Vorüber!

Das Dampfroß schnaubt entlang der Halde,
Da, plötzlich, öffnet sich das Tal,
Und ferne dämmert überm Walde
Ein Schloß empor im Abendstrahl.
Mit Turm und Erkern seh' ich's ragen,
Es naht, es grüßt, es flieht vorbei; –
Mir aber träumt von alten Tagen,
Von einem schönen Monat Mai.
Wie flog zu jenen grünen Schatten
Beim Frührot einst mein leichter Schritt!
In Blumen standen Forst und Matten,
Und meine Seele blühte mit.
Des Liedes tiefen Drang im Busen,
Verschwärmt' ich jung und sorgenfrei
Den goldnen Tag dort mit den Musen –
Es war im schönen Monat Mai.
Doch wenn der Mond um Busch und Gipfel
Sein traumhaft Silberlicht ergoß,
Berauschend durch die Nacht der Wipfel
Der Nachtigallen Stimme floß,
Dann harrt' ich, daß sie mir erschiene,
Sie, meines Waldes schlanke Fei,
Die lockendunkle Melusine –
Es war im schönen Monat Mai.
Und jetzt, entgegen meinem Gruße,
Als ging' der Mond noch einmal auf,
Unhörbar, mit beschwingtem Fuße
Den Baumgang schwebte sie herauf.
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Mir schoß das Blut in Stirn und Wangen,
Der Lipp' entfuhr ein Freudenschrei;
Mit Armen durft' ich sie umfangen –
Es war im schönen Monat Mai.
Ihr Sterne, die mit klarem Funkeln
Ihr in dies Tal herniederscheint,
Ihr wißt allein, wie wir im Dunkeln
Geküßt, gejubelt und geweint!
Ihr wißt's, wie wir so selig waren,
So selig und so rein dabei,
Rein, wie man's ist mit achtzehn Jahren –
Es war im schönen Monat Mai.
O, denk' ich dran, so fliegt der Schauer
Noch heut mir durch die müde Brust;
Erquickend fließt in meine Trauer
Ein Sonnenblick vergeßner Lust.
Mag nimmermehr dies Herz genesen,
Sind Glanz und Frühling längst vorbei:
Glückselig bin auch ich gewesen;
Es war im schönen Monat Mai.

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TextGrid Repository (2012). Geibel, Emanuel. Gedichte. Gedichte und Gedenkblätter. Vermischte Gedichte. Erstes Buch. Vorüber!. Vorüber!. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-BE9E-F