[115] Daphnis und Micon

Daphnis.


Sieh, der Bock dort wadet in den Sumpf, und die Schafe folgen ihm. Ungesunde Kräuter wachsen da im Schlamm, und Ungeziefer schlürfen sie mit dem Wasser. Komm, wir wollen sie zurücktreiben.


Micon.


Die Unsinnigen! Hier ist Klee und Rosmarin, und Timian und Quendel, und an jedem Stamme schleicht das Epheu; doch gehn sie zum Sumpf. Aber wir machens wol selbst oft so; gehen beym Guten vorüber, und wählen was uns schädlich ist!


Daphnis.


Sieh wohin er wadet; die Frösche springen weit vor ihm her aus dem Schilf. Heraus ihr Einfältigen, ans grasigte Bord: Wie garstig ihr die weisse Wolle beflecket!


Micon.


Nun seyd ihr da: Hier sollet ihr weiden! Aber sage mir, Daphnis, was ich da sehe. Marmorsäulen liegen im Sumpfe, und Schilf und Unkraut schlägt sich drüber. Sieh ein zerfallnes Gewölbe von Epheu über und überschlungen, und Dornen wachsen aus jeder Ritze.


Daphnis.


Ein Grabmal wars.

Micon.


Das muß es wol gewesen seyn. Sieh da liegt die Urne im Schlamm. Bilder scheinen aus ihren Seiten hervorzuspringen: Fürchterliche Krieger sinds und tobende Pferde; sieh, mit ihren Hufen zertreten sie Männer die verwundet zu Boden stürzen. Der muß wol kein Hirt gewesen seyn, dessen verschüttete Asche so traurige Bilder einschlössen: Der muß wol kein Liebling der Gegend gewesen seyn, dessen Grabmal ihr so zerfallen lasset: Die Nachkommen müssen wol wenig seinem Andenken geopfert, wenig Blumen auf sein Grab gestreut haben.


Daphnis.


Ein Unmensch war er. Fruchtbare Felder hat er verwüstet, und freye Menschen zu Sclaven gemacht. Die Hufen seiner Reuter stampften die Saaten zu Boden, und mit den Leichen unsrer Vorältern hat er die öden Felder übersäet. Wie wütende Wölfe die Heerden überfallen, so überfiel er mit bewaffneten Schaaren die Unschuldigen, die [116] ihm kein Leid gethan. So däuchte er sich in seiner Bosheit groß, brüstete sich in marmornen Palästen, und schwelgte in dem Raub unglücklicher Länder; und da hat er dies Denkmal seiner Bosheit selbst hieher gebaut.


Micon.


Götter! Ein Unmensch war der; aber wie einfältig! Seinen Greuelthaten baut er ein Denkmal, daß auch die späten Nachkommen sie nie vergessen; nie vergessen, wenn sie hier vorübergehn, seinem Andenken zu fluchen. Zertrümmert liegt nun sein Grabmal, und seine Asche ist im Sumpf verschüttet, indeß in der Urne Ungeziefer im Schlamm brütet. Lächerlich ists, wie da ein junger Frosch dem tobenden Held auf dem Helm sitzt, und eine Schnecke sein drohendes Schwert hinaufschleicht.


Daphnis.


Was bleibt nun von seiner fürchterlichen Grösse? Nichts als das schwarze Andenken seiner Bosheit, indeß die Furien seinen Schatten peinigen.


Micon.


Und niemand, niemand thut einen frommen Wunsch für ihn. Götter! Wie unglücklich ist der, welcher sein Leben mit Lasterthaten befleckt! Auch nach seinem Tod ist sein Andenken ein Abscheu. Nein, könnt ich mit einer Schandthat den Reichtum der ganzen Welt gewinnen, lieber, viel lieber wollt ich nur zwo Ziegen hüten, und redlich und keiner Bosheit mir bewußt seyn. Die eine wolt ich noch den Göttern opfern, und ihnen danken, daß ich glücklich bin. Der Böses thut, gebt ihm alles, er ist nie glücklich.


Daphnis.


Laß uns den Ort verlassen, der nur traurige, schwarze Bilder aufweckt. Komm mit mir, ein froheres Denkmal will ich dir weisen; das Denkmal, das ein redlicher Mann, mein Vater, sich errichtet hat. Du Alexis magst indeß die Schafe und die Ziegen hüten.


Micon.


Mit Freude geh ich mit dir, das Andenken deines Vaters zu feyern, dessen Redlichkeit auch jetzt noch weit umher geehret wird.


Daphnis.


Hier Freund, gehe diesen Fußsteig durch die Wiese, hier an dem mit Hopfen behangenen Gränzgott vorbey. [117] Und sie giengen. An der Rechten des schmalen Weges wuchs Gras, das an ihre Hüften reichte; zur Linken war ein Kornfeld, dessen Ähren über ihren Häuptern winkten; und der Weg führte sie in die stillen Schatten fruchtbarer Bäume, in deren Mitte eine bequeme Hütte stand. In diesen anmuthsvollen Schattenplatz stellte Daphnis einen kleinen Tisch, und holte einen Korb voll Früchte, und einen Krug voll kühlen Weins.


Micon.


Sag mir, wo ist das Denkmal deines Vaters, daß ich die erste Schale Wein dem Schatten des Redlichen ausgiesse?


Daphnis.


Hier, Freund, giesse sie in diesen friedsamen Schatten aus. Was du hier siehest, ist sein rühmliches Denkmal. Die Gegend war öde; sein Fleiß hat diese Felder gebaut, und diese fruchtbaren Schatten hat seine eigne Hand gepflanzt. Wir, seine Kinder, und unsre späten Nachkommen werden sein Andenken segnen, und jeder dem wir aus unserm Segen Gutes thun; denn der Segen des Redlichen ruhet auf diesen Feldern und Triften, und in diesen stillen Schatten und auf uns.


Micon.


Du Redlicher! Diese Schale, die ich hingiesse, sey deinem Andenken geweiht. Herrliches Denkmal, womit man Segen und Nahrung auf würdige Nachkommen bringt, und auch nach seinem Tode Gutes thut!


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TextGrid Repository (2012). Gessner, Salomon. Daphnis und Micon. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-D5B9-4