[165] [167]Zweyter Theil
[167][169]Lockmann arbeitete fleißig an seiner Oper.
Den zweyten Tag darauf ging er wieder zu Hildegarden, und traf sie allein, zum erstenmal auf ihren Zimmern, die am Musiksaal offen standen. Er trat hinein, wie in ein Heiligthum. Sie empfing ihn traulich, hieß ihn willkommen, faßte ihn selbst bey der Hand, führte ihn herum, und zeigte ihm ihre ganze Einrichtung. Die Aussicht war gerade gegen Osten, wo im hohen Sommer die Sonne aufgeht, über Garten und Feld; ihr Schlafgemach ausgeziert mit den schönsten Woollets, und zwey herrlichen Landschaften vonClaude Lorrain und Salvator Rosa, zwey reizenden Gegenden am Pausilipp: die erste mit der Morgenbeleuchtung, wo der Wellenschlag grünlich strahlte und glänzte, unmittelbar nach der Natur mit Farben aufgetragen, und einem Schlagschatten über das Wasser von Bäumen und der Küste, welcher den Duft am Himmel, die weichenden Wolken und das Dunkelblau erhob. Der Salvator Rosa stellte die so genannte Schule Virgils dar, Felsen, Ruinen und Gesträuch wie Wirklichkeit.
Dann erblickte er ihre kleine Bibliothek in der Ecke wie versteckt, und fand die besten Englischen Dichter und Geschichtschreiber in schönen Ausgaben: denApostolo Zeno, Metastasio, und einige Bände [169] Sammlungen andrer Opern, den Petrarca, Tasso, und Komödien von Goldoni, die letztern wegen der lebendigen Sprache; den Corneille, Racine, Moliere; die Fabeln des La Fontaine; Verschiednes von Fenelon, von Voltaire und Rousseau; den Haller, Hagedorn, Kleist; die Kriegslieder, Halladat und andre Gedichte von Gleim; Klopstocks Oden und Hermanns Schlacht; Göthe'ns Götz von Berlichingen und Werther; Ramlers Oden und Kantaten; Lessings Dramaturgie, Fabeln, Minna von Barnhelm, Emilia Galotti, Nathan; Wielands Agathon, Musarion und andre Gedichte; Geßners Idyllen, Jacobis Werke, Bürgers Lieder,Vossens Odyssee, u.s.w. Neuere Meisterstücke der Deutschen Litteratur für sie waren damals noch nicht erschienen.
Die besten Uebersetzungen des Sophokles und Euripides; mit unter Kochbücher und Modejournale; Gespräche des Plato, die Leben des Plutarch im Französischen; Flora Parisiensis, Büschings Geographie, Reisebeschreibungen, Homanns kleinen Atlas, und einige Englische Karten.
Dabey nahm Lockmann eine Sammlung Zeichnungen in die Hand; es waren ihre eignen, lauter treu aufgenommene schöne Gegenden, durch die sie auf ihren Reisen gekommen war, und wo sie sich aufgehalten hatte. Er erkannte darunter nur zwey der schönsten vom Rheinstrom: eine bey Bingen, und die andre bey Kaub. Die letztre vorzüglich war mit Kennerblick im besten Standpunkt aufgefaßt, und voll Liebe ausgeführt. Der Strom drängte die breite Fülle seiner Wasser im Schlangenpfad allgewaltig durch das Gebirge hin, das vom Frühling geschmückt sich in süßem warmen Abendduft wie eine Braut des Himmels in ihrer Reinheit spiegelte, und verlor sich freudig in ferner Waldung.
[170] Sie sagte bescheiden: »Es sind nur Erinnerungen für mich; ich habe diese Kunst nie mit dem erforderlichen Fleiße getrieben. Die Zeichnungen von meinem Bruder, besonders was militärische Architektur betrift, werden Ihnen ohne Vergleich besser gefallen.«
Die musikalische Bibliothek mit einigen theoretischen Werken befand sich zum gemeinschaftlichen Gebrauch auf dem Musiksaal.
Lockmann wagte noch nicht, mehr zu sagen, als: »Ich muß Sie immer höher schätzen und bewundern!« aber seine Blicke konnten nicht verbergen, was er fühlte. Sie gingen einige Minuten auf und ab. Er schlang seinen Arm endlich um den ihrigen, drückte ihre Hand an sein Herz; und da sie es gütig und hold geschehen ließ: so war es ihm nicht möglich, sich länger zu bändigen; in einem Schwung war Brust an Brust und Mund an Mund, sie mit Gewalt ergriffen und aufgehoben.
»Nicht das, nicht das!« sagte sie, und zog sich aus seinen Banden; »das ist nicht freundschaftlich.« Ihr Blick war ernst und unwillig. Was geschehen war, mäßigte sein Feuer, und er entschuldigte sich mit einem starken Seufzer: »O, wären Sie minder schön, weniger im allerstrengsten Verstande liebenswürdig! so aber müßt' ich Stock und Stein seyn, um beständig so vielen Reizen zu widerstehen.«
»Trauter,« antwortete sie ihm lächelnd, »die Leidenschaften bilden sich viel ein, was nicht ist. Nur Verstand und Beschäftigung, bis wir mit der gehörigen Art unsers Umgangs in Gewohnheit kommen; und dann sind wir so glücklich, als ich wünsche.«
So leitete sie ihn bis zum Klaviere, auf das er eine neue Oper hingelegt hatte. Sie nahm sie in die Hand, las:
Sofonisba di Verazi, Musica di Tomaso Traetta; 1762.
und freute sich, weil sie von Kramern viel davon hatte sprechen [171] hören, und dabey auch von Dorothea Wendeling, der Deutschen Melpomene der goldnen Zeit zu Mannheim.
Dieß brachte ihn einigermaaßen wieder zu sich. Sie setzten sich zusammen, und er fing an, darüber zu reden.
»Sophonisbe ragt fast zu sehr über alle die andern Personen in der Musik hervor; eine junge Königin voll Gefühl, doch noch mehr Adel der Seele.«
»Sie ist weit mehr ein Geschöpf des Tonkünstlers, als des Dichters. Bey den Hauptsituazionen, den einzig bedeutenden, ist des erstern Ausdruck entschieden vortreflich, ganz Natur, so rein, daß nicht zu denken ist, wie er besser seyn könnte. Und nicht allein der Ausdruck ist vortreflich, sondern die Musik überhaupt: schöne neue Melodie, schöne neue glänzende Begleitung, gründliche passende abwechselnde Harmonie. Kurz, Traetta zeigt sich hier als ein wahres großes Originalgenie, das in der Musik als Erfinder da steht, und Andre geleitet hat. Diese Oper gehört aber auch unter seine besten Werke.«
»Im ersten Akt
ist die vierte Scene der Sophonisbe ein Meisterstück reizender weiblichen Schönheit voll Italiänischen Accents: Intesi; ti basti, s' io cesso d'odiarti 1. Hier ist so gar nichts von Schlendrian, alles neu, die süßeste Melodie, nichts überflüßig.«
Hildegard trug die Scene sogleich mit dem spröden Ton einer hohen Königin vor.
»Die zweyte Meisterscene in diesem Akt ist die zehnte letzte des Siface; hauptsächlich der Arie wegen. Die Geschichte der Musik muß entscheiden, ob sie das Original ist, oder Glucks Se mai senti spirarti sul volto, die der letztre hernach mit eignem Wohlgefallen in der [172] Iphigenia von Tauris wiederhohlt hat. Ueberhaupt braucht er die Art mehrmals, als beyOmbre, larve in der Alceste:
Terrore m'inspira, d'orrore m'ingombra
Un' ombra gelosa.«
»Deßwegen bleibt jeder doch ein großer Meister, und beydes göttliche Gesänge; keiner kann in einer Kunst alles erfinden. Inzwischen muß man jedem sein Recht angedeihen lassen.«
»Im zweyten Akt
ist die Arie der sechsten Scene von der Sophonisbe ganz in der Art, welche Majo so oft braucht. Ich sage nicht, daß Majo kopirt hat; aber man sieht dabey so recht, wie das Ganze der Kunst fortrückt.«
»Noch ist die zehnte Scene, die letzte in diesem Akt, schön und dramatisch; das Recitativ der Sophonisbe reiner tragischer Styl, und das Terzett leidenschaftlich.«
»Der dritte Akt
enthält das Vortreflichste vom Ganzen. Die vierte Scene ist ein rechter Strom und fruchtbarer Frühling von Musik, eine wahre Seelen- und Ohrenweide. Das Horn und die Hoboe Solo, die schon im herrlichen Recitativ eintreten, machen in der Arie entzückende Wirkung.«
»Dell' umana miseria, Sofonisba infelice, eccoti al colmo; die Arie Sventurata in van mi lagno 2; vortrefliche leidenschaftliche Melodie, und eine der schönsten Bravourarien; vortrefliche Begleitung mit ausgewählter Harmonie; und die Stelle der zweyten Violine, mit der kleinen Sekunde so anhaltend, rührend.«
[173] »Das Spiel mit dem Echo ist freylich gegen das Pathos, und der Dichter hat es zu verantworten; aber in der Musik ist es, mit süßer Kehle und Virtuosen auf der Hoboe und dem Horn, die lieblichste Fülle für das Ohr.«
»Ein neuer Meister hat diese Arie oft nachgeahmt, und damit, jedoch nicht unverdienter Weise, viel Lob eingeärntet.«
»Man muß diese Sachen als schöne musikalische Verzierungen betrachten, wenn sie nur im Ton des Ganzen sind; wie Zierrathen an Gebäuden, Säulen.«
»Mit der siebenten Scene fängt der Kern vom Ganzen an. Che fier destin, che strano caso è il mio 3. Das ganze Recitativ ist ein Meisterstück edler tragischer Declamazion; die verkleinerte Septime ist in der Begleitung höchst reizend angebracht. Vortreflich die Lesung des Briefs; bange Erwartung mit den Instrumenten ausgedrückt; und das Lesen selbst ohne alle Begleitung. Als sie das Gift nun hat, wie göttlich der Ausruf: Oh caro dono! oh fido amico! ein rechter Jubel der Errettung! mit wie wenig, und wie unübertreflich! es ist so recht die Empfindung, die sich nicht mit Worten sagen läßt, durch die Begleitung ausgedrückt, und man kann diese Zeile als ein Muster aufstellen.«
»Die achte und neunte Scene von Jomelli hineingearbeitet sind schön, und unterscheiden sich durch den netten Styl.«
»Die zehnte Scene der Sophonisbe aber gehört unter das Allerhöchste von Traetta, und ist ganz klassisch in der Italiänischen Musik.«
»Sofonisba, che aspetti? Wie herrlich der Uebergang aus dem C dur bey Ecco al mio labbro già la tazza letal in A moll, worin nun die Begleitung zu dem göttlichen Ma ohime! beginnt. La mano [174] perché mi trema! Qual si spande intorno fasco vapor! sotto l'incerte piante il suol perché vacilla! alles im Zwölfachteltakt, Pulsschlag des Schauderns von einem Gefühl ins andre. Und nun Besinnung und Entschluß in neuen Absätzen: dove son? che m'avenne? è questo forse il natural ribrezzo al tremendo passaggio? und nun aus dem E moll ins C dur, und durch den Accord der kleinen Septime auf der Dominante die ganz göttliche Stelle: ah, non credei, che si terribil fosse l'aspetto della morte in der ganzen Fülle mit dem Schauder durch alle Glieder; wohinein der Römische Marsch hinter dem Theater mit Hoboen, Hörnern und Fagotten fällt.«
»Und nach Stillschweigen, sie dazwischen: ma qual suono lieto insieme e feroce? donde? s' osservi! aprite!
