vernommen,
Was geklungen,
Ist den eignen tiefen Wonnen
Selig Wunder!‹
Er las noch einen Haufen Sonette mit einer Art von priesterlicher Feierlichkeit. Keinem derselben fehlte es an irgendeinem wirklich aufrichtigen kleinen Gefühlchen, an großen Ausdrücken und lieblichen Bildern. Alle hatten einen einzigen, bis ins Unendliche breit auseinandergeschlagenen Gedanken, sie bezogen sich alle auf den Beruf des Dichters und die Göttlichkeit [940] der Poesie, aber die Poesie selber, das ursprüngliche, freie, tüchtige Leben, das uns ergreift ehe wir darüber sprechen, kam nicht zum Vorschein vor lauter Komplimenten davor und Anstalten dazu. Friedrich kamen diese Poesien in ihrer durchaus polierten, glänzenden, wohlerzogenen Weichlichkeit wie der fade unerquickliche Teedampf, die zierliche Teekanne mit ihrem lodernden Spiritus auf dem Tische wie der Opferaltar dieser Musen vor. – Es ist aber eigentlich nichts künstlicher und lustiger, als die Unterhaltung einer solchen Gesellschaft. Was das Ganze noch so leidlich zusammenhält, sind tausend feine, fast unsichtbare Fäden von Eitelkeit, Lob und Gegenlob usw., und sie nennen es dann gar zu gern ein Liebesnetz. Arbeitet aber unverhofft einmal einer, der davon nichts weiß, tüchtig darin herum, so geht die ganze Spinnewebe von ewiger Freundschaft und heiligem Bunde auseinander.
So hatte auch heute Friedrich den ganzen Tee versalzen. Keiner konnte das künstlerische Weberschiffchen, das sonst fein im Takte so zarte ästhetische Abende wob, wieder recht in Gang bringen. Die meisten wurden mißlaunisch, keiner konnte oder mochte, wie beim babylonischen Baue, des anderen Wortgepräng verstehen, und so beleidigte einer den andern in der gänzlichen Verwirrung. Mehrere Herren nahmen endlich unwillig Abschied, die Gesellschaft wurde kleiner und vereinzelter. Die Damen gruppierten sich hin und wieder auf den Ottomanen in malerischen und ziemlich unanständigen Stellungen. Friedrich bemerkte bald ein heimliches Verständnis zwischen der Frau vom Hause und dem Schmachtenden. Doch glaubte er zugleich an ihr ein feines Liebäugeln zu entdecken, das ihm selber zu gelten schien. Er fand sie überhaupt viel schlauer, als man anfänglich ihrer lispelnden Sanftmut hätte zutrauen mögen; sie schien ihren schmachtenden Liebhaber bei weitem zu übersehen und selber nicht so viel von ihm zu halten, als sie vorgab und er aus ganzer Seele glaubte.«
Als aber Friedrich späterhin, noch ganz entrüstet, dieses Abenteuer einem Freunde erzählt, erwidert dieser: »Ich kann dir im Gegenteil versichern, daß ich nicht bald so lustig war, als an jenem Abende, da ich zum ersten Male in diese Teetaufe oder Traufe geriet. Aller Augen waren prüfend und in erwartungsvoller Stille auf mich neuen Jünger gerichtet. Da ich die ganze heilige Synode, gleich den Freimaurern mit Schurz und Kelle, so feierlich im poetischen Ornate dasitzen sah, konnt [941] ich mich nicht enthalten, despektierlich von der Poesie zu sprechen und mit unermüdlichem Eifer ein Gespräch von der Landwirtschaft, von Runkelrüben usw. anzuspinnen, so daß die Damen wie über den Dampf von Kuhmist die Nasen rümpften und mich bald für verloren hielten. Mit dem Schmachtenden unterhielt ich mich besonders viel. Er ist ein guter Kerl, aber er hat keine Mannesmuskel im Leibe. Ich weiß nicht, was er gerade damals für eine fixe Idee von der Dichtkunst im Kopfe hatte, aber er las ein Gedicht vor, wovon ich trotz der größten Anstrengung nichts verstand und wobei mir unaufhörlich des simplizianisch – deutschen Michels verstümmeltes Sprachgepränge im Sinne lag. Denn es waren deutsche Worte, spanische Konstruktionen, welsche Bilder, altteutsche Redensarten, doch alles mit überaus feinem Firnis von Sanftmut verschmiert. Ich gab ihm ernsthaft den