[Und wenn ich sinne]

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– Und wenn ich sinne, denk ich wohl der Mutter.
Gedankenkühn in aller Leidensdemuth,
den Blick geheftet auf das Christusbild,
zu Füssen deines Bettes an der Wand –
so lagst du vor mir. Und die Worte wieder
hör ich aus deinem sterbensmatten Munde:
Nicht meinetwegen bangt mir vor dem Tode.
Euch lass ich nun allein ... In tiefes Sinnen
verlorst du dich. Und deine Augen hingen
wie zukunftsuchend an dem Dorngekrönten,
an den du glaubtest.
Ich war ein Kind und ahnte kaum die Stunde
und ihre unheilschwere Leidensfülle,
doch oft seitdem will es mich leis gemahnen,
als hätte damals lastend schon die Hand
des Schicksals sich gelegt auf meinen Nacken,
als stünd ich fremd in einem reichen Hause ...
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Doch seis darum. Was frommt es, insgeheim
knirschend zu rechten mit dem ewgen Unrecht.
Ich bin durch dich, und in mir rollt dein Blut,
und keinen Tropfen liess ich um das Glück
Niedriggeborner.
Du gabst es mir, dass es lebendig bliebe,
dass es auf andre seinen Strom ergiesse –
auch dir hat jedes Wollen sich gepresst
in heisses Leid und jede starke Liebe –
du gabst es mir, ich bin durch dich berufen,
zu reden in der Welt von deinem Blute.

Notes
Entstanden 1885.
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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Hartleben, Otto Erich. [Und wenn ich sinne]. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-37E9-2