Oh vista atroce! le navi, i prigioneri –
Invano m'attendete, o superbi. Jo non verrò; la mia difesa è questa. – Bevvasi!«
»Nun noch einmal Besinnung; wie treflich die Begleitung! Oh Dio, ma dunque ho da morir cosi! wie weiblich! und wieder der stärkre Adel: i ferri, le catene! – Wie göttlich: mi lascian tutti, misera, in abbandono; e sol m'avanza, che soccorso crudel! la mia costanza. Und sie trinkt gierig das Gift 4.«
[175] »Diese Scene behauptet gewiß mit den ersten Rang unter allem Klassischen, was je ist geliefert worden; und ich glaube nicht, daß die ganze Griechische Musik etwas gehabt hat, das mit dieser in Vergleichung kommen könnte.«
»Das Quintett, wo Sophonisbe stirbt, macht einen pathetischen Beschluß; voll Ausdruck in neuer einfacher Begleitung.«
»Auch die andern Personen in dieser Oper haben schöne Sachen, besonders Massinissa und Siface; aber es ist alles unter dem Angeführten.«
»Traetta hat ein erstaunlich reines zartes Gefühl. In seinem Herzen muß manche Leidenschaft in ihrer Fülle gekämpft haben; er trift auf ein Haar den Ton von Traurigkeit, Schauder, Schrecken, kühnen Entschlüssen, Uebergängen aus einer Leidenschaft in die andre; und besonders von dem Leiden edler Seelen.«
Hildegard hatte sich bey der erhabnen Scene nicht geregt: so ganz war sie Ohr und Empfindung. Sie versuchte nun deren Vortrag gleich selbst; und er gelang zu Lockmanns Entzücken. Alsdann rief sie Mutter, Bruder und Feyerabenden, um an dem neu entdeckten Schatze sich mit ihnen zu ergötzen. Alle bewunderten die Scene als eins der größten Meisterstücke, und sagten, diese Rolle sey ganz fürHildegarden gemacht.
Lockmann setzte hinzu: »Wenn es Ihnen beliebt, im nächsten Konzert [176] als die gefühlvolle und zugleich heroische Königin, die mit der Kleopatra der Stolz ihres Geschlechts in Afrika ist, aufzutreten; so will ich morgen Nachmittags meine Leute zur Probe versammeln.« Dieß wurde mit Freuden versprochen.
Hildegard bat ihn noch, ihr diese Oper, und die Armida von Jomelli, beyde ganz abschreiben zu lassen. Es sollte sogleich geschehen; er hatte mehrere gute Kopisten.
Probe und Aufführung gelangen nach Wunsch. Alle, die Musik liebten, bildeten dabey ihren Geschmack mehr; und wer sie noch nicht nach Würden schätzte, fing an Achtung für diese gewaltige Kunst zu bekommen.
Selbst die Fürstin mußte das Hohe des Charakters in Hildegards Darstellung, und ihre geschmeidige Zauberkehle bewundern. Hildegard und ihr Bruder waren die Lust des Fürsten.
Nach der Musik unterhielt sich der letztre mit dem jungen Hohenthal über die Zeitperiode der Sophonisbe. Die Rede kam auf den Sallust, und er forschte nach, wie ihn der Jüngling kannte. Dieser antwortete mit seiner gewöhnlichen Freymüthigkeit, wie folgt.
»Sein Jugurtha und Catilina sind die reinsten Quellen der Römischen Geschichte, und gehören zu dem Vortreflichsten der ganzen Römischen Litteratur.«
»Geschichte von Völkern überhaupt ist für Fürsten, Minister, Feldherren und Philosophen, für diejenigen, welche an der Spitze der Menschheit stehen; und für diese sind Sallusts Werke vollendete Meisterstücke.«
»Er erzählt kurz, wahr und klar, voll Darstellung hinreißend. Nichts ist bey ihm überflüßig, und alles ausgelassen, was den Blick auf das Ganze zerstreuen könnte; seine Sprache gedrängt und lauter [177] Kern; seine Beschreibungen von Charaktern und Ländern tief gegriffen und anschaulich; Reden und Handlungen so natürlich wie Früchte an Bäumen.«
»Er erzählt Begebenheiten der Zeit, wo Rom in seinem höchsten Leben und seiner höchsten Stärke war. Welche Männer: Metellus, Marius undSylla, Jugurtha und Catilina! Cicero, Cato, Pompejus, Cäsar!«
»Tacitus steht, was Materie betrift, weit unter ihm. Was sind ein Tiberius und Nero, eineAgrippina, ein Seneca, und Hofränke und ihre Handlungen gegen solche durch sich selbst große Menschen! Auch ist Sallusts Art zu erzählen und seine Schilderung von Charaktern natürlicher und wahrer. Beym Tacitus leuchtet schon Manier hervor; Sallust ist ganz rein, wie Bildsäulen Alexanders z von Lysipp.«
»Polybios schreibt in dem, was wir von ihm übrig haben, hauptsächlich für Feldherren. BeymSallust kann man die Staatsverfassung der Römer und ihr Genie zu Kriegen recht kennen lernen. Aus ihm spricht der Römer selbst; jener beschreibt bloß meisterhaft die Schlachten. Aber alle drey mit demCäsar sind Männer, die in der spätern Geschichte der Römischen Republik den ersten Rang behaupten.«
»Livius erzählt in dem, was wir von ihm übrig haben, längst vergangne Dinge, unter dem Au gust, als ein Welscher Gallier, und hatte wenig zur Darstellung unter Augen; obgleich ein heller scharfsinniger Kopf und vortreflicher Schriftsteller.«
»Die ganze Römische Geschichte ist ein langwieriges Studium. Es ist gut, sie einigemal durchgegangen zu haben, und die interessantesten Perioden derselben zu kennen; aber Sallusts kleines Buch giebt[178] einem in wenig Stunden die reichhaltigste Anschauung eines der lebendigsten Stücke vom Ganzen. Und die Zeit ist kostbar.«
»Was einer nicht gegenwärtig vor seinen Sinnen gehabt hat, kann er aus der Wirklichkeit, auch mit noch so viel Einbildungskraft und Verstand, nicht darstellen. Beydes ist zwar wesentlich für einen guten Geschichtschreiber; denn er kann nicht alles sehen und hören: aber auch höchst betrüglich, wenn er von vergangenen oder auswärtigen Dingen spricht; er täuscht und blendet die Unerfahrnen. Dieß mag zuweilen der Fall beym Livius seyn.«
»Sallust kannte fast alle Männer, deren Thaten er beschreibt, persönlich, und Menschen und Gegenden, mit denen, und wo sie handelten; kannte sie nicht bloß, sondern studirte sie mit allem Fleiße. Die Staatsverfassung seines Landes verstand er bis aufs Innerste; von der Kriegskunst so viel, als ein vortreflicher politischer Geschichtschreiber nöthig hat.«
»Was das Unmoralische seines eignen Lebens betrift, so darf uns, dünkt mich, dieses, auch alles für erwiesen angenommen, im Lesen seiner Schriften nicht stören. So war der Strom der Zeit; er ließ sich darin forttragen, wie ein kühner und erfahrner Schiffer; wollte nicht den Helden der Tugend machen, und glücklich nach den Umständen leben. Größer bleibt es gewiß, als ein Sokrates unter den Tyrannen hervorzuragen.«
»Durch dieses Leben bey solchen Einsichten sind im Gegentheil eben Sallusts Schriften so lehrreich, ist alles mit Staatsweisheit wie mit Nerve, Fleisch und Blut und Kraft und Stärke durchzogen, so recht zu seinem Zweck; selbst erzeugt, aus der Natur geschöpft, göttlich, und keine Kompilazion.«
Dieses Urtheil freute den Fürsten wieder in der Seele; er sah, was [179] aus dem Jüngling werden konnte, und setzte sich vor, ihn auf alle Weise zu befördern. Um ihn durch zu frühzeitiges, und vielleicht zu stark ausgedrücktes Lob, wie vorher, nicht eitel zu machen, sagte er darauf nur: »Vortreflich, lieber Hohenthal! man könnte Sie wohl mit Ehren schon zum Professor der Römischen Geschichte machen.«
Hohenthal versetzte darauf lachend, indem sich nun einige Herren vom Hofe hinzugesellten: »Ich möchte dann vielleicht Ewr. Durchlaucht antworten, wie ohne fernere Vergleichung Karl der Sechste seinem Hofkapellmeister Fux: wir haben es halter so besser!« Er erzählte das Geschichtchen, wo der Kaiser öffentlich zu einer Oper von Fux den Flügel spielte.
Wolfseck suchte unterdessen mit allerley schwerfälligen Possen sich Hildegarden gefällig zu machen. Sie war die Zeit über immer, wie vorher, gegen ihn so höflich gewesen, daß er daraus den Schluß machte, sie müsse seinen Antrag nur für so obenhin, und nicht für ernstlich und ordentlich aufgenommen haben, oder durch Schuld der Fürstin vielleicht noch gar nichts Rechtes davon wissen. Als er zudringlicher wurde, ihr auf die letzt die Hand faßte und mit Bedeutung küßte: sah sie sich genöthigt, ihn mit einem eiskalten Blick und wie befremdet zu betrachten. Dieß that Wirkung; aber er legte es doch nicht so sehr zu seinem Nachtheil aus, sondern wohl nur für erst erregte Aufmerksamkeit.
Wie Verliebten so leicht nichts entgeht: so bemerkte auch Lockmann, daß Wolfseck seinen langen Rücken beugte, und tiefgebückt mit vorliegenden Augen Hildegards zarte schöne Rechte an seinen breiten Mund drückte. Ihr Blick und Gesicht dabey war von ihm abgewandt, und er konnte also nicht sehen, wie sie es aufnahm. Wolfseck hatte ihn selbst, vorher und jetzt, einigemal besonders [180] betrachtet, als ob er etwas gegen ihn im Schilde führe. Reich war er, das wußte Lockmann; eben so, was sein Vater vermochte; kurz, daß dieß vielleicht die größte Partie im Lande war. Bey diesem Gedanken lief es ihm heiß im Leibe auf und ab. »Sie ist für dich verloren!« Diese Idee rollte ihm durch alle Nerven und Adern und im Kopfe herum, daß ihm anfing die Stirn zu schwitzen.
»Befürchten Sie jedoch nicht, daß ich so bald einem Andern zu Theil werde.« – – »Aber wenn du mußt, Kind! Bey euch fragt man nicht lange; es ist genug, wenn eure äußern Verhältnisse zu einander passen.«
Er gab auf alles Acht, wie er sie zur Tafel begleitete. Hier bemerkte er zu großem Trost, daß sie ihr schönes Gesicht von dem Unhold wegwandte, und bitter aussah: für ihn der göttlichste Reiz, den er je an ihr erblickt hatte.
Er konnte nicht ruhig werden, bis er sie darüber selbst sprach. Etwas mußte vorgehen, oder vorgegangen seyn; so viel schien ihm klar.
Den andern Tag lauerte er die Zeit ab, wo er sie allein zu finden glaubte, nahm eine schöne Oper voll Liebe mit, und traf sie glücklich wieder auf ihren Zimmern.
Er sagte gleich das Stärkste, um geschwind hinter die Wahrheit zu kommen. Sie sah es in seinen scharfen Gesichtszügen, daß er etwas auf dem Herzen hatte. »Ich werde bald Serenaten, Epithalamia und Tänze zu Ihrer Hochzeitfeyer mit Herrn von Wolfseck setzen müssen!«
»Ich glaube, Sie träumen,« versetzte sie mit einer angenehmen Art von Zorn. »Oder wo haben Sie etwas gehört und gesehen, das Ihnen Anlaß geben könnte, mir dieß zu sagen?«
[181] Der größte Theil seiner Angst war von diesen Worten zu Boden geschlagen, wie Sommerstaub vom ersten frischen Gewitterguß.