Rat, alle Morgen gepfefferten Schnaps zu nehmen, denn der ewige Nektar erschlaffe nur den Magen, worüber er sich entrüstet von mir wandte. – Mit dem vom Hochmutsteufel besessenen Dithyrambisten aber bestand ich den schönsten Strauß. Er hatte mit pfiffiger Miene alle Segel seines Witzes aufgespannt und kam mit vollem Winde der Eitelkeit auf mich losgefahren, um mich Unpoetischen vor den Augen der Damen in den Grund zu bugsieren. Um mich zu retten, fing ich zum Beweise meiner poetischen Belesenheit an, aus Shakespeares ›Was ihr wollt‹ wo Junker Tobias den Malvolio peinigt, zu rezitieren ›Und besäße ihn eine Legion selbst, so will ich ihn doch anreden.‹ Er stutzte und fragte mich mit herablassender Genügsamkeit und kniffigem Gesichte, ob vielleicht gar Shakespeare mein Lieblingsautor sei? Ich ließ mich aber nicht stören, sondern fuhr mit Junker Tobias fort ›Ei Freund, leistet dem Teufel Widerstand, er ist der Erbfeind der Menschenkinder.‹ Er fing nun an, sehr salbungsvolle, genialische Worte über Shakespeare ergehen zu lassen, ich aber, da ich ihn sich so aufblasen sah, sagte weiter ›Sanftmütig, sanftmütig! Ei, was machst du, mein Täubchen? Wie geht's, mein Puthühnchen? Ei, sieh doch, komm, tuck tuck!‹ – Er schien nun mit Malvolio zu bemerken, daß er nicht in meine Sphäre gehöre, und kehrte sich mit einem unsäglich stolzen Blicke, wie von einem unerhört Tollen, von mir. Das Schlimmste war aber nun, daß ich dadurch demaskiert war, ich konnte nicht länger für einen Ignoranten gelten; und die Frauenzimmer merkten dies nicht so [942] bald, als sie mit allerhand Phrasen, die sie da und dort ernascht, über mich herfielen. In der Angst fing ich daher nun an, wütend mit gelehrten Redensarten und poetischen Paradoxen nach allen Seiten um mich herumzuwerfen, bis sie mich, ich sie, und ich mich selber nicht mehr verstand und alles verwirrt wurde. Seit dieser Zeit haßt mich der ganze Zirkel und hat mich als eine Pest der Poesie förmlich exkommuniziert.« – –
Es ist sehr begreiflich, daß dieses prätentiöse Unwesen von den Gedankenlosen und Schwachmütigen für die wirkliche Romantik gehalten, von den Hämischen aber gern benutzt wurde, den neuen Aufschwung überhaupt zu verketzern. Vergebens verspottete Tieck selbst in den wenigen Nummern seines »Poetischen Journals« jene falsche Romantik, vergebens zogen Arnim und Görres mitten durch den Lärm neue leuchtende Bahnen; das Gekläff der Wächter des guten Geschmacks, die den Mond anbellen und bei Musik heulen, war einmal unaufhaltsam erwacht. Es erschien ein »Klingkling – Almanach«, der die Lyrik der Romantiker parodisch lächerlich machen sollte, aber durch ein stupides Mißverständnis des Parodierten nur sich selbst blamierte. Der Däne Baggesen schrieb einen »Faust«, eine Komödie, worin Fichte, Schelling, Schlegel und Tieck die lächerlichen Personen spielen; an Witzlosigkeit, Bosheit und Langweiligkeit, etwa Nicolais »Werthers Leiden« vergleichbar. Garlieb Merkel endlich trommelte in seinem »Freimütigen« ein wahres Falstaffsheer zusammen, allerdings freimütig genug, denn die armutselige Gemeinheit lag ganz offen zutage. In Heidelberg selbst aber saß der alte Voß, der sich bereits überlebt hatte, und darüber ganz grämlich geworden war. Mitten in dem staubigen Gewebe seiner Gelehrsamkeit lauerte er wie eine ungesellige Spinne, tückisch auf alles Junge und Neue zufahrend, das sich unvorsichtig dem Gespinste zu nähern unterfing. Besonders waren ihm, nebst dem Katholizismus, die Sonette verhaßt. Daher konnte Arnim, obgleich er anfangs aus großmütiger Pietät mit dem vereinsamten Greise friedlich zu verkehren suchte, dennoch zuletzt nicht umhin, ihm zu Ehren in der »Einsiedlerzeitung« in hundert Sonetten den Kampf des Sonetts mit dem alten Drachen zu beschreiben.
