75. Hütchen

An dem Hofe des Bischof Bernhard von Hildesheim hielt sich ein Geist auf, der sich vor jedermann in einem Bauernkleide unter dem Schein der Freundlichkeit und Frömmigkeit sehen ließ; auf dem Haupt trug er einen kleinen Filzhut, wovon man ihm den NamenHütchen, auf niedersächsisch Hödeken gegeben hatte. Er wollte die Leute gern überreden, daß es ihm vielmehr um ihren Vorteil als ihren Schaden zu tun wäre, daher warnte er bald den einen vor Unglück, bald war er dem andern in einem Vorhaben behilflich. Es schien, als trüge er Lust und Freude an der Menschen Gemeinschaft, redete mit jedermann, fragte und antwortete gar gesprächig und freundlich.

Zu dieser Zeit wohnte auf dem Schlosse Winzenburg ein Graf aus Schwaben bürtig, namens Hermann, welcher das Amt als eine eigene Grafschaft besaß. Einer seiner Diener hatte eine schöne Frau, auf die er ein lüsternes Auge warf und die er mit seiner Leidenschaft verfolgte, aber sie gab ihm wenig Gehör. Da sann er endlich auf schlechte Mittel, und als ihr Mann einmal an einen weit entlegenen Ort verreist war, raubte er ihr mit Gewalt, was sie ihm freiwillig versagte. Sie mußte das Unrecht verschweigen, solang ihr Mann abwesend war, bei seiner Rückkehr aber er öffnete sie es ihm mit großem Schmerz und wehmütigen Gebärden. Der Edelmann glaubte, dieser Schandflecken könne nur mit dem Blute des Täters abgewaschen werden, und da er die Freiheit hatte, wie ihm beliebte, in des Grafen Gemach zu gehen, so nahm er die Zeit wahr, wo dieser noch mit seiner Gemahlin zur Ruhe lag, trat hinein, hielt ihm die begangene Tat mit harten Worten vor, und als er merkte, daß jener sich aufmachen und zur Gegenwehr anschicken möchte, faßte er sein Schwert und erstach ihn im Bette an der Seite der Gräfin. Diese entrüstete sich aufs allerheftigste, schalt den Täter [95] gewaltig, und da sie gerade schwangeren Leibes war, sprach sie dräuend: »Derjenige, den ich unter dem Gürtel trage, soll diesen Mord an dir und den Deinigen rächen, daß die ganze Nachwelt daran ein Beispiel nehmen wird.« Der Edelmann, als er die Worte hörte, kehrte wieder um und durchstach die Gräfin wie ihren Herrn.

Graf Hermann von Winzenburg war der Letzte seines Stammes und demnach mit seinem und der schwangern Gräfin Tod das Land ohne Herrn. Da trat Hütchen in selbiger Morgenstunde, in welcher die Tat geschehen war, vor das Bett des schlafenden Bischofs Bernhard, weckte ihn und sprach: »Steh auf, Glatzkopf, und führe dein Volk zusammen! Die Grafschaft Winzenburg ist durch die Ermordung ihres Herrn ledig und verlassen, du kannst sie mit leichter Mühe unter deine Botmäßigkeit bringen.« Der Bischof stand auf, brachte sein Kriegsvolk eilig zusammen und besetzte und überzog damit die Grafschaft, so daß er sie, mit Einwilligung des Kaisers, auf ewig dem Stift Hildesheim einverleibte.

Die mündliche Sage erzählt noch eine andere, wahrscheinlich frühere Geschichte. Ein Graf von Winzenburg hatte zwei Söhne, die in Unfrieden lebten; um einen Streit wegen der Erbschaft abzuwenden, war mit dem Bischof zu Hildesheim festgemacht, daß derjenige mit der Grafschaft belehnt werden solle, welcher zuerst nach des Vaters Tod sich darum bei dem Bischof melden würde. Als nun der Graf starb, setzte sich der älteste Sohn gleich auf sein Pferd und ritt fort zum Bischof; der jüngste aber hatte kein Pferd und wußte nicht, wie er sich helfen sollte. Da trat Hütchen zu ihm und sprach: »Ich will dir beistehen, schreib einen Brief an den Bischof und melde dich darin um Belehnung; er soll eher dort sein als dein Bruder auf seinem jagenden Pferd.« Da schrieb er ihm den Brief, und Hütchen nahm und trug ihn auf einem Wege, der über Gebirge und Wälder geradaus ging, nach Hildesheim und war in einer halben Stunde schon da, lang eh der älteste herbeigeeilt kam, und gewann also dem jüngsten das Land. Dieser Pfad ist schwer zu finden und heißt noch immer Hütchens Rennpfad.

