Sprüche

1.

Laß dich nicht irren von Kritikastern
Und wie du bist, so gib dich ganz.
Trägst du nicht Rosen, so trägst du Astern,
Sie finden wohl auch ihre Stell' im Kranz.

2.

Was gereift in stiller Stunde,
Erst ein aufhorchsames Ohr
Lockt aus deines Busens Grunde
Wie der Lenz die Saat hervor.

3.

Das ist die Wirkung edler Geister:
Des Schülers Kraft entzündet sich am Meister;
Doch schürt sein jugendlicher Hauch
Zum Dank des Meisters Feuer auch.

4.

Sprich nicht, wie jeder seichte Wicht,
Von Heuchelei mir stets und Lüge.
Wo ist ein reich Gemüt, das nicht
Den Widerspruch noch in sich trüge?

5.

Süß ist's, den Reiz der Welt zu saugen,
Wenn Herz und Sinn in Blüte stehn,
Doch süßer noch, mit deines Kindes Augen
Die Welt noch einmal frisch zu sehn.

[334] 6.

Das ist das alte Lied und Leid,
Daß dir Erkenntnis erst gedeiht,
Wenn Mut und Kraft verrauchen.
Die Jugend kann, das Alter weiß.
Du kaufst nur um des Lebens Preis
Die Kunst, das Leben recht zu brauchen.

7.

Verruchtes Dilettantenwesen!
Hat einer wo ein gut Gedicht gelesen,
Zerpflückt er flugs den schönen Strauß,
Tut Unkraut, Stroh und Disteln drunter
Und bindet sich vergnügt und munter
Im Umsehn einen neuen draus.

8.

Er schoß nach dem Hasen und schoß vorbei,
Den Hirsch zufällig traf sein Blei;
Da wird er nun von Jungen und Alten
Für einen gewaltigen Schützen gehalten.

9.

Tu nur brav Heu in die Raufen
Und miß den Hafer nicht knapp,
So kommt der Schimmel gelaufen,
Und rufst du ihn gleich: Rapp!

10.

's ist eben manchen Leuten eigen,
Daß ihnen Schlichtes nicht gerät;
Sie müssen immer ins Fenster steigen,
Auch wenn die Haustür offen steht.

11.

Dein Ja sei Ja, dein Nein sei Nein,
Und scharf das Schwert an deiner Lende;
[335]
Die beste Staatskunst bleibt's am Ende
Doch, tapfer und gerecht zu sein.

12.

Wer da fährt nach großem Ziel,
Lern' am Steuer ruhig sitzen,
Unbekümmert, wenn am Kiel
Lob und Tadel hochauf spritzen.

13.

Sollen die Gäste dir kommen zum Schmause,
Bewirte sie vom Besten frisch;
Wer denkt, er hab' es besser zu Hause,
Der setzt sich nicht an deinen Tisch.

14.

Wie oft wird in politischen Fragen
Dein Herz die Antwort dir versagen!
Das Recht ist meistens zweifelhaft;
Da hältst du's denn mit Mut und Kraft.

15.

Die Zeit zum Handeln jedesmal verpassen
Nennt ihr: die Dinge sich entwickeln lassen.
Was hat sich denn entwickelt, sagt mir an,
Das man zur rechten Stunde nicht getan?

16.

Stets zweischneidig ist große Kraft;
Willst du sie fesseln deswegen?
Lieber, was sie dir Übles schafft,
Nimm in den Kauf zum Segen.

17.

O miß die Welt nicht mit dem Blick
Kurzsicht'ger Tagespolitik!
Sie sieht im Reichtum der Naturen
Nur schwarz und weiße Schachfiguren.

[336] 18.

Es ist der Glaub' ein schöner Regenbogen,
Der zwischen Erd' und Himmel aufgezogen,
Ein Trost für alle, doch für jeden Wandrer
Je nach der Stelle, da er steht, ein andrer.

19.

Du sollst nach frommer Sitte
Die Hände betend ineinander legen,
Die Hand andächt'ger Bitte
In die des Danks für den empfangnen Segen.

20.

Willst du den Unsinn überwinden,
Lern' ein Symbol der Wahrheit finden;
Die Welt wird nie das Abgeschmackte
Aufgeben für das bloß Abstrakte.

21.

Wollt ihr in der Kirche Schoß
Wieder die Zerstreuten sammeln,
Macht die Pforten breit und groß,
Statt sie selber zu verrammeln!

22.

Durstig stehn sie am Gewässer,
Stehn und streiten wutentbrannt:
Trinkt sich's aus der Schale besser
Oder aus der hohlen Hand?

23.

Religion und Theologie
Sind grundverschiedene Dinge,
Eine künstliche Leiter zum Himmel die,
Jene die angeborne Schwinge.

[337] 24.

Mächtigen Festschritt lehre die Sprache,
Leichthinschwebenden Tanz im Gedicht,
Aber brich ihr die Glieder nicht!
Seiltänzerkünste sind nicht ihre Sache.

25.

Ein herzlich Lied gedeiht wohl still
In Busch und Waldesgrüne,
Doch wer Tragödien dichten will,
Braucht Weltverkehr und Bühne.

26.

Daß dir zu hoch kein Gipfel ist,
Ei, laß mich's an der Tat erproben!
Statt deine Schwingen mir zu loben
Fliege, so du ein Adler bist.

27.

Wohl kommt's, wenn einer ein Bildwerk schnitzt,
Daß rings umher der Abfall spritzt,
Aber man wirft doch die Späne
Dem Publikum nicht in die Zähne.

28.

Was hilft's, auf Flügeln der Reklame
Ein Stündlein flattern durch die Welt,
Wenn schließlich doch, o Tor, dein Name
Wie Ikarus ins Wasser fällt?

29.

Soll dir frommen ein Schlag, das merke,
Führ' ihn gleich mit entscheidender Stärke!
Nur nichts Halbes, wo dir bewußt,
Daß du das Ganze vertreten mußt!

[338] 30.

Loszuwerden den alten Zopf
Ist ein vernünftig Begehren,
Aber wer wird darum den Kopf
Gleich rattenkahl sich scheren!

31.

Am guten Alten
In Treuen halten,
Am kräft'gen Neuen
Sich stärken und freuen,
Wird niemand gereuen.

32.

Wenn das Glück, die leichte Dirne,
Launisch dir den Rücken kehrt,
Hebe doppelt kühn die Stirne,
Gürte doppelt fest das Schwert.
Rasch verwelkt ein Kranz aus Zweigen,
Die du spielend dir gewannst;
In der Not erst magst du zeigen,
Wer du bist, und was du kannst.

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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2012). Geibel, Emanuel. Sprüche. TextGrid Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-BB88-2