Und auf ähnliche Weise hatte sich die Romantik überhaupt ihren Gegnern gegenübergestellt, indem sie – wie in Tiecks »Verkehrter Welt«, im »Zerbino« und »Gestiefelten Kater«, in Schlegels »Triumphpforte für den Theaterpräsidenten [943] Kotzebue«, in Mahlmanns »Hussiten vor Naumburg« – jenes hämische Treiben heiter als bloßes Material nahm und humoristisch der Poesie selbst dienstbar zu machen wußte.
Aber die Romantik war keine bloß literarische Erscheinung, sie unternahm vielmehr eine innere Regeneration des Gesamtlebens, wie sie Novalis angekündigt hat; und was man später die romantische Schule nannte, war eben nur ein literarisch abgesonderter Zweig des schon kränkelnden Baumes. Ihre ursprüngliche Intentionen, alles Irdische auf ein Höheres, das Diesseits auf ein größeres Jenseits zu beziehen, mußten daher insbesondere auch das ganze Gebiet der Kunst gleichmäßig umfassen und durchdringen. Die Revolution, die sie in der Poesie bewirkt, ist schon zu vielfach besprochen, um hier noch besonders erörtert zu werden. Der Malerei vindizierte sie die Schönheit der Religion als höchste Aufgabe, und begründete durch deutsche Jünglinge in Rom die bekannte Malerschule, deren Führer Overbeck, Philipp Veit und Cornelius waren. Derselbe ernstere Sinn führte die Tonkunst vom frivolen Sinnenkitzel zur Kirche, zu den altitalienischen Meistern, zu Sebastian Bach, Gluck und Händel zurück; er weckte auch in der Profanmusik das geheimnisvolle wunderbare Lied, das verborgen in allen Dingen schlummert, und Mozart, Beethoven und Karl Maria von Weber sind echte Romantiker. Die Baukunst endlich, diese hieroglyphische Lapidarschrift der wechselnden Nationalbildung, war grade in das allgemeine Stadium der damaligen Literatur mit eingerückt: kaserniertes Bürgerwohl mit heidnischen Substruktionen, die Antike im Schlafrock des häuslichen Familienglücks. Da erfaßte plötzlich die erstaunten Deutschen wieder eine Ahnung von der Schönheit und symbolischen Bedeutung ihrer alten Bauwerke, an denen sie so lange gleichgültig vorübergegangen. Der junge Goethe hatte zuerst vom Straßburger Münster den neuen Tag ausgerufen, sich aber leider dabei so bedeutend überschrien, daß er seitdem ziemlich heiser blieb. Besonnener und gründlicher wies Sulpice Boisserée auf den Riesengeist des Kölner Domes hin, der bekanntlich noch bis heut sein mühseliges Auferstehungsfest feiert. – Das augenfälligste Bild dieser Umwandlung aber gibt die Geschichte der Marienburg, des Haupthauses des deutschen Ritterordens in Preußen. Dieser merkwürdige Bau hatte nicht einmal die Genugtuung, in malerische Trümmer zerfallen zu dürfen, er wurde methodisch für den [944] neuen Orden der Industrieritter verstümmelt und zugerichtet. Die kühnen Gewölbe wurden mit unsäglicher Mühe eingeschlagen, in den hohen luftigen Sälen drei niedrige Stockwerke schmutziger Weberwerkstätten eingeklebt; ja um den letzten Prachtgiebel des Schlosses waren bereits die Stricke geschlungen, um ihn niederzureißen, als ein Romantiker, Max von Schenkendorf, ganz unerwartet in einer vielgelesenen Zeitschrift