Er wußte nicht, was er darauf antworten sollte, und mußte also mit seiner ganzen Wahrheit hervorrücken.
»Gestern küßte Wolfseck Ihnen so zärtlich die Hand; und – darf ich so eitel seyn es zu sagen? – sah Ihren unwürdigen Musikmeister, gewiß ohne dessen Verschulden, wie Ihre feinste Aufmerksamkeit ihm die Gerechtigkeit widerfahren lassen wird, schon einigemal mit besondrer Ueberlegung an.«
Sie lachte über die Beichte; doch regten sich einige unwillige Züge des Nachdenkens an ihrer sonst ewig heitern Stirn. Sie befürchtete die Leidenschaft des Holden zu reizen, wenn sie ihm nur etwas entdeckte; und antwortete: »Herr von Wolfseck ist ein Hofpedant; da er nichts von Musik versteht, so hat er mir seinen Beyfall nur auf diese ungeschickte Art ausdrücken können. Lassen Sie Sich so etwas nicht kümmern.«
»Aber Sie wendeten doch hernach, als er Sie weg führte, Ihr himmlisches Gesicht zu meinem süßen Trost bitter von ihm ab!«
»Weil ich das Laffenwesen, besonders von einer solchen Figur, nicht leiden kann.«
O goldne Zeit der Jugend und Schönheit, Frauen und Jungfrauen, wo ihr einen Wald von Schatten wünscht, um mit den heißen Strahlen eurer Sommersonnen selbst den edelsten Blüthen und Früchten eurer Neigung dadurch nur liebzukosen und sie köstlich zur Reife zu bringen, nicht im Freyen sie zu versengen und zu verbrennen!
Welch eine Lust, wenn das Herz von der Gewalt der Natur allein getrieben, unerkünstelt, euch die Fülle seines Gefühls opfert!
[182] Dieß heiterte Lockmannen wieder auf, und stillte seine Besorgnisse.
Weil er zögerte, so eilte sie selbst, um von dieser Materie abzukommen, an das Klavier, that einige Griffe; fing dann in Gedanken an darauf zu phantasiren, und wand sich zu seinem Erstaunen glücklich durch die schwersten Gänge, in welche sie hinein gerieth.
»Auch das noch!« rief er.
»O,« antwortete sie lächelnd, »ich weiß selbst nicht, wie ich es gemacht habe, wenn es Ihnen gefällt. Ich habe das Klavier immer nur zur Begleitung gebraucht, höchstens Tänze, einige gar leichte oder sehr angenehme Sachen gespielt, und mich auf das kunstreiche Fingerspiel der Bache, Mozart undClementi nie eingelassen. Ich schätze das Instrument, außer der Harmonie, für sich allein nicht genug; und habe mir nur Mühe gegeben, die Regeln der Harmonie wohl zu fassen, und mich in dieser Rücksicht oft darauf geübt.«
Lockmann hatte sie zwar sich einigemal nett, rein und richtig begleiten hören, glaubte sie aber nicht so weit. Er rühmte sie sehr deßwegen. Sie erwiederte:
»Noch niemand hat mich so gut begleitet, als Sie; ich wünschte, daß Sie mir über Ihre Art einigen Unterricht ertheilten.«
Inzwischen kam die Mutter die Treppe herauf gegangen; sie hatte Hildegarden spielen hören, vermuthete den Meister bey ihr, und wollte sie doch nicht immer mit ihm allein lassen. Ihre Tochter saß am Klaviere, und beyde waren im Gespräche. Sie bat, sich nicht darin stören zu lassen, setzte sich mit ihrer Näharbeit, und hörte zu.
Lockmann erwiederte Hildegarden: »Der Spieler muß bey der Begleitung dem Orchester den Takt, der Stimme den Ton angeben, und sie darin erhalten. Die Instrumente dazu sind der Flügel, oder das Fortepiano, die Guitarre, und in der Kirche zuweilen die Orgel.«
[183] »Wir Deutschen schweifen hierin oft aus. Es ist nichts unerträglicher, als das unaufhörliche Einhacken mit den Accorden; alle Begleitung der andern Instrumente wird dadurch verhunzt, und mit der Stimme geht man so pedantisch um, wie ein Schulmeister mit seinen Knaben.«
»Die Italiäner begleiten, wenn ein besondrer Director da ist, ohne Ziffern, und ohne Partitur, bloß nach dem Gehöre. Doch ist es gewiß am besten nach der Partitur; wie kann einer sonst der Stimme beystehen, wenn er das Ganze nicht schon durch öftere Proben kennt? Sie geben, hauptsächlich in den Recitativen, die Harmonie nur leicht mit einem Schlag an, und zeigen bloß deren Veränderung. Und dieß ist auch der Zweck, weil die Stimme es nicht immer kann, ohne dem schönen Vortrag zu schaden. Wo die Stimme schon selbst die Harmonie angiebt, bedarf es nicht einmal des Klaviers. Der Begleiter soll die Stimme nur führen, wie ein junger Mann eine beherzte Dame, ihr den Pfad ausspähen bey mißlichen Uebergängen, und sie nicht behandeln wie Krüppel und Lendenlahme.«
»Die Orgel schickt sich mit ihrem anhaltenden Gepfeife gar nicht zur Begleitung, und überschreyt alle Grazie der Stimme; es ist als ob der Riese Goliath mit einem Kinde spielen wollte.«
»Nichts ist ferner unerträglicher, als wenn die Violoncelle sich dabey hervorthun wollen, und den Zuhörern das Gehör zerhacken.«
»Lauten, Guitarren, Harfen und Flügel oder Fortepianos sind die, natürlichsten Instrumente zur Begleitung.«
Alsdann fuhr Lockmann ernsthaft fort: »Ich habe Ihnen hier eine der berühmtesten Opern vonMetastasio, die Olimpiade, mitgebracht, woran, wenigstens bey einzelnen Scenen, die größten [184] Meister ihre Kunst versucht haben. Diese Musik ist von Jomelli; er führte sie zu Stuttgard im Jahre 1761 auf 5.«
»Das Gedicht ist zu künstlich angelegt, als daß es im Ganzen täuschen könnte; man muß gar zu viel dabey merken, so verflochten ist es. Ueberdieß sind die Personen Italiäner in Griechischer Tracht. Im dritten Akt besonders, wo in der ersten Scene Megakles und Aristea auf beyden Seiten des Theaters sterben wollen, einander nicht sehen, und vom Amint und der Argene aufgehalten werden, hernach ausreißen und einander in die Arme laufen, und Aristea, die den Megakles schon todt glaubte, ihm sagt:
Ingrato! e tanto
m' odi dunque, e mi fuggi,
che, per esserti unita
s'io m' affretto a morir, tu torni in vita 6?
wird es ein wahres Puppenspiel.«
»Doch sind einige ergreifende Situazionen darin, höchst schöne Arien, und das vortreflichste Duett der ganzen Italiänischen lyrischen Poesie.«
»Jomelli erscheint hier in der Fülle seiner Kraft. Wir wollen nur, das Vortreflichste durchgehen.«
[185] Erster Akt.
Scene 3.
Quel destrier, ch' all' albergo è vicino
Più veloce s'affretta nel corso. 7
»Diese Arie gehört unter die vortreflichsten der pittoresken Musik; der Galopp des Pferdes herrscht durchaus in der Begleitung der zweyten Violine; und es ist in der Melodie und der gesammten Harmonie eine Pracht und ein Jubel, die bezaubern.«
»Lolli konnte sich dabey hervorthun. Man muß sie als eine reizende Verzierung betrachten.«
»In dem Schäferchor
O carē selve! o cara
Felicē libērta!
der den einfachen gehörigen Charakter der Fröhlichkeit hat, ist merkwürdig, daß auch Jomelli den Ausdruck zu verstärken glaubte, wenn er einige kurze Sylben lang declamirte, wie die ältern Komponisten, besonders Pergolesi, bey der so bitter getadelten Stelle: Cujūs anīmam gēmentem. Man muß ein grausamer Pedant seyn, wenn man wegen einer solchen Naivetät einem Meister, der so viel edle und gewiß geschmackvolle Menschen entzückte, Genie und Kunst absprechen will. Es trägt allerdings zum Ausdrucke bey, wenn es selten, nur bey Leidenschaft, und nicht zu anhaltend lange gebraucht wird, in welchen Fehler Pergolesi verfallen seyn mag.«
Scene 8. »Ganz vortreflich für eine Contrealtstimme. Das Recitativ mit Begleitung ist voll Grazie und Fülle von Klang, und meisterhaft declamirt. Es macht noch mehr Lust, wenn man weiß, daß Jomelli mit der Buonani in einem Liebesverständnisse lebte. Besonders ist [186] die einfache Begleitung der zweyten Violine neu und voll Wirkung. Die plötzliche Abwechslung von Ton bey Imparate inesperte donzelle – Ognuno vi chiama suo ben von G dur in A moll, F dur, Es dur, C moll, G moll; und Guadartevi da lor – son tutti inganni 8, beschließt voll Grazie.«
Scene 9. »Dieser Monolog des Megakles: Che intesi eterni dei, quale improviso fulmine mi colpi 9! gehört zum Kern der ganzen Oper, und macht gleichsam das Herz derselben aus. Jomelli zeigt einen großen Kunstverstand, und ein feines richtiges Gefühl für Poesie, daß er bey allen seinen Opern immer so das Wesentliche heraushebt. Diese Stelle ist klassisch bearbeitet; der Sieg der Freundschaft in der Seele über die Liebe. Das höchste Opfer wird ihr in einer heftig und zärtlich Geliebten gebracht. Jomelli schwingt hier recht die tragische Keule. In der Declamazion und Begleitung liegt eine erstaunliche Kraft von Darstellung: alle innern Gefühle des höchst leidenschaftlichen Menschen werden hörbar hervor in die Luft gezaubert; und da ist nichts von Schlendrian, nichts von dem weichlichen Neuern der Piccini und Paesiello: alles aus der höhern menschlichen Natur, wovon der Meister selbst war.«
»Das Ueberraschende, das Erstaunen, vortreflich gleich anfangs durch die Begleitung; und die Blitze der Gedanken: è, che non sono rigide a questo segno le leggi d'amistà! perdoni il prence 10 [187] – die Ueberlegung des eignen Interesse vortreflich wieder durch die Begleitung. E questa vita di Licida non è? u.s.f. Diese edlen Fragen eben so meisterhaft durch die Begleitung; non fu suo dono? non respiro per lui? Diese Gefühle werden erstaunlich durch die Begleitung verstärkt; bloße Declamazion kann sie unmöglich so ausdrücken: so etwas konnte die Griechische Musik nicht leisten.«
»Voi soli ascolto oblighi d'amistà; vortreflich mit dem Uebergang in das reine C dur. Palpito, e sudo solo in pensarlo; – nur nicht in Gegenwart der Aristea – schließt recht lyrisch leidenschaftlich.«
Scene 10. »Diese letzte gehört unter die allerschönsten Scenen des Metastasio. Die Situazion ist einzig, und wirklich Griechisch reizend und schön. Der Charakter der Aristea ist höchst edel zärtlich. Das Duett: Ne' giorni tuoi felici, krönt das Ganze, welches mit dem feinsten Kunstgefühl bearbeitet ist.«
»Jomelli hat das Duett als ein großer Meister bearbeitet; der Gesang, die Melodie ist entzückend, und in der Harmonie viel Schönheit. Unruh und Begierde bey der Aristea, das Wahre zu erfahren; Zurückhaltung der Leidenschaft und des Wahren beym Megakles: machen dessen Charakter; und doch spricht süße heftige Liebe. Ich glaube, daß Jomelli den Charakter besser getroffen hat, als z.B. Paesiello, dessen Musik dazu unter den neuern man für die schönste hält. Megakles mußte seinen Vorsatz ausführen, und konnte bey doppeltem Kampf und Sieg also nicht den weichlichen F mollton in der Seele haben, aus dem dieser ihn singen läßt. Jomelli's und Pergolesi's A dur, welches in das erhabne E dur übergeht, ist viel treffender.«
Zweyter Akt.
