Gnomen

1.

Bist du der Selbsucht los, so gehorche der ahnenden Seele,
Und das Bezweifeln der Welt störe dir nimmer den Weg;
Folge getrost. Am schroffesten Hang wallt sicher die Unschuld,
Durch die Grube des Leun führt sie beschirmend ein Gott.
Selber das Unglück wandelt sich ihr zur erhebenden Staffel;
Ging doch aus finsterer Haft Joseph im Purpur hervor.
Aber fürchte die Schuld und mehr noch fürchte den Hochmut,
Der wie berauschender Wein rasch dir die Sinne verwirrt.
Auch Alexander erlag, der gewaltige Liebling des Schicksals,
Eh' sein Ziel er erreicht, weil er der Götter vergaß.

2.

Großes vermag der Verstand, er ersinnt und bildet und ordnet,
Aber das Kunstwerk schweigt, aber die Ordnung ist tot.
[395]
Prangt auch hehr das Gebild' in der Glieder entzückendem Gleichmaß:
Nimmer vom Marmorgestell springt es errötend herab,
Nimmer bewegt sich die atmende Brust, von der schwellenden Lippe
Fließt, uns das Herz zu erfreun, nie der empfindende Laut;
Ach, und des Auges erstarrtes Gewölb' klagt traurig und glanzlos:
»Warum gabst du den Leib, wenn du die Seele nicht gibst?«
Willst du Lebendiges zeugen, so schaffe, wie Gott schuf – liebend;
Göttlichen Odem beschert einzig die Liebe dem Werk.

3.

Über dem schlummernden Kind, dem ergötzlichen Spiele des Knaben
Hält mit lächelnder Stirn schirmend ein Genius Wacht;
Liebreich gönnet dem redlichen Sinn, dem beschränkten, der Zufall,
Was er bedarf, und im Spiel ebnet er gern ihm die Bahn.
Doch nur selten erscheint aus den Wolken ein Helfer dem Großen;
Denn ihm gab die Natur selber ein Auge zu schaun,
Schuf ihm Flügel, die Welt zu beherrschen, und senkt' ihm der Ahnung
Göttliche Kraft in die Brust, daß sie ein Steuer ihm sei.
Wohl ihm, ehrt er das hohe Geschenk! Doch trübt er es frevelnd:
Leicht, ein erblindeter Aar, schwankt er hinab ins Geklüft.
Ach, drum sehn wir so oft vom Sturm die Heroen verschlagen
Und das gefeierte Haupt schwer von den Blitzen versengt.
Aber getrost, du vernahmst das Gesetz. In düsterer Stunde
Wahre den heiligen Mut, wahr' in beglückter das Maß;
[396]
Horch, dann schmilzt dir der Parze Gesang zu flötendem Wohllaut,
Und du versühnst das Geschick, dem du dich heiter ergibst.

4.

Wer sich selbst zu bescheiden vermag aus Liebe zum Ganzen,
Den vor allen im Staat preis' ich als groß und als frei.
Denn ihm ward das Gesetz zum eigenen Willen, und freudig
Übt er aus innerstem Trieb, was ihn beglücket, das Maß.
Jeglichem leistet er gern das Gebührende, daß er es selber
Wieder empfange, vom Recht, dem er sich beuget, beschützt.
Lebte jeglicher so vom König herunter zum Bauern:
Ach, kein bitterer Zwist spaltete schmählich das Land,
Sondern wir ständen vereint, wie ein Forst hochragender Eichen,
Auf uns selber, dem Feind schrecklich und glücklich am Herd.

5.

Sei nur rein wie der Schwan, und es sprossen von selber die Flügel
Dir zu begeistertem Schwung hoch an den Schultern empor,
Und du erkennest die Welt und dich selbst und den waltenden Vater,
Himmel und Erde beherrscht klar der erleuchtete Blick.
Aber befleckst du mit Staube die göttlich entsprungene Seele,
Zieht dich ein ewig Gesetz wieder zum Staube zurück.
Einzelnes magst auch dann du vernehmen. Die himmlische Gabe
Wirket entweiht selbst fort; aber der Genius schweigt.
Wie sich der Mond nur voll im lautersten Strome bespiegelt,
Ruht still schaffend der Gott einzig im reinsten Gemüt.

[397] 6.

Vieles erlernest du wohl, doch nimmer erlernst du das Große,
Und das Gewaltige gibt einzig der Strahl der Geburt.
Wem an die Wiege der Gott nicht trat mit segnender Lippe,
Nach der Krone des Glücks streckt er vergebens die Hand.
Männliche Tugend erringst du dir selbst, unendliches Wissen
Kaufst du mit Schweiß, es gehorcht deiner Bemühung der Stoff;
Aber die Blüte des Seins – nenn's Schönheit, Genius, Liebe,
Nenn' es Begnadung – umsonst wie der ambrosische Tau,
Unerbeten fällt es herab auf die Stirn des Erwählten,
Daß sie in seliger Scham unter dem Lorbeer erglüht.

7.

