[286] Das Scheiden

Muß es einmal geschieden seyn,
Und ist das Scheiden Pflicht,
So mehre deines Herzens Pein
Durch langes Zögern nicht.
O hätt' ich selber dieß bedacht,
Als Morgens schon um vier
Mein Liebchen, nach durchwachter Nacht,
Anklopft' an meine Thür.
Fünf schlug es, und mit nassem Blick'
Ließ sie mich endlich gehn,
Doch schluchzend rief sie mich zurück,
Noch Einmal mich zu sehn.
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Hoch ging mein Busen, wie die See,
Mein bleicher Mund ward stumm,
Mein Aug' erlosch bei Liebchens Weh,
Und dreimal kehrt' ich um.
Warum gab ich dem Ruf' Gehör?
Warum war ich so schwach?
Der ersten Trennung folgt nunmehr
Vielleicht die letzte nach.
Scheid' ohne Abschied, wer einmal
Vom Liebchen scheiden muß.
Sonst wird ihr letztes Wort zur Qual,
Zum Dolch' ihr Abschiedskuß.

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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Goeckingk, Leopold Friedrich Günther von. Das Scheiden. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-DF97-4