Protest einlegte gegen diesen modernen Vandalismus, den der damalige Minister von Schrötter, ein sonst geistvoller und für alles Große empfänglicher Mann, im Namen der Aufklärung als ein löblich Unternehmen trieb. Jetzt veränderte sich plötzlich die Szene. Schrötter, da er seinen wohlgemeinten Mißverstand begriff, hieß, fast erschrocken darüber, sofort alle weitere Zerstörung einstellen, die Weber wurden ausgetrieben, Künstler, Altertumsfreunde und Techniker stiegen verwundert in den rätselhaft gewordenen Bau hinab, wie in einem Bergwerke dort ein Fenster, hier einen verborgnen Gang oder Remter entdeckend, und je mehr allmählich von der alten Pracht zutage kam, je mehr wuchs, erst in der Provinz dann in immer weiteren Kreisen der Enthusiasmus, und erweckte, soviel davon noch zu retten war, das wunderbare Bauwerk aus seinem jahrhundertelangen Zauberschlaf.
Ein ähnliches Bewandtnis beinah hatte es mit dem Einfluß der Romantik auf die religiöse Stimmung der Jugend, indem sie gleichfalls den halbvergessenen Wunderbau der alten Kirche aus seinem Schutte wieder emporzuheben strebte. Allein was dort genügte, konnte hier unmöglich ausreichen, denn die Romantiker, wenn wir Novalis, Görres und Friedrich Schlegel ausnehmen, taten es nicht um der Religion, sondern um der Kunst willen, für die ihnen der Protestantismus allzu geringe Ausbeute bot; ein Grundthema, das in »Sternbalds Wanderungen«, in Tiecks »Phantasien« und in den »Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders« durch die ganze Klaviatur der Künste hindurch auf das anmutigste variiert ist. Wir wollen daher auf die Konversion einiger, durch die Musik, die Pracht des äußeren Gottesdienstes u.dgl.m. bekehrter protestantischer Jünglinge keineswegs ein besonderes Gewicht legen. Der ganze Hergang aber erinnert lebhaft an Schillers Grundsatz von der ästhetischen Erziehung des Menschengeschlechts; wir meinen die indirekte Macht, welche diese katholisierende Ästhetik auf die katholische Jugend selber ausgeübt.
[945]Es ist nicht zu leugnen, ein großer Teil dieser, fast überall protestantisch geschulten Jugend ist in der Tat durch die Vorhalle der Romantik zur Kirche zurückgekehrt. Die katholischen Studenten, die überhaupt etwas wollten und konnten, erstaunten nicht wenig, als sie in jenen Schriften auf einmal die Schönheit ihrer Religion erkannten, die sie bisher nur geschmäht oder mitleidig belächelt gesehen. Der Widerspruch, in den sie durch diese Entdeckung mit der gemeinen Menge gerieten, entzündete ihren Eifer, voll Begeisterung brachten sie die alt-neue Lehre von der Universität mit nach Hause, ja sie kokettierten zum Teil damit in der Philisterwelt, wo man über die jungen Zeloten verwundert den Kopf schüttelte, mit einem Wort: Das Katholische wurde förmlich Mode. Die Mode ging nach Art aller Mode bald vorüber, aber der einmal angeschlagene Ton blieb und hallte in immer weiteren Kreisen nach, und daraus entstand im Verlauf der immer ernster werdenden Zeiten endlich wieder eine starke katholische Gesinnung, die der Romantik nicht mehr bedarf.
