[135] Der erste Zeichner

1.

Zwei Hirtenkinder, Knab' und Mädchen, spielen
Am Felsen bei erloschner Feuerstelle,
Die glatte Steinwand zeigt in Sonnenhelle
Die Schatten von zwei kindlichen Profilen.
Der Schwester Anmut fesselt den Gespielen
Im Dunkelbilde selbst. Daß es zu schnelle
Nicht fliehe mit des Lichtes flücht'ger Welle
Erkürt er sich der Kohlen Rest zu Kielen.
Mit schwarzem Stift verfolgt er die Konturen,
Die auf der Wand zur hold'sten Form sich schlingen
Und schmückt mit Lieblichkeit die Felsenwildniß.
Aus rauhem Steine, dunklen Kohlenspuren
Und düstern Schatten, – traun, unschönen Dingen! –
Erstand durch Kindeshand der Schönheit Bildniß.

[136] 2.

Von dieses Kindes erstem Künstlerlallen
Bis zu den Harmonien, die von den Schwingen
Des Seraphs Raphael in Wonne klingen,
Welch unermeßner Flug, welch Steigen, Fallen!
Von diesem Fels bis zu den Bilderhallen
Des Vatikans, zu Pitti's Wunderdingen,
Durch Dorn und Lorbeer welch ein Mühn und Ringen!
Welch weite Bahnen muß die Kunst durchwallen!
Ob sie an Arno siedle oder Elbe,
In Farben dichte, oder mal' in Tönen,
Ihr Geist bleibt Einer doch, ihr Ziel dasselbe:
Rauhheit zu sänft'gen, Schatten zu versöhnen,
In holdem Bann die Schönheit festzuhalten,
Ihr Sterbliches zu Ew'gem zu gestalten.

License
Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).
Link to license

Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Grün, Anastasius. Der erste Zeichner. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-0DD2-3