10.

Im Herbste, wann die Trauben glühn
Und froh die Keltern schallen,
Da hebt der Sinn mir an zu blühn,
Das Blut mir an zu wallen.
Es treibt das Herz mich hin und her
Und zuckt wie eine Flamme;
Verleugnen kann ich's nimmermehr,
Daß ich von Winzern stamme.
Denn kam ich auch am Ostseestrand
Das Licht der Welt zu suchen;
Mein Stammhaus steht im Frankenland
Im Dorf zu Wachenbuchen.
Da lauscht aus Rebenlaub hervor
Das Zeichen der Familie,
Auf hellem Schild hoch überm Tor
Die rot' und weiße Lilie.
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Und ringsumher ist Weingebiet,
Und goldne Ströme rinnen,
Es klingt der Tanz, es schallt das Lied
Der ros'gen Winzerinnen.
Erst meinen Vater trieb sein Stern
Zur Hansastadt im Norden,
Wo er im Weinberg dann des Herrn
Ein rüst'ger Winzer worden.
Und wie mein Urahn Most geschenkt
Für durst'ger Wandrer Kehlen,
Hat er mit Gnadenwein getränkt
Die gottesdurst'gen Seelen.
Wohl zog sein hoher Geist auch mich
Auf ernste Lebensbahnen,
Doch stets, wann's herbstet, rühret sich
In mir das Blut der Ahnen.
Und Ruh' noch Rast nicht hat mein Sinn,
Bis ich im Kreis der Zecher
Geküßt die schönste Winzerin,
Geleert den vollsten Becher.

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TextGrid Repository (2012). Geibel, Emanuel. 10. [Im Herbste, wann die Trauben glühn]. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-B725-F