So war die Romantik bei ihrem Aufgange ein Frühlingshauch, der alle verborgenen Keime belebte, eine schöne Zeit des Erwachens, der Erwartung und Verheißung. Allein sie hat die Verheißung nicht erfüllt, und weil sie sie nicht erfüllte, ging sie unter, und wie und warum dies geschehen mußte, haben wir bereits an einem anderen Orte ausführlich nachzuweisen versucht. Als jedoch auf solche Weise die Ebbe kam und jene Springfluten zurücktobten, wurde auch der alte Boden wieder trockengelegt, den man für neuentdecktes Land hielt. Der zähe Rationalismus, die altkluge Verachtung des Mittelalters, die Lehre von der alleinseligmachenden Nützlichkeit, wozu die sublime Wissenschaft nicht sonderlich nötig sei; all das vorromantische Ungeziefer, das sich unterdes im Sande eingewühlt, kam jetzt wieder zum Vorschein und heckte erstaunlich. Dennoch war aber der bloßgelegte Boden nicht mehr ganz derselbe. Die Romantik hatte einige unvertilgbare Spuren darauf hinterlassen; sie hatte durch ihr beständiges Hinweisen auf die nationale Vergangenheit die Vaterlandsliebe, durch ihren Experimental – Katholizismus ein religiöses Bedürfnis erweckt. Allein diese Vaterlandsliebe war durch die abermalige Trennung vom Mittelalter ihres historischen Bodens und aller nationalen Färbung beraubt, und so entstand aus dem alten [946] abstrakten Weltbürgertum die ebenso abstrakte Deutschtümelei. Andrerseits konnte das wiederangeregte religiöse Gefühl natürlicherweise weder von dem romantischen Katholisieren, noch von dem wiedererstandenen Rationalismus befriediget werden, und flüchtete sich daher bei den Protestanten zu dem neuesten Pietismus.
Von diesen veränderten Zuständen mußten denn auch zunächst die Universitäten wieder berührt werden; sie verloren allmählich ihr mittelalterliches Kostüm und suchten sich der modernen Gegenwart möglichst zu akkommodieren. Das deutsche Universitätsleben war bis dahin im Grunde ein lustiger Mummenschanz, in exzeptioneller Maskenfreiheit die übrige Welt neckend, herausfordernd und parodierend; eine Art harmloser Humoristik, die der Jugend, weil sie ihr natürlich ist, großenteils gar wohl anstand. Jetzt dagegen, durch die halbe Schulweisheit und Vielwisserei aufgeblasen, und von der epidemischen neuen Altklugheit mit fortgerissen, begnügten sie sich nicht mehr, sich an den dünkelhaften Torheiten der Philisterwelt lachend zu ergötzen; sie wollten sich über die Welt stellen, sie meistern und vernünftiger einrichten. Dazu kam, daß sie in den Befreiungskriegen wirklich auf dem Welttheater rühmlich mitagiert hatten, und nun auch das Recht beanspruchten, die übrigen Akte des großen Weltdramas mit fortzuspielen, mit einem Worte: Politik zu machen. Das war aber höchst unpolitisch, denn auf dieser komplizierten Bühne fehlte es glücklicherweise der Jugend durchaus an der unerläßlichen Kenntnis, Erfahrung und Routine. Die Burschenschaften, die zunächst aus jener inneren Umwandlung der Universitäten hervorgingen, waren ohne allen Zweifel ursprünglich gut und ernst gemeint und mit einem nicht genug zu würdigenden moralischen Stoizismus gegen die alte Roheit und Sittenlosigkeit gerichtet. Anstatt aber nur erst sich selbst gehörig zu befestigen, wollten sie sehr bald im leicht erklärlichen Eifer des guten Gewissens auch die kranken Staaten durch utopische Weltverbesserungspläne regenerieren, die man am füglichsten als unschädliche Donquijotiaden hätte übersehen sollen, wenn sich nicht, wie es scheint, nun die wirklichen Politiker mit dareingemischt, und die jugendliche Unbefangenheit für ihre ehrgeizigen und unlauteren Zwecke gemißbraucht hätten. Und so wurden die Studenten, die so lange heiter die Welt düpiert hatten, nun selber von der undankbaren Welt düpiert.