Scene 7. »Die Begleitung der Arie des Clistene:So, ch' è fanciullo [188] amore mit den synkopirten Accorden von den Instrumenten, ist merkwürdig, und zeigt, daß Jomelli, und nicht Majo, der Erfinder davon war.«
»Licida machte eine armselige Figur in der Poesie. Welche Albernheiten: Crede Megacle sposo, e se ne affanna? und in der achten Scene: L'amor mio, caro amico, non soffre indugio. Man begreift am Ende gar nicht, warum er den König auf der Straße anfällt.«
Scene 9. »Sie hat Aehnlichkeit mit der, wo Armida verlassen wird.«
»Aristea:
Senti, ah no – dove vai? –
Ah t'oppresse il dolor, cara mia speme –«
»Das ganze Recitativ ist voll von ächtem Pathos, und gehört unter das Vortreflichste. Bey dem im ersten Akt war der Entschluß; und hier die That. Das Ganze bildet sich stückweise auf diese Art in der Phantasie des Zuhörers. Die neuern Pariser Opernschreiber haben mehr Verschmelzung ausgefunden.«
»Bey Ah che farem di nuovo a quest' orrido passo, macht der enharmonische Gang gute Wirkung. Der Ausgang ist voll Leidenschaft und vortreflich.«
»Die Arie darauf: Se cerca, se dice, ist ein Meisterstück von Ausdruck und musikalischer Schönheit; sie gehört unter das Vortreflichste der Italiänischen lyrischen Bühne.«
Scene 11. »Aristea:
Tu me da me dividi,
Barbaro, tu m'uccidi,
ist ganz vortreflich nach dem leidenschaftlichen Texte gearbeitet, so daß man die Musik gar nicht merkt.«
[189] »Der zweyte Akt schließt sich mit einem begleiteten leidenschaftlichen Recitativ, und der prächtigen Bravourarie des Licida; doch von so wenig Kern, als der Charakter selbst hat.«
Dritter Akt.
Scene 1. »Die Arie der Aristea ist eine Perle, solch ein schöner Gesang, und so schöne Begleitung mit den synkopirten Accorden, und alles neu; mit dem allgemeinen Text treflich für ein Konzert: Cara son tua cosi, che per virtu d'amor risento anch'io i moti del tuo cor.«
Scene 3. »Die Arie des Megakles ist meistens Kunst zur Verzierung mit dem obligaten Horn und der obligaten Hoboe: Lo seguitai felice. Jomelli hat nachher diese Art viel vortreflicher ausgearbeitet.«
»Die Arie der Argene: Fiamma ignota nell' alma mi scende, ist ein Meisterstück von Schönheit und Leichtigkeit; eine rechte Arie für eine Prinzessin, die wenig Stimme hat und glänzen will. Die Melodie ist immer in der Mitte, und geht nur ein paarmal bis in das zweygestrichne Gis. Der Text, und der Ton E dur ist feyerlich, und die Begleitung, selbst Melodie, vom höchsten Reiz.«
»Es ist in dieser Oper alles ausgearbeitet; auch die Arie des Aminta darauf: Son qual per mare ignoto naufrago passaggiero, hat die Begleitung von einem empörten Meere.«
»Marsch und Chor sind, obgleich nicht außerordentlich, doch gut und passend.«
Scene 7. »Signor tu piangi; ein vortrefliches Recitativ mit Begleitung. Jomelli hat es hernach zu Neapel mit viel mehr Ausdruck wieder gebraucht. Die Arie ist schön mit der Begleitung.«
[190] »Noch ist das Terzett schön mit dem Chor: I tuoi strali terror de' mortali; so wie der Schluß.«
Hildegard wollte den andern Morgen die ganze Oper für sich durchstudiren; und beyde sangen jetzt nur die zwey großen Scenen mit dem Duett: ne' giorni tuoi felici; und der Arie: Se cerca, se dice, nachdem Hildegard ihren Bruder und Feyerabenden dazu gerufen hatte.
Alsdann wurden dieselben Scenen von Pergolesi, und alles, was noch von ihm da war, auf Verlangen der Mutter herbeygehohlt, und die erstern damit verglichen.
Man kam darin überein, daß Pergolesi Ne' giorni tuoi felici für seine Zeiten ganz vortreflich ausgedrückt hätte; Jomelli ihn aber an Würde und ächtem Ausdruck der zwey ersten Verse überträfe, so wie in den folgenden
Ah! che parlando o dio! tu mi trafiggi il cor,
Ah! che tacendo o dio! tu mi trafiggi il cor,
Pergolesi göttlich wäre, und Jomelli ihm nachstehen müsse.
Man wiederhohlte die Melodie besonders, und die Melodie mit Begleitung noch einmal von beyden recht mit Lauterkeit und Besonnenheit; und es entstand folgendes Urtheil:
»Wenn man unpartheyisch das Ganze betrachtet; so gleicht die Komposizion von Pergolesi einem schönen Gemählde von Raphael, und bleibt in ihrer Einfachheit wahrer und keuscher, als die vonJomelli, in welcher schon Uebertreibung, und nicht genug Wahrheit, inzwischen weit mehr Fülle von Musik ist.«
Lockmann fuhr fort: »Eben so ist das Se cerca von Pergolesi ganz Raphaelisch, so recht die Natur in ihrer nackten Unschuld. [191] Ich glaube nicht, daß die Musik seiner Zeit etwas Schöneres dieser Art aufzuzeigen hat.«
»Wahr ist es jedoch, Jomelli's Schönheiten sind beym letztern von edlerer und höherer Natur, die Formen weit kräftiger, gebildeter, und – athletischer, möcht' ich sagen. Pergolesi's Formen sind mehr schäfermäßig, der Ausdruck desgleichen; es fehlt die höhere durchgearbeitete Kunst und Menschheit.«
»Die übrigen Arien, die ich noch von Pergolesi aus dieser Oper gesehen habe, kommen aber den zwey Stücken bey weitem nicht gleich; sie sind wohl klar, aber meistens leer.«
»Pergolesi überhaupt ist kein Meister, der mit Jomelli'n zu vergleichen wäre. Sein Genie, so viel aus dem zu sehen ist, was wir von ihm haben, war von geringem Umfang, und nicht von großer Kraft und Stärke. Das Leiden guter schwacher Menschen drückt er hauptsächlich, aber auch ganz vortreflich aus; und so Hofnung von Rettung. Von dem Tragischen eines Traetta, Jomelli, Gluck steht er sehr weit ab.«
»Sein Stabat mater ist das Wichtigste, was wir von ihm haben, und dieß wird auch noch lange bleiben. Es ist ein Meisterstück in seiner Art, und originell: gleich das erste Duett ein schönes Kunstwerk; die Melodie in zwey Stimmen verschmolzen, so daß keine sie ganz hat; die Darstellung täuschend.«
»Das Pertransivit gladius im zweyten Absatze vortreflich und schneidend. O quam tristis, voll Ausdruck. In quae moerebat, eine gewisse bescheidne Art von Enthusiasmus. Dolentem cum filio höchst vortreflich; so in tanto supplicio, das Ganze voll Religion und Salbung. Pro peccatis – in tormentis – et flagellis voll Darstellung. Eben so vidit suum dulcem natum; Eja mater, fons [192] amoris gleichfalls: ein heiliger Eifer der Frömmigkeit athmet aus allem.«
»Fac ut ardeat cor meum, eine sehr angenehm verwickelte kleine Fuge, gleichsam Stempel von Kirchenmusik, welche gut zu Eifer paßt.«
»Sancta mater istud agas ist zwar auch gut, wird aber bey dem Largo etwas langweilig. Fac ut portem, eben so. Inflammatus et accensus will es wieder mit frommer Grazie im Allegretto gut machen.«
»Quando corpus morietur, fac, ut animae donetur paradisi gloria, gehört unter die vortreflichsten Sachen der Musik vom ersten Range; man kann es zu den Magdalenen und Johannes von Raphael, Correggio und Guido stellen. Das Amen macht damit einen schönen fugenartigen Beschluß.«
»Man mag aus Neid und jugendlichem Uebermuth sagen, was man will: das Stabat mater gehört unter die klassischen Werke der Kirchenmusik, und ist ganz gemacht für ungeheuchelte Christen. Es liegt wunderbar viel christliches Gefühl darin.«
Noch war die Kantate Orfeo von Pergolesi vorhanden. Lockmann sang das erste Recitativ:nel chiuso centro, und begleitete sich dazu. Dann sagte er: »Welcher voll und rein fühlende Nerve von Musik! es kann an Schönheit und Ausdruck von Declamazion und Begleitung durch alle Zeiten dauern.«
Pergolesi war der Liebling der Mutter. Alles, was Lockmann zu seinem Lobe sagte, that ihr wohl; und bey jedem Wort zu seinem Nachtheil zog sie die Augenbraunen ein. Als Lockmann ihn im Tragischen so weit unter Traetta, Jomelli und Gluck setzte, erschrak Hildegard, und trat ihn mit allem Fleiße recht hart auf seine [193] rechte kleine Fußzehe, daß er beynahe laut geschrieen hätte. Doch als Hildegard dann mit verzückter Frömmigkeit wie eine junge heilige Theresia Quando corpus morietur himmlisch sang, und die Begleitung ihre Stimme wie mit Fittichen empor hob: war alles wieder gut gemacht; die Thränen flossen der Mutter vor Rührung aus den Augen. »Gutes Land, Italien,« sagte sie; »aus dir ist doch viel schönes menschliches Gefühl in die andern Erdstriche ausgegangen!«
Der Nachmittag war sehr schwül gewesen, die Sonne schon unter; man wollte die Abendmahlzeit zwischen den kühlen Linden halten, und Lockmann wurde dazu eingeladen.
Alle gingen in den Garten, und in den Gängen auf und ab, während die Bedienten zubereiteten.
Man sprach viel über Italien; und die Mutter bemerkte, welch ein unvergleichliches Land es sey für fromme Seelen, und welche reizende einsiedlerische Gegenden in den Gebirgen des Apennin für diejenigen wären, die sich von dem stürmischen Leben entfernen und den Rest ihrer Tage mit Betrachtung des Ueberirdischen zubringen wollten.
»Den Rest der Tage, o ja!« erwiederte ihr Sohn; »nur sollte man die neuern jungen Cornelien, die Scipionen, nicht so von der menschlichen Gesellschaft absondern, und die jungen geistvollen Theresien nicht zur Schwärmerey verleiten: diese sind für das thätige Leben bestimmt. That allein macht wirklich glücklich; das geschäftige Leben allein ist das wahre. Zur heißen Zeit, bey schwüler Luft, und nach Musik vonPergolesi, mögen einen jedoch zuweilen in aller Unschuld solche Gedanken anwandeln.«
Man setzte sich darüber zu Tische, und die heilige Theresia ward [194] einige Zeit das Gespräch. Hildegard schnitt eine köstliche eben reif gewordne Zuckermelone in Achtel, und theilte sie aus. Feyerabend verstand Spanisch, und besaß selbst eine schöne Ausgabe von den Werken der Heiligen. Er sagte: »Ihr Styl ist verführerisch; lauter Lieblichkeit, und die reinste Kastilianische Sprache.«
Vivo sin vivir en mi,
y tan alta vida espero,
que muero porque non muero.
Ich lebe ohne in mir zu leben;
und hoffe ein so hohes Leben,
daß ich sterbe, um nicht zu sterben.
