[141] Die Brüder

Kühl athmet der Berge rauschende Nacht.
Schwarzspitzige Tannen nicken im Schlaf.
Stumm ruht der See, vom Dunkel umlauscht;
und droben flüchten die Wolken.
Wie Silber durchwirkt ein schwarzes Gewand,
weiss glitzernd und fahl – so zittert der Mond
auf der bebenden Fluth; und die Fledermaus
huscht eckig hervor aus dem Dickicht. –
Und zwischen den Stämmen am Uferrand
tritt hurtig hervor auf das feuchte Gestein
ein nacktes Kind mit rundlichem Leib:
das patscht voller Lust mit den Händchen.
Und weiter getrost beschreitets die Fluth.
Schon steht es im Mond. Und jauchzend und schnell
läufts über die Tiefe, die willig es trägt,
und strampelt und stampft mit den Beinen. –
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Fort zogen die Wolken. Es leuchtet die Nacht.
Ein silberner Spiegel lagert der See.
Drauf springt und spielt das lustige Kind
und hascht nach den Fledermäusen.
Bald hat es die Müh als vergeblich erkannt.
Da gewahrts einen dicken, schlafenden Frosch
am Ufer. Den weckt es, der springt in die Fluth
und müht sich voll Angst unterm Wasser.
Ihm folgt das Kind, wohin er auch flieht,
lacht über den zappelnden, dicken Geselln ...
Da – blickt es empor. Ein Schatten fiel
auf den nächtig leuchtenden Spiegel.
Durchsichtige Schwingen tragen ein Kind
wie ein Wölkchen herab durch die schweigende Luft.
Ein zartes Geschöpf, ein schwächlicher Leib
und schmerzensdunkle Augen.
Das neigt sich zum Knaben. Der steht und starrt
mit offenen Augen und offenem Mund.
Da spricht es mit leise flehendem Ton:
– O spiele mit mir, mein Bruder!
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Der Knabe schüttelt den Lockenkopf.
– Du kannst ja fliegen. Ich kann das nicht.
Und wenn ich dich hasche, fang ich dich nie:
ich bin ja gar nicht dein Bruder.
– Ja, wir sind Brüder. O spiele mit mir!
Ein einziger hat uns beide gezeugt.
Zu Gespielen sind wir einander bestimmt,
und ich habe dich lieb, mein Bruder.
Vom Vater die Mutter empfing dich so gern
und lächelte, da sie mit Schmerzen gebar.
Die meine, verzweifelt, spürte mich kaum –
bin ungeboren gestorben.
Du athmest den Tag – ich athme die Nacht.
Nie fühl ich der Sonne brausendes Licht.
Dich trägt die Fluth – bist wegebegabt –
o spiele mit mir, mein Bruder!
Da schaut voller Jammer der andre empor:
– Ach, möcht es so gern! Ach, könnt ich mit dir
durchfliegen die Nacht im strahlenden Mond!
Ich hasse die Wege der Erde!
Wie muss ich dich lieben. Mein Bruder bist du.
Und kann nicht zu dir ... Mitleidig schluchzt
er auf. – Eine Thräne tritt ihm ins Aug
und rollt von der blühenden Wange.
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Doch kaum, dass die Thräne die Wellen erreicht –
als öffne die Perle ein finsteres Thor –
fortweicht das Wasser: es trägt ihn nicht mehr:
der Knabe versinkt in der Tiefe.
Wie das Vöglein über dem heimischen Nest,
das die Katze beraubt, so flattert und schwirrt
der Bruder über der Stelle voll Angst,
wo die Kreise sich dunkel erweitern.
Bleich taucht das Kind aus der schweigenden Fluth.
Die schweigenden Augen starren zum Mond.
Da: hastig hebt es der Bruder empor
und trägt es hinauf in die Freiheit.
Des Geretteten Glieder regen sich neu,
als über die Tannen sie beide hinaus,
und da er den Bruder brünstig geküsst,
wachsen ihm schimmernde Flügel.

Notes
Entstanden 1888.
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TextGrid Repository (2012). Hartleben, Otto Erich. Die Brüder. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-3835-C