[192] An seine Tochter, als der Verfasser ihre Rückkehr von Pyrmont erwartete

Berlin, den 23. September 1797.


Noch heute wird die Stunde kommen,
Wo dich mein Vaterarm umschlingt,
Und, was der Frühling mir genommen,
Der Herbst vollkommner wieder bringt;
Die Mutter mit verjüngten Wangen,
Und dich, gewachsen an Verstand.
Könnt' ich vom Glücke mehr verlangen?
So manchen Kranz es mir auch wand,
Den schönsten werd' ich heut empfangen.
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Sieh hier dein trauliches Closett!
Wie lächelt dich es an! Wie nett
Hat sich's geschmückt, dich zu empfangen!
Wie still und öde war es hier,
Seit deine Stimm' und dein Klavier
Nicht mehr in diesen Wänden klangen!
Jetzt hat sich's wieder neu belebt;
Hoch über deinem Kopfe schwebt
Der Dohmpfaff, freundlich dich zu necken;
Das Hündchen zupft an deinen Röcken,
Zu melden, daß es auch noch lebt.
Zwar welch ein Abstand: dieser Raum,
(Er fasset ja uns drei nur kaum,)
Und jener Prachtsal in Pyrmont,
Von Sternen ersten Rangs besonnt! –
Nicht wahr, noch dünkt es dich ein Traum?
Dein König selbst in diesem Kreise,
Der bis zu dir herab sich läßt,
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Musik und Tanz, und Fest auf Fest! –
Wie leicht bringt das nicht aus dem Gleise!
Doch nun zurück ins stille Nest!
Hier bilde dich, o Wilhelmine!
Sey mit dir selber hier zu Haus!
Hier zieh den Büchern, wie die Biene
Den Blumen, ihren Honig aus.
Hier gib der Stimme Flötentöne,
Den Messingsaiten Silberklang;
Hier schöpfe aus der Hippokrene
Des Herzens, rührenden Gesang.
Laß Flora's Garten, Circens Insel,
Bald durch den Bleistift oder Pinsel,
Bald durch der Nadel Kunst entstehn;
Doch laß dieselbe Hand auch willig,
Auf einem Küchentuch' von Zwillich
Die Mörserkeul' im Nothfall' drehn.
Dem Gatten schmecken diese Mandeln
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Dann zehnmal süßer, liebes Kind!
Kurz, lerne nur die Kunst: Geschwind,
Gleich einem Proteus, dich verwandeln,
Und, statt zu sprechen bloß, auch handeln,
Weil That die Herzen nur gewinnt.
Im Lärm' und Drang' der großen Welt
Läßt sich das Handeln schwer erlernen.
Wen Lust, wen Zwang zurück nicht hält,
Wird sich von da gar bald entfernen,
Wo man um Nichts sein Alles wagt,
Im Herzen leere Wünsche sieden,
Und alle Sinnen, schnell gejagt,
Um desto schneller nur ermüden.
Wer Gnügsamkeit gefunden hat,
Fand sie in seinem Cabinette;
Der Tag wird dann zur Blumenkette,
Die Nacht zu einem Stärkungsbad'.
Bist du in deinem unzufrieden,
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So liegt die Schuld allein an dir.
O wünschte nie dein Herz sich hier,
Was dir das Schicksal nicht beschieden!
Entbehren lernen, ist hienieden
Der saure Weg zum innern Frieden;
Dem Himmel Dank! leicht ward er dir.

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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Goeckingk, Leopold Friedrich Günther von. An seine Tochter. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-DF36-F