Romanze vom Werwolf

1.

Nach dem Walde zog der Ritter,
Früh vor Tage zog er aus,
Sich ein Wildpret zu erjagen,
Trüg' es Klauen oder Flaum.
Da erkannt' er auf der Heide
Einer Wölfin Spur im Tau,
Und die frische Spur verfolgend
Durch Gebüsch und Farrenkraut
Fand er eine schöne Jungfrau
Schlafend unterm Eichenbaum.
Von des Frührots ersten Strahlen
Lag sie rosig angehaucht,
Nur in ihres Goldhaars Schleier
Eingehüllt und grünes Laub.
Da sie reizend ihn bedünkte,
Weckt' er sie mit Küssen auf,
Deckte sie mit seinem Mantel,
Hub sie auf sein Roß hinauf,
Und in seinen Armen führt' er
Als Gemahl sie in sein Haus.
Sieben Monden dort in Freuden
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Wohnten sie als Mann und Frau,
Und es war umher im Lande
Kein beglückter Paar zu schaun.
Nächtens teilte sie sein Lager,
Tags versah sie Hof und Haus,
Spann den Flachs und wob das Linnen,
Sang dazu und schwatzte traut.
Nur befragt um ihre Herkunft,
Schüttelte sie stets das Haupt,
Und beschwor er sie zu reden,
Brach sie laut in Weinen aus.

2.

Als die Zwölfnacht nun herankam
Und der Reif im Forste lag,
Bat sie ihn, die Jagd zu meiden,
Bis erfüllt das alte Jahr,
Und, wiewohl es schwer ihn dünkte,
Sagt' er zu, was sie verlangt.
Aber einst, da gegen Abend
Sie verfallen war in Schlaf,
Zog er, seine Lust zu büßen,
Dennoch heimlich aus zur Jagd.
Lange schweift' er durch die Heide,
Ohne daß ein Wild er traf,
Bis er eine Wölfin endlich
Laufen sah am Waldeshang.
Die bedünkt' ihn gute Beute,
Schleunig nahm er seinen Stand,
Und den schärfsten seiner Pfeile
Schoß er, sie zu töten, ab.
Doch mit Winseln in die Büsche
Sprang das Untier und entrann,
Und umsonst, es aufzufinden,
Spürt' er durch den ganzen Wald.
Aber als er drauf nach Hause
Kam in später Mitternacht,
[374]
Fand er dort in Blute schwimmend
Auf dem Lager sein Gemahl,
Wie sie wimmernd aus der Seite
Einen scharfen Pfeil sich wand.
Schmerzlich schrie sie auf zum Himmel,
Als sie den Geliebten sah,
Schaute dann, die Lippen regend,
Kummervollen Blicks ihn an,
Doch bevor sie reden konnte,
War ihr Herz im Tod erstarrt.
Bei der Leiche stand der Ritter
Von Entsetzen übermannt,
Denn den eignen Pfeil erkannt' er,
Der die Brust der Gattin traf,
Und zerrissen unterm Bette
Lag ein blutig Wolfsgewand.

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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Geibel, Emanuel. Romanze vom Werwolf. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-BBFF-9