[45] Lili

1

... Als ich dann wieder in die Heimath kam –
im Frühling wars, die Hyacinthen blühten –
da war sie tot, von fremden, kalten Menschen
hinausgetragen in ein kahles Grab. – –
Ich fand es nicht. Langsam ging ich zurück
in ihre Wohnung. Ihre feiste Wirthin
sprach schmunzelnd: Gott, die Menschen sind nicht rar!
Nicht eine Woche stand ihr Zimmer leer.
Jetzt wohnt ein allerliebstes Chansonnettlein
darin, ganz jung noch, mit so lustigen Füssen!
Wolln Sie sie sehn?
– – – – – – – – – – – – – – –
Und ich erfuhr, wie sie gestorben war.
Vor ihren Augen, während sie in Qualen
und Fieber dalag, hatten – ihre Schwestern
begierig ihrer Habe sich bemächtigt:
[46]
Sparkassenbücher, Kleider, Schmuck und Wäsche
aus allen Kästen sich hervorgesucht
und – umgepackt in einen grossen Korb.
Da .. hatte sie den bleichen Kopf erhoben
von ihrem Kissen, hatte sich verwundert
mit grossen, schwarzen Augen umgeschaut
und hatte .. gelächelt ...
– – – – – – – – – – – – – – – –
Mir ist .. als ob ich dieses Lächeln sähe!

[47] 2

Kein Tag des Leides noch der Freude flieht,
dass ich nicht deiner, der verlornen, dächte.
Kein Bild, das vor die frohen Sinne zieht
und nicht dein zartes Bild zurück mir brächte.
Mit hellem Auge grüsstest du den Tod
und voll Verachtung bist du hingesunken,
Verachtung für der Menschen Zwanggebot,
Verachtung für den Kelch, den du getrunken.
Im Kampf des Lebens standest du enterbt
und rauh erfasst schon in den Kindesjahren,
des Lenzes Knospen, früh vom Frost verderbt –
und noch im Sterben hast du Neid erfahren.
Mit hellem Auge grüsstest du den Tod,
und klar und fest ist deine Stirn geblieben.
Wem je dein Blick den stillen Gruss entbot,
dem bleibt er immerdar ins Herz geschrieben.

[48] 3

Im leichten Wirbel meiner Jugendtage
schweigt, was ich Schweres still im Busen trage:
die unverwehte, leise Totenklage.
Mein Auge weinte, meine Lippen flehten:
im Traume bist du vor mich hingetreten,
und um dein Leben hab ich Gott gebeten.

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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Hartleben, Otto Erich. Lili. TextGrid Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-3686-6