Erinnerung

Spät abends wohl, wenn draußen sturmdurchschauert
In Nacht und Schnee die öde Gasse trauert,
Und um den Turm das Volk der Krähen lärmt,
Trägt mich ein Traum zu jenen Frühherbsttagen,
Die ich mit jugendseligem Behagen
In Attikas Gebirg' verschwärmt.
Da scheint des Alters trüber Bann gebrochen,
Mein Blut hebt leicht und fröhlich an zu pochen,
Ich habe wieder zweiundzwanzig Jahr'.
Ein sanfter Lichtstrom rieselt um mich nieder,
Und trunknen Auges grüß' ich alles wieder,
Was damals mein Entzücken war:
Das tiefe Blau durchrauscht vom Flug der Tauben,
Die luft'ge Villa, die aus Myrtenlauben
Vom Hang Pentelis nach dem Meere sah,
Die Pinienschlucht getaucht in Abendgluten
Und jene Grotte mit den Silberfluten
Im Ölwald von Kephissia.
Da kommst auch du blauäugig Kind, Agathe,
Im schwarzen Haar die Blüte der Granate,
Herab den Felspfad, in der Hand den Krug;
So wandelt' Hebe wohl im Götterreigen,
Doch unbewußt des Zaubers, der dein eigen,
Schwebst grüßend du vorbei im Flug.

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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Geibel, Emanuel. Erinnerung. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-BDE8-B