»Ein ganzes Lied nach dieser Strophe voll Verzückung, und voll Bitterkeit gegen das Irdische, dessen Inhalt manche unerfahrne Seele hinreißen kann.«
»Theresia las in ihrer Kindheit mit ihrem Bruder die Lebensbeschreibungen der Heiligen und Märtyrer; beyde wünschten eben so zu sterben, und wollten den Tod bey den Sarazenen suchen. Als sie dieß nicht bewerkstelligen konnten, spielten sie die Eremiten, und machten sich Einsiedeleyen in ihren Gärten. Nach dem Tod ihrer Mutter las Theresia in ihrer ersten Jugend ohne Maaß und Ziel Geschichten irrender Ritter. Dann that man sie zur Erziehung in ein Nonnenkloster. Und so erzählt sie mit reizender Naivetät fort, wie sie endlich Stifterin eines neuen Ordens ward.«
Lockmann schilderte dazu ihre Gestalt in Marmor von Bernini, die ihm hierüber lebhaft wieder in Erinnerung kam, in der Kirche der Maria Vittoria zu Rom, und hielt es für wahrscheinlich, daß der Künstler den Ausdruck nach ihrem Liede, und vielleicht die Hauptzüge nach einem jugendlichen Porträt von ihr, gebildet habe.
[195] »Der Kopf bleibt ein Meisterstück von Ausdruck,« fuhr er fort; »es ist eine erhabne ernste Verzückung, unter welcher die Natur leidet und in Ohnmacht sinkt. Die Augen blicken noch, beynahe zugeschlossen, und blitzen, wenn ich das Wort brauchen darf, Wollust; der offne überlaßne Mund fühlt eine höhere Kraft, und liegt überwunden in bangen süßen Gefühlen. Die ganze Gestalt scheint die schwärmerische Spanierin.«
»Sie wird auf Wolken liegend emporgehoben, und Hände und Füße sinken, ganz von der Erde und Wirklichkeit weg, willig ein. Feuerstrahlen regnen von oben herab auf sie.«
»Im Ganzen herrscht gewiß viel Empfindung; auch ist Schönheit in den Formen, die freylich von den Griechischen auch in der Bearbeitung abstehen, und man merkt das Jahrhundert des Marino. Die Wolken in Marmor thun nicht die gehofte Wirkung, so wie das verzettelte Nonnengewand. Albern ist der Engel vor ihr mit dem Pfeil in der Rechten nach ihrem Herzen, und mit der zärtlichen Miene.«
»Das Ganze zeigt einen allgemeinen Taumel der Sinne, und verlangt, um gehörig genossen zu werden, schon erhöhte Welsche Einbildungskraft.«
Nach einigem Stillschweigen, fing Feyerabend wieder an: »Ein ächter Einsiedler müßte sich selbst genug seyn, seine Glückseligkeit in den großen Massen der Natur finden, fern von den kleinlichen Leidenschaften der Gesellschaft; und mit tiefer Empfindung der Reihe der organischen Formen immer in erhabnen Betrachtungen schweben.«
Als er so sprach, flisterten die Blätter; ein Wind regte sich, und plötzlich rauschten Wipfel und Zweige. Es erhob sich ein Sturm; [196] der Staub flog, die Lichter wurden ausgelöscht, Blitze flammten, und von fern rollte der Donner. Man machte sich ins Freye; ein starkes Gewitter kam herangezogen. Dichte Nacht wälzte sich über die Gegend.
Die Mutter eilte mit dem Sohne voran, fast vom Winde getragen, auf ihre Zimmer, Feyerabend hinter drein; Lockmann nicht so schnell mitHildegarden, von deren rechter Brust er die zarte nackte warme süße straffe Form mit raschem Griffe der linken Hand zum erstenmal, entzückt durch sein ganzes Wesen, fühlte. Sie riß sie ihm hastig weg; indeß flatterte ihr Kleid um ihre und seine Beine, daß sie sich, wie in einem Walzer, durch Umdrehen loswinden mußten. Dabey raubt' er ihr noch einen vollen Kuß zum Abschied, und kam unter Blitz, Donner, Sturm und dem ersten Regenschauer mit fliegenden Haaren glücklich nach Hause.
»Sie liebt dich, o sie liebt dich! wenigstens das, was an ihr fühlt und empfindet, so streng und kalt auch das, was in ihr denkt, nur Freundschaft gebieten mag. Welch ein Tritt!« so sagte er freudig, indem er sich zu Bette legte, und streichelte seine Fußzehe, die ihm noch weh that. »O, so glücklich, du kleine, fuhr er fort, bist du in deinem ganzen Leben nicht gewesen! Welch eine wollüstige Form! (Er maß noch mit schwebender Hand das Gefühl ihrer Brust.) Eine goldne unten zugespitzte Schale für Hochheims alleredelsten Nektar will ich mir so ründen lassen. O es geht; es muß gehen! Nur darf mir die erste gute Gelegenheit nicht entschlüpfen.« So sank er nach und nach in süße Träume hin, und schlief ein.
Nach fleißiger Probe wurde die Olympiade mit erhöhtem Beyfall aufgeführt. Madam Ewald, für welche die Rolle der Argene ganz geschrieben war, that sich sehr hervor. Aber vorzüglich glänzte den [197] AbendLockmann; er machte den Megakles mit einer Wahrheit bis zur Täuschung, und verzierte seinen Gesang zuweilen mit so schönen neuen Manieren, besonders im Duett, daß Hildegard vor Lust zu hören einmal vergaß mit zu singen, und die Stelle lächelnd pausirte. Als sie aber wieder kam, wiederhohlte Hildegard selbst seine Art von Manier noch schöner, und es war ein Schwung, ein Flug zum Entzücken.
Nach dem Konzerte wurde über die zwey berühmten Scenen, wie gewöhnlich, viel gesprochen. Beyde machten nun dem Fürsten das Vergnügen, und sangen sie nach Pergolesi's Musik; aber auf einmal wie fünfzig Jahr in der Zeit zurückgesetzt: so die einfache Begleitung, so von aller neuern Zier entfernt der Vortrag, und so ihr Spiel dabey.
Jomelli blieb überwunden; der Enthusiasmus des Fürsten entschied; Lockmann getraute sich nicht, ein Wort für ihn zu reden.
Herr von Wolfseck wurde auf diesen nun in der That eifersüchtig; er glaubte, bey dem Duett ein Verständniß bemerkt zu haben, das nicht bloß musikalisch sey, und schnitt ihm ein paarmal bey den zärtlichsten Stellen, unüberlegt, ganz mechanisch, essigsaure Gesichter. Schon dacht' er auf Mittel, wie der verzweifelt hübsche und verführerische Mann zu entfernen wäre; doch durft' er nicht mit der Thür ins Haus fallen.
Lockmann bemerkte dieß wieder sehr genau; und eben so Hildegard, der er sich von neuem aufdrängte. Da weder Kälte, noch Stillschweigen helfen wollte, so suchte sie sich durch die Frau von Lupfen zu retten, bat diese leise, daß sie ihn ihr abnehmen möchte, und flüchtete sich alsdann zum Fürsten. Der Fürstin wegen, die es doch mit ihr gut gemeint, und sie auf diese Weise an ihrem Hofe [198] hatte fest halten wollen, hielt sie es nicht für rathsam, ihn mit Worten lächerlich zu machen; doch sollte dieß in der Folge nicht ausbleiben.
Den andern Tag traf Lockmann sie zur gewöhnlichen Zeit wieder allein. Er wollte gleich einen Kuß nehmen; aber sie empfing ihn mit muthwilliger Kälte. »Freund, ich darf Sie nicht verwöhnen,« sagte sie scherzend; »das Küssen bleibt nur für etwas Außerordentliches.« Und als er liebkosend Gewalt brauchen wollte, hielt auch sie ihn mit Gewalt ab; denn sie war keine von den Schwachen. »Guter, Vortreflicher,« sagte sie dann ernsthaft weiter; »soll ich wiederhohlen, was ich Ihnen schon gesagt habe? Nein, Sie sind zu verständig.«
Darauf sprach sie gleich von ihren Woollets, und den Landschaften von Claude, auf die er verstört den Blick richtete. »Claudius,« fuhr sie fort, »entzückt immer die Seele mit himmlisch süßen Gefühlen. Welche Heiterkeit haben seine Lüfte, welche Empfindung seine Thäler, Wasser und Berge, Bäume und Fernen!«
»Woollets Ruinen von Rom nach ihm übertreffen alles. Wenn man die meisterhafte Dreistigkeit der Zeichnung von Audran, die Eleganz von Edeling, die Kraft von Balechou...«
Lockmann sah, daß sie ihn zum besten hatte, und wollte nichts weiter davon hören. Durch die kleinen Traulichkeiten maaßte er sich schon halb und halb ein Recht an, und unterbrach sie kurz damit: »Ich bin so schöner Bemerkungen jetzt nicht würdig.«
»Nun, so wollen wir Musik machen, so gut ich kann!« versetzte sie ihm empfindlich.
Das Hohe dieser Antwort faßte ihn wie eine Adlerkralle. »Herr von Wolfseck,« wollt' er fortfahren –
[199] »Herr von Wolfseck?« erwiederte sie; »was geht mich der Herr von Wolfseck an, und ein Dutzend Wolfsecke? Ich habe Ihnen meine Meinung darüber schon gesagt.« Und so mußt' er ihr zum Klaviere folgen.
Er hatte wieder eine Oper von Jomelli mitgebracht, die Didone abbandonata, welche dieser Komponist 1763 zu Stuttgard aufführte. Er setzte sich und ließ seinen Zorn an dem armen Dichter aus.
»Der Text, fing er an, ist eine von den mittelmäßigsten Opern des Metastasio; die Personen darin sind fast alle wahnwitzig. Dido selbst erregt nur wenig Interesse; besonders wenn man an die imVirgil denkt. Es ist unbegreiflich, daß Metastasio das Schöne und Große in ihrem Charakter bey dem Römer nicht benutzt hat. Sie ist mit ihrer Liebe zur Theaterprinzessin herabgewürdigt. Die einzige schöne Scene ist die, worin sie sich mit dem Narren Jarbas, in Beyseyn des Aeneas, um diesen eifersüchtig zu machen, verlobt. Wenn Aeneas sich nicht zu verliebt noch anstellte: so wär' er der beste Charakter; ein Chevalier d'industrie, der sich aus dem Staube macht. Die Selene ist eine gar zu alberne Fratze. Der Anfang des zweyten Akts, wo sie mit dem Araspe schon wie mit einer Kammerjungfer spricht, ist erbärmlich, und wie sie dem Aeneas ihre Liebe erklärt, und auf die letzt der Dido selbst.«
»Araspe und Osmida sind nun vollends poetische Thiere, die unter solchen Umständen in der Natur gar nicht seyn können.«
»Doch schon zu viel davon. Schöne Arien finden sich, wie in allen Opern von Metastasio, und Pracht des Schauspiels.«
Hildegard biß sich einigemal in die Lippen, um nicht zu lachen; und er sah unverwandt auf die Partitur.
[200] Erster Akt.
Scene 5. »Der Marsch des Jarbas ist voll Pracht, und einer der schönsten, die ich kenne.« Er spielte ihn voll Feuer.
»Son Regina ist eine herrliche Bravourarie der Dido. Die Begleitung der zweyten Violine soll das Erzürnte, Gereizte im Herzen dabey anzeigen. Die Melodie hat ächten königlichen Charakter.« Hildegard sang sie sotto voce.
