[117] Zweiter Cyklus
Nachklänge


1.

Oed' ist dieß Eiland, baumlos, windversengt,
Die starre Burg und Warte der Orkane;
Bleifarbig um die morschen Zinnen hängt
Das Nordgewölk, wie eine graue Fahne.
Lenzschwalbe flieht, aus ihrem Nest verdrängt,
Der tolle Bube Sturm warf's vom Altane,
Er brach die jungen Wipfel und versprengt
Zerpflückte Blumen überm Ozeane
Wild ist dieß Meer, unwirthbar, unbezwinglich,
Schiffsrümpfe schwanken auf dem unruhvollen,
Mastlos und schwarz, gleich fortgeschwemmten Särgen;
Es rauscht empor, wie Wände undurchdringlich,
Als dunkler Vorhang muß die Woge rollen,
Der Tiefen Grauenvollstes zu verbergen.

[118] 2.

Doch wenn einmal verbraust des Sturmes Schwinge
Und Ruh', so tiefe seltne Ruh' im Alle,
Daß störend dir der eigne Athem walle,
Und daß dir bang' vor jedem Schmetterlinge;
Wenn klar und rein und glatt im weiten Ringe
Das Meer, wie ein Scheibe von Kristalle,
Daß du am Grunde zählst die Steinlein alle,
Dann steig ins Boot, seewärts dein Ruder schwinge!
Die Sage führt dich an die heil'ge Stelle
Im Meer weit draußen; dort zur Tiefe schaue!
Du siehst, o Wunder, Wald und grüne Wiese,
Siehst fruchtbelad'ne Bäume, Blüthenbälle,
Und Palmen fächelnd über goldner Aue,
Ein wonnig Stück versunkner Paradiese.

[119] 3.

Ob dir die Brust unstät und stürmisch schwelle
Gleich jenem Meer im rauhen Nordensunde,
Wohl kommt dir einst solch seltne gute Stunde,
Wohl blüht auch dir noch jene heil'ge Stelle.
Verbrausen laß' der Leidenschaften Welle,
Was sie verdeckt, wird dir zu neuem Funde;
Ein mild Vergessen schließe deine Wunde,
Die Liebe dein Umwölktes dir erhelle.
Und still in dir, so still und klar soll's werden,
Daß bis zum Grund der Seele du kannst sehen,
Dann senke dich in deiner Brust Verließe!
Es ist kein Herz so krank und arm auf Erden,
Dem dort nicht Palmen noch des Friedens stehen
Und Stücke blühn versunkner Paradiese.

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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2012). Grün, Anastasius. Zweiter Cyklus. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-0C4D-A