[28] Mannesthräne

Mädchen, sahst du jüngst mich weinen? –
Sieh, des Weibes Thräne fließt
Wie der klare Thau vom Himmel,
Den er auf die Blumen gießt.
Ob die trübe Nacht ihn weinet,
Lächelnd ihn der Morgen bringt,
Stets nur labt der Thau die Blume
Und sie lebt ihr Haupt verjüngt.
Doch es gleicht des Mannes Thräne
Edlem Harz aus Ostens Flur,
Tief ins Herz des Baums verschlossen,
Quillt's freiwillig selten nur.
Schneiden mußt du in die Rinde
Bis zum Kern des Marks hinein,
Und das edle Naß entträufelt
Dann so golden, hell und rein.
[29]
Bald zwar mag der Born versiegen,
Und der Baum grünt fort und treibt,
Und er grüßt noch manchen Frühling,
Doch der Schnitt, die Wunde – bleibt.
Denke, Mädchen, jenes Baumes
Auf des Ostens fernen Höhn;
Denke, Mädchen, auch des Mannes,
Den du weinen einst gesehn.

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Rechtsinhaber*in
TextGrid

Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Grün, Anastasius. Gedichte. Gedichte. Blätter der Liebe. Mannesthräne. Mannesthräne. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-0EB3-1