»Quando saprai, chi sono, si fiero non sarai, ist ganz vortreflich declamirt; eine ganz eigne Art von Heroischem im Accent. Edler Zorn und Spott; Muster einer Heldenarie. Das Gleichniß im zweyten Theil ist freylich eine poetische Floskel. Jomelli steigt in dieser Arie weit über den Dichter; und der Charakter des Aeneas gewinnt dadurch erstaunlich. Hier sind ächte Züge von Darstellung.«
»Son qual fiume des Jarbas ist ein prächtiges pittoreskes Instrumentenspiel, und paßt gut für den Barbaren. Jomelli ist in dieser Art großer Meister.«
»Das lange Recitativ mit Begleitung, und das Duett beym Schlusse des ersten Akts gehören unter Jomellis Vortreflichstes; besonders sind im Recitative die stärksten Züge von Genie. Di Giove il cenno, l'ombra del genitor, la patria, il ciel, la promessa, l'onor, la fama, alle sponde d'Italia oggi mi chiama 11, ist ein wahres Meisterstück musikalischer Fortschreitung und Beredtsamkeit.«
»Und ein noch viel größeres: vil rifiuto dell'onde io l'accolgo dal lido 12 –«
[201] »Diese Scene ist wieder gerade der Kern vom Ganzen, auch das Beste in der Poesie, dem Virgil nachgeahmt, das Heiße der ersten Trennung und das Heftige. Göttlicher Verstand herrscht durchaus; die Charaktere sind in der Musik vortreflich gehalten. Der Inhalt ist ungefähr derselbe, wie bey der Armida; doch alles anders. Welch ein Reichthum! Dido ist nur nicht so jugendlich feurig, reizend und buhlerisch; doch hatMetastasio sie von der Römischen Würde sehr italiänisirt, und Jomelli bringt erst die wahre Darstellung hinein.«
»Das Duett, welches im Metastasio selbst sich nicht befindet, fällt treflich sogleich ein; es ist voll Leidenschaft und schöner Melodie, und auch als Kunst betrachtet ein Meisterstück. Non ha raggione, ingrato, un core abbandonato da chi giurogli fè; alles höchst sinnlich declamirt. Zu jener Zeit war Erfindung darin, die hernach gemein geworden ist.«
Zweyter Akt.
Scene 2. »Die Arie des Araspe, wieder nicht imMetastasio befindlich, D'atri nubi è il ciel ravvolto, macht einen großen feyerlichen Anfang, und hat viel Schönes.«
Scene 4. »Come! ancor non partisti? Eine schöne Scene in der Poesie, in gutem Ton geschrieben. Auch treflich in der Musik; und die Arie voll bittender Zärtlichkeit. Der Sturm hat sich etwas gelegt; gute Gradazionen.«
Scene 11. »Già vedi Enea, che fra nemici, die feinste weibliche Scene der Dido hat auch Jomelli gut dargestellt; er läßt nichts aus, wo er die Schönheiten seines Dichters verstärken kann. Das lange Recitativ wird immer begleitet, und schließt sich mit einem ganz vortreflichen Terzett; welches das Ganze sehr theatralisch macht. [202] Diese Scene gehört gewiß unter die besten des Metastasio. Das Terzett aber ist nicht von ihm; und Jomelli, auch Dichter, machte es wahrscheinlich selbst hinzu.«
»Aeneas fängt an, da er es nicht länger aushalten kann: Infedel, ti lascio, addio, godi pur del nuovo amor. Die Gelegenheit zu einem Terzett und hohem Kampf verschiedner Leidenschaften ist erwünscht, und recht lyrisch; so etwas ist ganz eigenthümlicher Stoff für die Musik. Die komische Oper hat sich zu glücklich solche Scenen allein in ihren Finalen angemaaßt. Dido hoft wieder bey dem Schmerz der Eifersucht im Aeneas; und Jarbas wird rasend über den ausgelaßnen Spott. Jomelli's Musik dazu ist ein Meisterstück.«
»Im dritten Akt
scheint Jomelli müde geworden zu seyn; außer dem prächtigen Schluß ist nichts Außerordentliches darin. Doch immer Jomellische Musik; und die begleiteten Recitative sind vortreflich declamirt.«
»Das Duett im ersten Akt, das Terzett im zweyten, und der pittoreske Schluß des dritten erheben das Ganze ungemein, und machen es zu einem so interessanten Schauspiel, als man beym bloßen Lesen der Metastasischen Oper nie denken sollte. Vom Schlusse des zweyten Akts hat Jomelli viel Vortheil gezogen; Aeneas erscheint dadurch etwas besser, ohne daß Dido bey dem Zuschauer verliert. Jarbas macht freylich den Schluß fast zu einem komischen Finale.«
»Eine ganz unerträglich alberne Person bleibt jedoch Selene; Osmida und Araspe höchst unnatürlich und unbedeutend. Jarbas ist gar zu sehr Karrikatur; Aeneas noch am besten gehalten, doch zu sehr Grandison. Er hätte am ersten eines Vertrauten bedurft, um seine ungereimte Abreise wahrscheinlich zu machen. Die Dido hat [203] Metastasio durch Modernisirung, besonders am Ende des zweyten Akts, dramatischer gemacht, als sie im Virgil ist; doch hätte er dabey alles Edle und Schöne des Römischen Dichters beybehalten können. Aeneas mußte weniger verliebt dargestellt werden; auf der Jagd trug sich der Fall zu, wo ein Mann von Gefühl nicht anders handeln konnte. Deßwegen verpflichtete er sich nicht Zeit Lebens, und opferte ihr alle seine reizenden Aussichten auf. Gerade dieß nothwendige Leiden giebt hernach die wahrhaft tragische Person. Aeneas sollte nur ganz andre Hofnung und Zuversicht haben, in Italien das ungeheure Römische Reich anzupflanzen, als den bloßen Traum. Virgil hat doch noch die Erscheinung der Venus.«
»Der Herzog von Wirtemberg muß diese Oper wohl für eine der besten von Jomelli halten, da er sie jüngst bey Anwesenheit des Großfürsten von Rußland hat aufführen lassen. Die zweyten Theile der Arien blieben indeß alle weg. Wahr ist es, daß sie die ältern Italiänischen Opern monotonisch machen.«
Die Deutsche Redlichkeit und der biedre Kunsteifer Lockmanns rührten Hildegarden. Er sagte freylich nichts in Rücksicht der Dido, was sie nicht für sich schon tiefer überlegt hatte. Nachdem sie die Hauptscenen noch einmal durchgegangen waren: blickte sie ihn heiter, und wieder hold und gütig an, rühmte seine litterarischen Kenntnisse, und wünschte von seiner Heimath und Erziehung etwas zu erfahren.
Er erwiederte nach einiger Ueberlegung: »Virtuosen in verschiednen Künsten – ich will meine Wenigkeit damit nicht so hoch hinauf setzen! – sind dieß hauptsächlich dadurch geworden, daß man sie in ihrer Jugend davon abhalten wollte; so natürlich ist dem Menschen Freyheit, und Liebe zu eigner That, als wovon man allein Verdienst [204] hat, und so sehr reizt ihn alles Gegenstreben. So wird die Erziehung, die man für die beste hält, oft die schlechteste, und die schlechte gut; das Kind thut gerade das, was die letztre verbietet, wenn es reine volle Empfindung und Stärke zu denken hat, thut, was wahrhaftig Vergnügen bringt.«
»Musik, mein gnädiges Fräulein, und alles, was damit in Verbindung steht, war von Kindheit an meine Hauptleidenschaft; mich der Rechtsgelehrsamkeit zu befleißigen, und alles dessen, was damit in Verbindung steht, als des Kanzleystyls, der Geringschätzung und Verachtung jeder schönen Kunst und Wissenschaft, weil sie davon abziehe, den gehörigen Geschmack verderbe – das eifrige und dringende Verlangen meines Vaters. Auf Schulen übt' ich mich im Klavierspielen und Singen bey einem meiner Kameraden, der gerade beydes studiren sollte, und vernachlässigte; dazu verwendete ich heimlich jede freye Stunde.«
»Auf Universitäten überließ ich mich aber meinem Hange, und verschlief oft die Pandekten. Glückliche Bekanntschaften mit talentvollen Liebhabern aus Wien, Dresden und Berlin, und mit einigen großen Meistern bestärkten und befestigten ihn gänzlich.«
»Wie ich dem Fürsten bekannt wurde, wissen Sie schon; und hiermit hab' ich die Ehre, mich Ihnen gehorsamst zu empfehlen.«
Er nahm dabey den Hut, machte ihr seinen Reverenz, und wollte davon eilen.
»Lockmann, Lockmann!« rief sie ihm nach; »wohin so geschwind? Ich habe Ihnen noch etwas einzuhändigen.«
Er erschrak, und stand bey diesen Worten, als ob er vom Blitze getroffen wäre. »Etwas einzuhändigen?« stammelte er nach.
»Ja, ja!« versetzte sie lachend, lief fort, und hohlte und brachte: [205] Didon, Tragédie lyrique en trois Actes; Piccini's Meisterstück, das sie eben den Morgen aus Paris von einer jungen Englischen Dame, ihrer besten Freundin in London, geschickt bekommen hatte.
Er mußte nun selbst lächeln, nachdem er die Zeit wie ein armer Sünder dagestanden. »Nehmen Sie die Oper mit; kommen Sie morgen wieder, und sagen Sie mir Ihr Urtheil.« Sie reichte ihm, als er die Oper schon unter dem Arme hatte, mit dem allerhellsten Freundschaftsblick, der in die Seele geht, die schöne Rechte; und er konnte sich nicht enthalten, sie zu fassen, zu küssen, und mit zärtlichem Druck zurück zu stoßen.
»Guter, holder, lieber Junge!« sagte sie vor sich selbst, als er weg war; »wer könnte der Schönheit und dem immer neuen Leben, womit er Aug' und Ohr, Herz und Geist erquickt, widerstehen, und sich von ihm nicht wenigstens zuweilen in die liebkosenden Arme fassen lassen, und die Feuerblüthe seiner Lippen berühren! Nur die gehörigen Schranken! und Gott im Himmel kann es einem Mädchen nicht übel nehmen; damit ist noch nichts versprochen und nichts verloren.«
Er hielt indeß ganz andre Monologen, als nach dem Gewitter, und fing an, die großen Schwierigkeiten mit einem solchen Mädchen, das so viel Gewalt über sich hätte, zu ermessen. »Aber was ist mir die ganze Welt ohne Hildegarden! Glaube, Liebe und Hofnung überwindet alles. Wir sind für einander geschaffen, geboren, und erzogen. Wo wär' ich lieber, als vor der lebendigen Gottheit ihrer schönen Augen; lüsterner, als vor ihrem süßen Munde, der so angenehm und sinnreich spricht, daß Stunden zu Augenblicken werden!« Dieß und vieles Andre der Art war doch das Lied am Ende.
Zu der bestimmten Zeit kam er, nun wieder ganz Gehorsam, so wie [206] sie wollte; und traf sie am Klavier bey den schönen Scenen der Dido von Jomelli. Er ergriff ihre Hand, küßte sie, drückte sie an sein Herz, und wagte nichts weiter. »Nun, lieber Lockmann, wie gefällt Ihnen die Französische Dido?« Mit dieser Frage machte sie ihm Platz, und ließ ihn sich setzen.