[947] Als ein anderes Symptom der neuesten Zeit haben wir vorhin den bei den Protestanten wiedererwachten Pietismus bezeichnet. Man könnte ihn, da er wesentlich auf der subjektiven Gefühlsauffassung beruht, füglich die Sentimentalität der Religion nennen. Daher der absonderliche Haß der Pietisten gegen das strenge positive Prinzip der Kirche, die von einem subjektiven Dafürhalten und Umdeuten der Glaubenswahrheiten nichts weiß. Dieser moderne Pietismus ist jetzt auf den deutschen Universitäten sehr zahlreich vertreten, nicht eben zum sonderlichen Heile der Jugend. Denn der nackte Rationalismus war an sich so arm, trocken und trostlos, daß er ein tüchtiges Gemüt von selbst zur resoluten Umkehr trieb. Der weichliche, sanft einschmeichelnde Pietismus dagegen, zumal wenn er Mode wird und zeitliche Vorteile in Aussicht stellt, erzeugt gar leicht heuchlerische Tartüffe, oder, wo er tiefer gegriffen, einen geistlichen Dünkel und Fanatismus, der das ganze folgende Leben vergiftet. Eine Sekte dieser Pietisten gefällt sich darin, grundsätzlich allen Zweikampf abzulehnen, und sich dies als einen Akt besonderen Mutes anzurechnen. Allein dieser passive Mut, die gemeine Meinung zu verachten und gelassen über sich ergehen zu lassen, ist noch sehr verschieden von der persönlichen Tapferkeit, die jeden Jüngling ziert. Es ist ganz löblich, aber noch lange nicht genug, das Unrechte hinter dem breiten Schilde der vortrefflichsten Grundsätze von sich selber abzuwehren; das Böse soll direkt bekämpft werden. Überhaupt aber darf hierbei nicht übersehen werden, daß dem Zweikampf ein an sich sehr ehrenwertes Motiv zum Grunde liegt: das der gesunden Jugend eigentümliche, spartanische Gerechtigkeitsgefühl, das sich ohne innere Einbuße nicht unterdrücken läßt. Es gibt fast unsichtbare Kränkungen, infam, perfid und boshaft, die bis in das innerste Mark verwunden, und doch, eben weil sie juridisch ungreifbar sind, vom Gesetz nicht vorgesehen werden können. Dies ist der eigentliche Sitz des Übels, der Kampfplatz, wo der Zweikampf, wie früher die Gottesgerichte, ausgleichend eintritt. Dasselbe gilt im großen auch von den Kriegen, diesen barbarischen Völkerduellen um Güter, die das materielle Staatsrecht nicht zu würdigen und zu schützen vermag, und zu denen wir namentlich die Nationalehre rechnen. – Demungeachtet sind wir weit entfernt, die ganz unchristliche Selbsthilfe des Zweikampfs irgendwie verteidigen zu wollen, wünschen vielmehr vorerst nur eine genügende Vermittelung [948] und Beseitigung seines tieferen Grundes, ohne welche, nach menschlichem Ermessen, alle Verbotsgesetze dagegen stets illusorisch bleiben werden.
