1. Das Buch Ruth

1

In das Land der Moabiter zogen
Elimelech und sein Weib Naemi
und mit ihnen ihre beiden Söhne.
Eine Theurung, die der Herr gesendet,
trieb sie aus dem Lande ihrer Väter.
Doch in fremdem Boden kein Gedeihen
fand der Stamm, aus Judas Grund gerissen,
und es sank zu Grabe Elimelech
und es starben seine beiden Söhne.
Einsam blieb die Mutter, nur die Frauen,
die die Söhne freiten in der Fremde,
Ruth und Arpa weinten mit Naemi.
Doch Jehova wandte seinem Volke
wiederum sein Antlitz zu in Gnaden:
und die Noth der Theurung war vorüber
und den Männern wieder Brot gegeben.
[162]
Da gedachte ihres Volks Naemi!
Aus der Moabiter Lande wieder
machte sie sich auf und mit ihr zogen
Ruth und Arpa. Und sie sprach zu ihnen:
Kehret um, o ihr geliebten Töchter!
Gehet, jede in das Haus der Mutter,
und es thu der Herr an euch das Gute,
das ihr thatet mir und meinen Toten.
Kann euch fürder Kinder nicht gebären,
die euch wieder Männer werden möchten.
Kehret um, o ihr geliebten Töchter!
Euer Jammer frisst an meinem Herzen:
denn des Herren Hand hat mich geschlagen,
und des Herren Hand hat euch getroffen!
Laut erhoben jene ihre Klagen,
Arpa küsste sie und wandte weinend
drauf sich um zu ihrem Gott und Volke.
Ruth blieb bei ihr und Naemi sagte:
Siehe, Ruth! So thu auch du, wie jene,
gehe nun und lass mich weiter wandern!
Aber Ruth erwiderte der Mutter:
Rede mir von gehen nicht noch lassen!
Wo du hingehst, will ich auch hingehen,
wo du bleibst, da werd ich bei dir bleiben.
Dein Volk ist das meine nun geworden,
[163]
dein Gott soll auch mein Gott fürder heissen.
Wo du stirbst, da werd auch ich begraben,
und der Herr, der unser Leben leitet,
möge dies und jenes mir verhängen –
doch der Tod muss kommen, uns zu scheiden!

2

Rings um Bethlehem erklang die Sichel,
denn es war die Zeit der Gerstenernte,
da Naemi und die Moabitin
wiederkehrten in das Land der Juden.
Bittre Noth bedrängte beide Frauen,
und Naemi weinte laut und klagte:
Voll und reich bin ich hinausgezogen
ehmals in die Fremde – leer und ledig
hat der Herr mich wieder heimgeleitet!
Da sprach Ruth, die Moabitin, tröstend:
Lass aufs Feld mich gehn, geliebte Mutter,
lass aufs Feld mich gehn und Ähren lesen,
wo ich Gnade finde bei den Schnittern,
dass ich lindre deine Noth und meine.
Und es war ein Mann mit Namen Boas,
angesehn im Volk und wohlbegütert;
viele Knaben, viele Mägde schnitten
auf den reichen Feldern seine Garben,
[164]
und auf seinem Acker las die Ähren
Ruth und beugte sich nach jedem Halme.
Doch aus Betlehem, der Stadt, am Abend
kam hinaus auf seine Felder Boas.
Und er sprach:
Wes ist die fremde Dirne,
die da hingeht hinter meinen Knechten?
Und der Knabe, der die Schnitter führte,
winkte sie herbei und sprach:
Die Dirne
hat Naemi aus dem Land der Heiden
mitgebracht: sie sammelt auf dem Felde
Ähren, die verloren liegen bleiben,
und sie müht sich seit dem frühen Morgen.
Auf die Kniee sank die Moabitin.
Boas wandte seine milden Augen
auf des jungen Weibes tiefe Demuth
und erbarmte sich und sprach voll Güte:
Gehe nicht von hinnen, meine Tochter,
gehe nicht auf einen andern Acker!
Siehe, wo sie schneiden auf dem Felde,
gehe ihnen nach, und wenn dich dürstet,
gehe hin, wo meine Knaben schöpfen:
niemand soll dich kränken, wo ich Herr bin.
Keine Fremde bist du mir: ich hörte,
was du Gutes thatest an der Mutter
[165]
deines Mannes, die du treu begleitet
in ein Land, das du zuvor nicht kanntest.
Möge dir der Herr die That gedenken!
Von dem Gotte Israels, zu dem du
fremd gewandert, dass du Zuflucht fändest
unter seinen Flügeln – möge Segen,
reicher Segen auf dich niedersinken!
Und es sprach das Weib zu seinen Füssen:
Lass mich fürder Gnade bei dir finden,
Herr! Nun hast du deine Magd getröstet,
denn du hast sie freundlich angesprochen.

3

Auf den Feldern war die Frucht geschnitten,
in die Scheunen war sie eingefahren,
und es kam der frohe Tag der Ernte.
Auf der Tenne worfelte die Gerste
Boas mit den Knaben und den Dirnen.
Tief im Herzen war ein Keim entsprossen,
tief in heissem, demuthvollem Herzen:
sich zu geben dem geliebten Herren,
das gedachte Ruth, die Moabitin.
Und sie badete und salbte sorglich
ihren Leib zu ihrer Liebe Feier,
und sie schmückte sich mit Festgewanden.
[166]
Froh des Segens und der reichen Ernte,
die der Herr geschüttet auf die Tenne,
trank und schmauste mit den Seinen allen
Boas und sein Herz ward guter Dinge.
Aber da die Nacht herabgesunken,
und der laute Schwarm sich rings verlaufen,
legt er sich, von Müdigkeit bewältigt,
auf die Tenne, hinter eine Mandel.
Und die Liebe wandelt durch die Felder
und durchschleicht die Nacht auf leichten Sohlen.
Zu dem Herrn, dem sie sich eigen fühlet,
wandelt treulich Ruth, die Moabitin.
Und sie legt sich still zu seinen Füssen
wartend nieder: ihre stumme Demuth,
ihres hingegebnen Herzens Wonne
wacht und athmet in der Hut der Schatten.
Als die Mitternacht herangekommen,
schrickt der Mann zusammen und erzittert.
Er erwacht und siehe, ihm zu Füssen
liegt ein junges Weib.
Wer bist du? fragt er.
Ich bin Ruth, bin deine Magd und Dirne.
Gieb mir Ruhe! Breite deine Flügel
über mich! Ich bin zu dir gekommen,
denn du bist der Herr, und will dir dienen.
[167]
Und gerührt ob so viel armer Demuth,
hebt sie Boas auf und spricht voll Mitleid:
Sei dem Herrn gesegnet, meine Tochter!
Was du geben kannst, hast du gegeben,
was du giebst, ist gross wie deine Liebe,
und an mir hast du sie nicht vergeudet.
Wie du sagst, so soll es dir geschehen:
Meines Volkes ganze Stadt erfahre,
dass ich dich erwählt zu meinem Weibe.
Schlafe nun bis an den andern Morgen!
Keines Menschen Seele soll erkunden,
dass ein Weib gekommen in die Tenne:
morgen sollst du meine Gattin heissen ...
Schlafe nun bis an den andern Morgen!

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TextGrid Repository (2012). Hartleben, Otto Erich. 1. Das Buch Ruth. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-36AB-3