Er antwortete: »Das Gedicht ist im Ganzen ohne Vergleich besser, als das von Metastasio, jedoch nach diesem gemacht. Das mehrste Alberne ist weggeblieben, Selene nicht dumm verliebt, Osmida einfältig treulos, Araspe einfältig tugendhaft; doch behielt der Franzose, wahrscheinlich Marmontel, den Jarbas bey, welcher unsinnig genug der Dido noch in ihrer eignen Residenz droht.«
»Die Musik ist äußerst gefällig; wird aber dadurch beynahe charakterlos, und sehr einförmig. Die schönsten Scenen sind die der Dido, für welche sich Piccinische Musik auch am besten schickt.«
»Aeneas und Dido sind beyde in der Poesie bis zur hohen Französischen Vollkommenheit getrieben: Dido ein wenig zu weit; denn sie verzeiht dem Grausamen noch auf dem Scheiterhaufen. Ich weiß nicht, so eine Wittwenliebe will mir auf dem lyrischen Theater nicht recht behagen; Armida ist dagegen doch etwas ganz Anderes. Aeneas scheint mir für einen antiken Helden allzuglatt. Bey dem allen ist es ein sehr gutes Französisches Schauspiel.«
»Der dritte Akt ist in der Musik bey weitem der beste.«
»Die erste Scene mit der Arie Hélas! pour nous il s'expose, ist ein wahres Meisterstück besorgter Liebe; vortreflich der Ton gewählt, und Melodie und Begleitung empfunden. Sie gehört unter das Beste vonPiccini.«
»Das lange Gespräch darauf, wo Aeneas auf seinen Abschied beharrt, ist von: Non, c'est un indigne détour! gleichfalls durchaus [207] vortreflich. Schön sind dabey die Arien; besonders: Ah, prends pitié de ma faiblesse! beynah in Glucks Styl.«
»Das Leidenschaftlichste im Ganzen ist die Stelle der Dido: Va pour ta course vagabonde; der Affekt steigt fast wie bey Jomelli. Vortreflich alles declamirt, wahre Suada auch in der Musik. Der Fluch:Puissent renaitre de ma cendre des vengeurs altérés du sang de tes neveux, vom Des in D, und durch die Sextquint in Es; darauf in E, und so in F moll, und dann in C moll, ist wirklich erhaben.«
»Der Ruck in Oktaven mit der ganzen veränderten Harmonie in der Melodie durch halbe Töne ist von erstaunlicher Wirkung; und so die der umgekehrten kleinen Septime bey Qu'ĭls pōrtĕnt lĕ fēr ĕt lĕs feūx aŭ rĭvāge oŭ tŭ vās dēscēndrĕ! gewaltiger Rhythmus; c'est là le dernier de mes voeux.«
»Ich halte diese Stelle für eine der schönsten der gesammten Musik; und kenne von Piccini nichts, das ihr gleich käme.«
»Marmontel hat weit mehr und bessere Gründe zur Abreise, als Metastasio. Den besten, besonders für die Musik, hat er jedoch nur angedeutet, und nicht dargestellt; nämlich daß die Trojaner fortwollen nach Italien. Die Erscheinung des Vaters soll den Knoten zerhauen.«
»Gewiß gehört diese Oper unter die besten Französischen. Als Werk des Genies betrachtet, steht die von Jomelli doch über ihr; und mag Piccini'n eben bey der erhabnen Stelle zum Muster gedient haben.«
»Piccini gleicht in der Musik nicht selten seinem Landsmann Luca Giordano, Luca fa presto, in der Mahlerey; bey dieser Stelle hat er sich selbst übertroffen.«
[208] »Auch Traetta hat eine Dido geschrieben; aber sie enthält wenig Vortrefliches, außer dem Schlusse, welcher recht groß und pathetisch und recht im klassischen tragischen Styl ist. Jammer und Schade, daß dieser Meister immer ums Brot arbeiten, und so viel mittelmäßiges Zeug mit unterlaufen lassen mußte!«
Hildegard machte sich gleich an die schönen Scenen der Französischen Oper. Sie hatte zu London bey ausgelernten Pariser Damen voll Geschmack schon die eigne Art von Vortrag wohl gefaßt, und vermied nur mit edlerem und gebildeterm Gefühl deren übertriebnes Pathos, das bis zum Geschrey geht, und das Weinerliche des Accents.
Lockmann lernte von ihr; sie schickten sich bald auch hier gut zusammen, und gelangten zum Vortreflichen bey der Natur und Wahrheit des Inhalts.
Alsdann wurden Mutter, Bruder und Feyerabend gerufen, der neue Schatz wieder mitgetheilt; mit Lust studirt und gehört; und beschlossen, das Beste im nächsten Konzert aufzuführen.
Lockmann nahm die Oper mit nach Hause, um die Scenen geschwind ausschreiben zu lassen.
Den nächsten Montag war in der Waldung im Gebirge, noch eine Stunde weit hinter dem Kloster, großes Treibjagen, welches der Herr von Lupfen meisterlich veranstaltet hatte. Der Fürst und die Fürstin fuhren früh an den bestimmten Ort; wohin andre Wagen vom Hof und aus dem Ort sie begleiteten. Auch Hildegarden lockte der schöne Morgen, mit ihrem Bruder und der Frau von Lupfen einen Spazierritt dahin zu machen.
Zu ihnen gesellte sich der Graf von Törring, Oberster im Dienste des Fürsten, ein geschickter Offizier, der die Jagd liebte. Mit ihm [209] hatte Hohenthal im vorigen April seinen ersten Auerhahn geschossen, welches ihm solche Freude machte, daß seine Schwester noch lange nachher das Balzen hören mußte, von ihm vortreflich nachgeahmt bis zum Hauptschlag, und das Schleifen, wo der sonst so schlaue schöne Vogel weder sieht noch hört, und man ihm allein beykommen kann; bis sie aus Ungeduld ihn nachäffte, und er es endlich unterließ.
Graf von Törring, ein Mann schon in die Vierzig, war vor Kurzem nach dem Tode seines Bruders reicher Stammherr geworden, und sein Vater lebte hoch betagt auf seinen Gütern. Von Hildegards außerordentlichen persönlichen Eigenschaften, Talenten und Reizen entzückt und hingerissen, fing nach dem Herrn von Wolfseck nun er an, sich um ihre Hand zu bewerben.
Mit ihm aber zugleich noch ein Dritter, ein junger Herr von Wallersheim, dessen Vater Oberstallmeister des Fürsten war, und mit seiner Familie sich den Sommer über immer im Ort aufhielt. Der letztre war erst in die zwanzig, wohl gewachsen, schön und angenehm im Umgange; bey weitem aber nicht so reich. Er hatte viel Geschwister, und sein Vater war noch in den besten Jahren.
Beyde gingen viel feiner zu Werke, als Herr von Wolfseck; sie bestrebten sich fürs erste, durch allerley Zeitvertreib und Gefälligkeiten Hildegards Neigung zu erhalten, und suchten sich dabey ihren Bruder zum Freunde zu machen. Wallersheim hatte viel Welt; er war einige Zeit zu Paris, auch im südlichen Frankreich gewesen, und durch die Schweiz zurückgekehrt. Wolfseck studirte zu Wirzburg, hielt sich nachher in Wezlar auf, kam weiter nirgends hin, und ging dann wieder nach Hause.
Schon waren Spazierritte und Spazierfahrten eingeleitet worden; [210] dabey wurden an schönen Plätzen prächtige Frühstücke gegeben, Musik dazu bestellt,Hildegard zu einem Tänzchen mit andern jungen Damen aus Lust ergriffen, Spaziergänge dabey gesellschaftlich ins Kühle gemacht, darauf verzögert, eingehalten, süße Blicke, süße Worte, sanfter Druck der Hand, gewagte Umarmung angebracht. Glatt und schlau wich sie aber allem aus, was sie nur einigermaßen hätte fesseln können. Nur beym l'Hombre konnte man sie zuweilen halten; man brauchte aber nicht mit Fleiß an sie zu verlieren: denn sie hatte in Glück, schneller Ueberlegung und Spielerkenntniß wenig ihres Gleichen. Herr von Wolfseck wollte mitmachen, und sich dabey auch zeigen; er mußte aber bald zum Spott der Andern einige hübsche Summen auszahlen, von welchen Hildegard immer das mehrste erhielt, ohne daß er einen Schritt weiter kam. Bey dem unschuldigen Zeitvertreib mit ihrem musikalischen Gesellschafter widerstand sie um so leichter allen Verführungen.
Wallersheim wußte, daß sie kamen, und erwartete sie unterwegs. Das Wetter war heiter, die Gegenden schön und mahlerisch, das Gespräch angenehm und lebhaft; sie langten daher erst an, als so eben die Jagd anfing, und schon mehrere Damen und Herren aus der Nachbarschaft, die zum Theil dazu geladen waren, sich eingefunden hatten.
Lockmann war mit dem Herrn von Lupfen bey Anbruch des Tages ausgezogen.
Aus dem ersten Rudel schoß der Fürst einen Hirsch von sechzehn Enden sogleich gerad' aufs Blat. Dieß freute ihn höchlich und Alle, besonders die Jäger; und so begann die Jagd glücklich. Es ward dabey erzählt, wie klug eben dieser Hirsch sich versteckt gehabt, und den Treibern habe ausweichen wollen.
[211] Graf Törring that sich dann hervor, und traf einige der stolzesten mit Kernschüssen. Eben so Hohenthal und Lockmann. Nur liebten sie diese Jagd nicht; ihnen war es ohne Vergleich lieber, beym Morgen- oder Abendroth im dunkelsten Wald dem Wild aufzulauern, mit den vortreflich abgerichteten klugen Leit- und Schweißhunden des Herrn von Lupfen, welcher aus Pflicht und Höflichkeit nur einige Meisterschüsse that.
Auch Frau von Lupfen feuerte mehrmals ab, und traf einigemal glücklich. Hildegard hatte zwar mit den Gewehren ihres Vaters und Bruders zuweilen in England nach dem Ziel geschossen, aber nie nach etwas Lebendigem. Der Fürst und Graf von Törring suchten sie zu bereden, es jetzt zu thun. Der Fürst selbst zwang ihr eine leichte Pürschbüchse in die Hände. Beym dritten Rudel legte sie endlich an, zielte, und schoß einem Spießer, der in der Angst hoch über die andern wegsetzte, und eben schwebend in der Luft wie fest hing, über den Vorderläuften ins Herz, daß er augenblicklich stürzte.
Es erhob sich ein Jubel; die Jagdmusik ertönte, obgleich dazu noch kein Befehl gegeben war. Hildegard stand lächelnd da; die wahre Diana auf Spartas Höhen bey ihrem ersten Probeschuß. Der Oberjägermeister, ein galanter Mann, kniete vor ihr nieder, und küßte ihr huldigend voll Ehrfurcht die Hand. Klug und fein ließ sie sich aber zu keinem andern Schusse bereden, weil sie ihren Ruhm mit nach Hause bringen wollte.
Nur an die hundert Hirsche und Thiere wurden den Vormittag erlegt; der Fürst ließ des Landmanns wegen das Wild nie zahlreich werden.
Nach vollendeter Jagd wurde freye Tafel unter prächtigen Eichengewölben [212] gehalten, und bey herrlicher Musik wacker gezecht. Man sprach viel über die Natur des Edelwilds. Herr von Lupfen erzählte Seltenheiten, die er in seinen Revieren beobachtet hatte; Wallersheim manches von den Jagden des Königs in Frankreich, auch beschrieb er einige von dessen Parforcejagden, welche der Fürst verabscheute.
Nach der Tafel schlug man die erfreulichsten Spaziergänge ein. Die Aussichten in die grünen Thäler, von klaren Bächen erfrischt, und in die weiten Fernen waren den wonnetrunknen Augen romantisch. Man bewunderte die höchsten und schönsten Eichen und Buchen; und auf dem Gipfel des Gebirgs Edeltannen und Fichten.
Erst gegen Abend zog man in verschiednen glücklichen Gruppen wieder nach Hause.
Lockmann gesellte sich zum Trupp um Hildegarden. Ihm fing das Herz an zu wallen, als man nah an dem Kloster vorbey kam; ein höheres Roth glühte auf seinen Wangen. Nicht Liebe war es, was er fühlte, aber tiefes Mitleiden für die blühende Elsasserin. Ein Sonnenstrahl von Hildegarden durchspähete dabey sein Wesen. Wallersheim und Törring kamen sich einander oft in den Weg.