Mit der neuen Umwandelung des Zeitgeistes hängt auch der Grundsatz wesentlich zusammen, die Universitäten möglichst in die großen Residenzstädte zu verlegen. Wir wollen keineswegs in Abrede stellen, daß die großen Städte mit ihrem geselligen Verkehr, mit ihren Kunstschätzen, Bibliotheken, Museen und industriellen Anstalten eine sehr bequeme Umschau, eine wahre Universitas alles Wissenswürdigen bieten. Allein es frägt sich nur, ob dieser Vorteil nicht etwa durch Nachteile anderer Art wieder neutralisiert, ja überwogen wird? Uns wenigstens scheint das alles mehr für die Professoren, als für die Studenten geeignet zu sein. Es kommt für die letzteren auf der Universität doch vorzüglich nur auf eine Orientierung in dem Labyrinth der neuen Bildung an. Auf jenen großen Stapelplätzen der Kunst und Wissenschaft aber erdrückt und verwirrt die überwältigende Masse des Verschiedenartigsten, gleichwie schon jeder Reisende, wenn er eine reiche Bildergalerie hastig durchlaufen hat, zuletzt selbst nicht mehr weiß, was er gesehen; und namentlich die großen Bibliotheken kann nur der Gelehrte, der sich bereits für ein bestimmtes Studium entschieden und gehörig vorbereitet hat, mit Nutzen gebrauchen. Wie aber soll der, für alles gleich empfängliche Jüngling mitten zwischen den nach allen Seiten auslaufenden Bahnen sich wahrhaft entscheiden, wo jedes natürliche Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler, wie es in kleinen Universitätsstädten stattfindet, durch den betäubenden Lärm und die allgemeine Zerfahrenheit der Residenz ganz unmöglich wird? Auch hier also droht abermals ein vager Dilettantismus und der lähmende Dünkel der Vielwisserei. Bei der Jugend ist eine kecke Wanderlust, sie ahnt hinter dem Morgenduft die wunderbare Schönheit der Welt; sie sich selbsttätig zu erobern ist ihre Freude. In den großen Städten aber fängt die Jugend gleich mit dem Ende an: aller Reichtum der Welt liegt in der staubigen Mittagschwüle schon wohlgeordnet um sie her, sie braucht ihren Fauteuil nur gähnend da oder dorthin zu wenden, sie hat nichts mehr zu wünschen und zu ahnen – und ist blasiert. Und auch in sittlicher Hinsicht ist der Gewinn nur illusorisch. In den kleinen Universitätsstädten herrscht allerdings oft eine arge Verwilderung, und die Studenten werden in den großen Städten gewiß ruhiger und manierlicher [949] sein. Allein dort erscheint die Liederlichkeit in der Regel so handgreiflich, bestialisch roh und abschreckend, daß jedes gesunde Gemüt von selbst ein Ekel davor überkommt, während hier die schön übertünchten und ästhetisierten Pestgruben wohl auch die Besseren mit ihrem Gifthauch betäuben. – Unsere Universitäten sind endlich bisher eine Art von Republik gewesen, die einzigen noch übriggebliebenen Trümmer deutscher Einheit, ein brüderlicher Verein ohne Rücksicht auf die Unterschiede der Provinz, des Ranges oder Reichtums, wo den Niedriggeborenen die Überlegenheit des Geistes und Charakters zum Senior über Fürsten und Grafen erhob. Diese uralte Bedeutung der Universitäten wird von der in ganz andern Bahnen kreisenden Großstädterei notwendig verwischt, die Studenten werden immer mehr in das allgemeine Philisterium eingefangen und frühzeitig gewöhnt, die Welt diplomatisch mit Glacéhandschuhen anzufassen.
Dies halten wir aber, zumal in unserer materialistischen Zeit, für ein bedeutendes Unglück. Denn was ist denn eigentlich die Jugend? Doch im Grunde nichts anderes, als das noch gesunde und unzerknitterte, vom kleinlichen Treiben der Welt noch unberührte Gefühl der ursprünglichen Freiheit und der Unendlichkeit der Lebensaufgabe. Daher ist die Jugend jederzeit fähiger zu entscheidenden Entschlüssen und Aufopferungen, und steht in der Tat dem Himmel näher, als das müde und abgenutzte Alter; daher legt sie so gern den ungeheuersten Maßstab großer Gedanken und Taten an ihre Zukunft. Ganz recht! denn die geschäftige Welt wird schon dafür sorgen, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen und ihnen die kleine Krämerelle aufdrängen. Die Jugend ist die Poesie des Lebens, und die äußerlich ungebundene und sorgenlose Freiheit der Studenten auf der Universität die bedeutendste Schule dieser Poesie, und man möchte ihr beständig zurufen: sei nur vor allen Dingen jung! Denn ohne Blüte keine Frucht.
[950]