Hütchen erschien an dem Hofe des Bischofs gar oft und hat ihn ungefragt vor mancherlei Gefahr gewarnt. Großen Herren [96] offenbarte es die Zukunft. Bisweilen zeigte es sich, wenn es sprach, bisweilen redete es unsichtbar. Es hatte den großen Hut aber immer so tief in den Kopf gedrückt, daß man niemals sein Gesicht sehen konnte. Die Wächter der Stadt hat es fleißig in acht genommen, daß sie nicht schliefen, sondern hurtig wachen mußten. Niemand fügte es etwas Leid zu, es wäre denn am ersten beschimpft worden; wer seiner aber spottete, dem vergaß es solches nicht, sondern bewies ihm wiederum einen Schimpf. Gemeinlich ging es den Köchen und Köchinnen zur Hand, schwatzte auch vielmal mit ihnen in der Küche. Eine Mulde im Keller war seine Schlafstätte, und es hatte ein Loch, wo es in die Erde gekrochen ist. Als man nun seiner gar gewohnt worden und sich niemand weiter vor ihm gefürchtet hat, begann ein Küchenjunge es zu spotten und höhnen, mit Lästerworten zu hudeln und, sooft er nur vermochte, mit Dreck aus der Küche auf es loszuwerfen oder es mit Spülwasser zu begießen. Das verdroß Hütchen sehr, weshalb es den Küchenmeister bat, den Jungen abzustrafen, damit er solche Büberei unterwegen ließe, oder er selbst müßte die Schmach an ihm rächen. Der Küchenmeister lachte ihn aus und sprach: »Bist du ein Geist und fürchtest dich vor dem kleinen Knaben!« Darauf antwortete Hütchen: »Weil du auf meine Bitten den Buben nicht abstrafen willst, will ich nach wenig Tagen dir zeigen, wie ich mich vor ihm fürchte;« und ging damit im Zorn weg. Nicht lange darauf saß der Junge nach dem Abendessen allein in der Küche und war vor Müdigkeit eingeschlafen; da kam der Geist, erwürgte ihn und zerhackte ihn in kleine Stücke. Dann warf er selbige vollends in einen großen Kessel und setzte ihn ans Feuer. Als der Küchenmeister kam und in dem Kessel Menschenglieder kochen sah, auch aus den übrigen Umständen merkte, daß der Geist ein fremdes Gericht zurichten wolle, fing er an, ihn greulich zu schelten und zu fluchen. Hütchen, darüber noch heftiger erbittert, kam und zerdrückte über alle Braten, die für den Bischof und dessen Hofleute am Spieße zum Feuer gebracht waren, abscheuliche Kröten, also daß sie von Gift und Blut träufelten. Und weil ihn der Koch deswegen wiederum schmähete und schändete, stieß er ihn, als er einstens aus dem Tore gehen wollte, von der Brücke, die ziemlich hoch war, in den Graben. [97] »Weil man auch in Sorgen stand, er möchte des Bischofs Hof und andere Häuser anzünden, mußten alle Hüter auf den Mauern, sowohl der Stadt als des Schlosses, fleißig wachen. Aus dieser und andern Ursachen suchte der Bischof Bernhard seiner loszuwerden und zwang ihn endlich auch durch Beschwörung zu weichen.

Sonst beging der Geist noch unterschiedliche, abenteuerliche Streiche, welche doch selten jemand schadeten. In Hildesheim war ein Mann, der ein leichtfertiges Weib hatte, als er nun verreisen wollte, sprach er zu Hütchen: »Mein guter Gesell, gib ein wenig Achtung auf mein Weib, dieweil ich aus bin, und siehe zu, daß alles recht zugeht.« Hütchen tat es, und wie das Weib, nach der Abreise des Mannes, ihre Buhler kommen ließ und sich mit ihnen lustig machen wollte, stellte sich der Geist allzeit ins Mittel, verjagte sie durch Schreckgestalten, oder wenn einer sich ins Bett gelegt, warf er unsichtbarerweise ihn so unsauber heraus, daß ihm die Rippen krachten. So ging es einem nach dem andern, wie sie das leichtfertige Weib in die Kammer führte, so daß keiner ihr nahen durfte. Endlich, als der Mann wieder nach Hause kam, lief ihm der ehrbare Hüter voller Freuden entgegen und sprach: »Deine Wiederkunft ist mir trefflich lieb, damit ich der Unruhe und Mühe, die du mir aufgeladen hast, einmal abkomme.« Der Mann fragte: »Wer bist du denn?« Er antwortete: »Ich bin Hütchen, dem du bei deiner Abreise dein Weib in seine Hut anbefohlen. Dir zu Gefallen habe ich sie diesmal gehütet und vor dem Ehebruch bewahret, wiewohl mit großer und unablässiger Mühe. Allein ich bitte, du wollest sie meiner Hut nicht mehr untergeben, denn ich will lieber der Schweine in ganz Sachsen als eines einzigen solchen Weibes Hut auf mich nehmen und Gewährschaft vor sie leisten, so vielerlei List und Ränke hat sie erdacht, mich zu hintergehen.«

Zu einer Zeit befand sich zu Hildesheim ein Geistlicher, welcher sehr wenig gelernt hatte. Diesen traf die Reihe, daß er zu einer Kirchenversammlung von der übrigen Geistlichkeit sollte verschickt werden, aber er fürchtete sich, daß er in einer so ansehnlichen Versammlung durch seine Unwissenheit Schimpf einlegen möchte. Hütchen half ihm aus der Not und gab ihm einen Ring, der von Lorbeerlaub und andern Dingen zusammengeflochten war, und machte dadurch diesen Gesandten dermaßen [98] gelehrt und auf eine gewisse Zeit beredt, daß sich auf der Kirchenversammlung jedermann über ihn verwunderte und ihn zu den berühmtesten Rednern zählte.

Einem armen Nagelschmiede zu Hildesheim ließ Hütchen ein Stück Eisen zurück, woraus goldene Nägel geschmiedet werden konnten, und dessen Tochter eine Rolle Spitzen, von der man immer abmessen konnte, ohne daß sie sich verminderte.

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TextGrid Repository (2012). Grimm, Jacob und Wilhelm. Sagen. Deutsche Sagen. Erster Band. 75. Hütchen. 75. Hütchen. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-07E6-7