Heilig acht' ich den Wein, und immer, sobald er die Lippen
Herzerfreuend mir netzt, denk' ich des Lebens dabei.
Denn vom Lichte gezeugt und der alles ernährenden Erde
Grüßt in des Lenzes Beginn schüchtern die Rebe den Tag;
Und dann küßt sie der Strahl, da weint sie. Aber die Zähren
Sind noch süß und allein quellenden Lebens Symbol;
Bald auch schießen die Blätter heraus in grünender Jugend,
Und allmählich am Stock drängt sich die Traube hervor.
Langsam reift sie, vom Glanze gesäugt, bis endlich im Herbste
Voll süßschwellenden Safts purpurn den Winzer sie lockt.
Wenn sich das Laub dann senkt und den Tod vorahnend noch einmal
Prächtig in Farben erglüht, naht er mit blinkendem Erz;
Und vom Stamme gelöst und gelöst von der nährenden Mutter
Wird die gezeitigte Frucht unter die Kelter getan.
Ach, dann duldet sie viel; der Geburt ursprüngliche Reinheit
[398]
Geht ihr verloren, sie weint blutige Tränen des Leids.
Aber das Fremde bewältigt sie nicht, und die Strahlen der Sonne,
Die sie als Kind einsog, regen sich mächtig in ihr,
Bis sie in gärendem Kampf die gemeineren Stoffe bezwungen
Und als Feuer und Geist wiedergeboren erscheint.
Seht, da fasset der Priester den Wein in goldene Schalen,
Und ein geläutert Geschenk bringt er den Göttern ihn dar.

8.

Groß mit den Großen zu sein ist göttliches Los. An Achilleus
Lehnt sich Patroklos im Kampf, wenn er um Ilium braust;
Teukros entsendet den Pfeil umschirmt vom Schilde des Ajax,
Nestor sitzet, der Greis, neben Odysseus im Rat;
Und dann wandelt Homer mit der goldenen Harfe. Begeistert
Mit unsterblichem Preis krönt er der Helden Gelock.
Aber in kleinlicher Zeit, einsam wie ein Adler, das Große
Kühn zu versuchen und, wenn blutend der Fittich versagt,
Noch mit sterbendem Blick nach dem heiligen Ziele zu deuten,
Wahrlich, ähnlichen Ruhms dünkt es mich würdig zu sein.

9.

Daran kranket die Zeit, daß sie stets mit kleinlichen Mitteln
Spielt und versucht und dabei Großes zu schaffen vermeint.
Niemand wagt den geradesten Weg; man fügt sich dem Weltlauf,
Da sich der Weltlauf doch stets dem Gewaltigen fügt.
Freilich beschränkterer Sinn bebt scheu vor stürmischer Meerfahrt,
[399]
Weil er im Wetter sich nicht kräftig zu steuern getraut;
Aber dem Genius schenkte der Gott zur Schwester die Kühnheit,
Und durch Klippen und Sturm führt er zum Hafen das Schiff.
Nicht in den Abgrund späht er mit Angst; er erhebt zu den Sternen
Mutig das Haupt. Noch nie haben die Sterne getäuscht.

10.

Glaubt mir das eine: Das Recht ist nicht hier, und das Recht ist nicht dorten,
Aber der feurige Streit stählet und zügelt die Kraft.
Wie kreuzweis im Geweb' sich die feindlichen Fäden begegnen,
Wirkt sich der Tag aus dem Kampf zweier Gedanken das Kleid.
Rastlos rollet der Wagen der Zeit, doch daß er nicht stürze,
Hat ihm der waltende Geist doppelte Lenker gesellt.
Geißelt der eine zu wild das Gespann in die stäubende Rennbahn,
Hält der andre dafür straffer den hemmenden Zaum.
Und so rücken wir dennoch vom Ort, und der Gott der Geschichte
Fügt es nach ew'gem Gesetz anders, als beide gedacht.

11.

Wie der purpurne Wein, wenn die blinkende Schale zersprungen,
Also zerfließet der Geist ohne des Wortes Gefäß,
Und nicht hält er dir stand. Doch bildet' er still sich der Rede
Köstlichen Leib: wie ein Freund spricht er vertraulich dich an.
Durch ein Wunder erschließt sich das unsichtbare Geheimnis,
Und das lebendige Wort zeuget lebendige Tat. –
[400]
Über den Wassern schwebte der Geist, doch als er das Wort ward,
Stieg aus dem Chaos der Nacht herrlich die Schöpfung empor.

12.

Kühl zu deinem Verstand spricht jegliche Lehre; sie bleibt dir
Ewig ein Totes, sobald fremd sie von außen dir kommt.
Was dir ein anderer gibt, und wär' es das Köstlichste, frommt nicht,
Wenn du den schlafenden Klang tief in der Seele nicht trugst.
Wunder begreifen sich nicht, du mußt sie im Innern erleben,
Jeglicher Glaub' ist ein Wahn, den du nicht selber erfuhrst;
Nur was selbst du erkennst als ein Göttliches, das dir herabkam,
Hat, ein lebendiger Hauch, dich zu verwandeln die Macht.

13.

Jegliches gleichet sich aus. Die Glücklichen sind wie die Kinder,
Froh durchs sonnige Tal wandeln sie ohne Bedacht;
Und sie brechen die purpurne Frucht und singen im Schatten
Mühlos heiter, es deucht ihnen das Leben ein Traum.
Aber das Unglück reift die köstliche Perle der Weisheit,
Schmerzlich gefurcht ist die Stirn, drin der Gedanke sich zeugt.
Was dir gelang, leicht nimmst du es hin und genießest es achtlos,
Was du verfehltest, es schließt immer ein Rätsel dir auf.
Drum so du scheitertest, grolle du nie. Aus jeglichem Schiffbruch
Geht der erhabene Geist größer und reicher hervor.

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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2012). Geibel, Emanuel. Gnomen. TextGrid Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-B903-B