Die Träumerin

Ein kleines schwarzes Mädchen,
Hielt auf dem weichsten Bette,
Die sanfte Mittagsruhe.
Es schlief, wie Mädchen schlafen,
Es lächelte im Schlafe;
Es regte sich der Busen,
So oft es Athem holte.
Es that, als wolt es wachen;
Es warf sich hin und wieder,
Und lächelte noch zweimal;
Es stekkte bey dem Lächeln,
Die rechte Hand im Busen.
Ich bükkte mich und lauschte
Die Linke zu erblikken;
Allein sie war verborgen.
Doch, als ich nicht mehr lauschte,
Zog es sie schnell zurükke,
Und warf sie zu der Rechten,
Und faltete die Hände,
Wie fromme Beterinnen,
Die Händ aus Andacht falten.
Ach! sprach ich zu den Brüdern,
Ach seht, das Mädchen betet!
Warum mag doch das Mädchen,
Den harten Himmel bitten?
Vernimm es, sprach ein Bruder:
Ich weiß, daß fromme Mädchen
Gott oft um Männer bitten,
Und daß sie oft, in Träumen,
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Die Bitten wiederholen,
In Träumen Männer haben,
Und glauben sie zu küssen.
Dis glaub es, lieber Bruder,
Dis glaubet auch das Mädchen.
Gleich schlich ich zu dem Mädchen,
Und fragt es: Wilst du küssen?
Da strekkte mir das Mädchen
Die Lippen schnell entgegen,
Und eh ich sie berührte,
Ertönten schon die Schmätzgen.
Nun sagt einmal, ihr Schönen,
Zu mir und meinen Brüdern:
Ihr wolt nur immer küssen.

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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Gleim, Johann Wilhelm Ludwig. Die Träumerin. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-DA01-B