Hohenthal hatte zum Scherz sich selbst gezeichnet, wie er den Auerhahn schoß; und brachte den andern Morgen den Pendant zum Frühstück: Hildegarden mit dem Spießer, wie er von der Höhe in die Geweihe der andern Hirsche stürzte; wofür sie ihm einen recht zärtlichen Kuß gab.
Lockmann hielt diesen Tag doppelte Probe der Scenen aus der Dido von Piccini, wozu sich bey der zweyten, Nachmittags, Hildegard und ihr Bruder einfanden.
[213] Den folgenden Tag gaben sie im Konzert das allerneuste Pariser Schauspiel zu allgemeiner Freude und Bewunderung.
Die Mutter des Herrn von Wolfseck und ihre zwey Töchter waren dabey zugegen, die er abgehohlt hatte, und die denselben Tag angekommen waren, um den Sommer über da zu bleiben. Die jüngste, ungefähr achtzehn Jahr alt, hatte schlanken Wuchs und eine angenehme Gesichtsbildung.
Es waren noch mehrere Herren, Damen und Fräulein im Konzert, und einige zum erstenmal, die von ihren Rittersitzen in der Gegend sich aufgemacht hatten, um das berühmte Fräulein von Hohenthal, und die neue Pariser Musik zu hören, über welche man bey der Jagd gesprochen hatte. Bey den Familien Blankenheim und Seeburg, die mehr in der Nähe wohnten, war deßwegen die folgenden Tage Schmaus und Ball.
Nach der schönen Musik von Piccini führteLockmann zum Scherz einige der besten Sachen aus der Elisa von dem alten Fux, Kapellmeister Kaiser Karls des Sechsten, auf: eben die Geschichte der Dido, nur bis zur Grotte auf der Jagd, wo Venus, Amor, Hymen, und Iris sie mit dem Trojanischen Helden zusammenpaaren. Elisa hält dann eine Rede an die Kaiserin zu ihrem Geburtstage, womit sich die Oper endigt.
Alles lachte; und der Fürst selbst gestand, man müsse Pedant seyn, wenn man nicht erkennen wolle, daß die theatralische Musik hier fast noch in ihrer Kindheit sey. Das Jagdchor allein gefiel; die Hörner darin thaten gute Wirkung; es hatte Aehnlichkeit selbst mit dem Piccinischen.
[214] Ohne daß Lockmann wußte, woher, war an ihn schon eine Flaschenkiste von dem allerbesten Champagner und Burgunder aus einem Frachtwagen abgeliefert worden. Man hatte ihm dafür weiter nichts als den Schein wegen des Empfangs abgefordert, und nur den nächsten Uebersender gemeldet, welcher auf Befragen wieder einen andern berichtete. Den folgenden Morgen erhielt er wieder eine Kiste. Hildegard wollte nicht eingestehen, daß sie von ihr kamen, und hatte ihn mit allerley Geschichten darüber zum Besten.
Als die Feste in der Nachbarschaft vorüber waren, traf er Hildegarden Nachmittags wieder auf dem Musiksaal allein, und bey der besten Laune. Sie fing an, allerley Spielereyen mit ihrer Stimme zu machen, Läufe hinauf und herunter, die halsbrechendsten Sprünge, Triller verschiedner Art; und dann zwang sie ihn, in Terzen und Sexten, langsam und geschwind, leis' und stark, die Kurzweil mit zu treiben, mit ihr zu wetteifern, und allein bald vor bald nach zu singen; wo er zuerst recht erkannte, welch ein unendlich reicher Schatz musikalischen Wesens sie wäre. Er warf sich auf alle Weise überwunden ihr zu Füßen, und sagte: »Ihr Bajazzo bin ich, – und weiter nichts.«
»Nein;« sagte sie lachend, und hob ihn auf: »mein Herr und Meister, sobald Sie reden, und am Klaviere sitzen.« Dabey sanken sie einander in die Arme, und mit einem schnellen, aber höher feurigen Kuß, als je, riß sie sich von ihm.
Nun setzte er sich an seinen Posten; und sie sprachen überhaupt von den Manieren. Er sagte: »Auf jedem Instrumente kann man besondre Zierden anbringen; die wirksamsten aber sind diejenigen, womit die Menschenstimme den Gesang schmückt. Sie dienen, um [215] den Hauptton sicher zu treffen, die Melodie zu verschmelzen, die Schönheit und Fertigkeit in ihrem Glanze zu zeigen, und befördern oft gewaltig die Darstellung.«
»Die Manieren veraltern, wie die Moden; man will immer neue. Jeder große Sänger, jede große Sängerin sucht sich dadurch von andern zu unterscheiden; und eben so die Virtuosen auf Instrumenten. Sie sollen augenblickliche Empfindung ausdrücken, gleichsam Impromptüs seyn; und geben Sängern und Virtuosen etwas reizend Individuelles. Bloß erlernt und erkünstelt taugen sie nie viel; sie kommen selten auf den rechten Fleck, und passen nicht zum Charakter. Die schlechtesten unter allen sind, wenn die Menschenstimme Manieren und Kadenzen und Läufe der Instrumente nachmacht. Jedoch kann eine gewaltige schöne Stimme viel wagen, wie ein schönes junges Frauenzimmer bey Moden. Je alberner diese zuweilen sind, desto mehr erhöhen sie durch den Kontrast die nackte Schönheit. Bloß erlernte fremde Manier ohne Natur ist jedoch das Widerlichste unter allem. Ein reiner schöner Ton in allen Graden von Stärke und Schwäche erquickt Ohr und Herz mehr, als wenn er zu zwölf und zwanzig andern verziert wird.«
»Einen solchen hat vorzüglich die Menschenstimme; er fehlt allen Klavierinstrumenten. Die Geigen haben ihn nach ihr am besten; die blasenden können ihn nicht so fest halten. Wo die Empfindung, das Gefühl tragisch und tief, der Charakter des Gesangs einfach ist, passen sie selten. Bey Bravourscenen ist ihre eigentliche Stelle.«
»Was die Kadenzen betrift: so lassen die Franzosen sie nicht zu, und binden sich zu sklavisch an ihre Komponisten. Für das zu Häufige bin ich selbst nicht; die Italiäner übertreiben es. Bloß bey den höchsten Leidenschaften, oder als Spielwerk der Phantasie, können sie [216] gut angebracht werden. Sie sind nur für große Sänger und Virtuosen. – Genug für jetzt darüber.«
»Ich habe Ihnen hier noch drey Opern von Jomelli herbringen lassen, von denen wir das Beste durchgehen wollen, und Sie selbst durchgehen mögen. Dieser Meister verträgt das Ausschweifende, Willkürliche der Sänger und Sängerinnen am allerwenigsten, weil er am allerwenigsten die gewöhnlichen Phrasen schreibt. Seine Werke sind die beste Uebung für die Folge. Wie einer, der ein starker Fechter werden will, vorher die allerschwersten Rappiere braucht, wogegen hernach eine Schilfklinge ihm eine Feder in der Hand ist: so sind Jomelli's klassische Scenen das ersprießlichste Studium für Sänger. Wir nehmen zuerst den
Vologeso.«
»Das Gedicht ist von Apostolo Zeno; der Stoff einer der glücklichsten.«
»Vologeso, König der Parther, und Berenize, Königin von Armenien, griffen die Römer mit Krieg an; wurden unter Anführung des Lucius Verus geschlagen, und Berenize, Braut des Vologeso, kam in des Siegers Gefangenschaft, welcher sich in ihren jungen Reiz verliebte, obgleich schon feyerlich verlobt mit der Lucilla, Tochter des Marcus Aurelius.«
»Vologeso ward für erschlagen ausgegeben, und machte sich verstellt als Bedienter zu Ephes an den Hof des Lucius Verus.«
»Das Wesentliche des Ganzen ist: die allerhärtesten Proben der Treue der Berenize; und die allerheftigste Leidenschaft der Liebe des Vologeso, die keine Gefahr scheut. Das Gedicht gewinnt viel durch die Geschichte.«
»Die Musik von Jomelli ist durchaus meisterhaft gearbeitet; [217] aber eigentliches Genie, und Darstellung voll Gefühl herrscht vorzüglich nur in zwey Scenen, die auch den Kern vom Ganzen machen.«
»Berenize ist die Hauptperson. Im zweyten Akt trägt ihr Lucius Verus die Wahl vor: sich ihm zu ergeben; oder den Tod ihres geliebten Vologeso, der schon erkannt und eingekerkert worden war. Wenn sie sich ihm ergiebt, so soll er Reich und Leben wieder haben.«
»Das Leidenschaftliche fängt an zu schwellen im Recitativ darauf, bey den Worten: Povero Vologeso! Ah, ch'io ti perdo! e ti perdo per sempre! u.s.f. Il mio cor, ah Tiranno, non l'otterai 13.«
»Die Arie darauf gehört unter das Vortreflichste von Jomelli. Tu chiedi il mio core, il core ti darò. (Da se) Ma infida! che parlo? Crudel, non sperarlo no, no! Ma ferma, ma intendi, ma l'ira sospendi; si, il cor ti darò.«
»Che abisso d'affanno! per tutto è periglio, non ò più consiglio, ragion più non ò 14.«
»Aus dem C dur, mit Hoboen, die treflich gebraucht werden, und mit Hörnern.«
»Der Zweifel und die Unentschlüssigkeit voll Pein und Leiden in der reinen zärtlich und heftig liebenden Seele ist vortreflich ausgedrückt; [218] der Styl ächt klassisch, und in hoher Vollkommenheit. Es ist alles so weiblich, und doch kein schwacher Zug darin. Eine unaussprechliche Süßigkeit und Schönheit voll Geist und Empfindung.«
»Die zweyte klassische Scene ist im dritten Akt gegen das Ende, wo Berenize ihren Geliebten für ermordet hält.«
»Der Ausdruck ist höchst pathetisch und feyerlich; die Hörner sind meisterhaft dazu gewählt und gebraucht. Das Recitativ fängt an: Qual lugubre apparato di spavento e di lutto! qual di tenebre e d'ombre regia dolente e fiera! Hörner, Hoboen und Fagotten. Ahime! Sogno, o son desta? Odo, o parmi di udir la voce, il pianto del moribondo sposo, die Begleitung vortreflich; e quella oscura caligine, che là s'inalza; sie erblickt endlich den Schatten selbst. Das Tempo ist sehr sinnlich, bis endlich zum Presto. Ah barbaro tiranno, il mio sposo uccidesti! 15«
»Darauf kommt die göttliche Arie aus dem Es dur mit obligaten Hörnern: Ombra, che pallida fai qui soggiorno, Larva che squallida mi giri intorno, perché mi chiami? che vuoi da me 16? Mit Hörnern, Hoboen und Fagotten.«
»Es ist eine entzückende Schönheit von Musik darin; die blasenden [219] Instrumente und die Gewalt der Geige werden vortreflich gebraucht.«
»Alsdann wird das Becken mit verdeckter Krone und Scepter gebracht, worin sie den Kopf ihres Geliebten glaubt. Vortrefliche Stelle mit der Begleitung:Ah! che in pensarlo io manco, sudo, agghiaccio 17. Sieben verkleinerte Septimen, die Melodie durch halbe Töne, hinter einander.«
»Als sie im Begriff ist, die Decke wegzunehmen:Su quel caro volto esangue vuo finir l'egro respiro 18, mit bloßen Flöten und dem Violoncell ist auch sehr schön.«
»Dann findet sie erstaunt die Krone. Alles endigt sich glücklich. Lucilla und Berenize erhalten ihre Geliebten; und alle reisen ab.«
Al mare invitano placide l'onde,
dal cielo spirano l'aure seconde,
e tutto giubila nel nostro cor!
»Das Ganze schließt sich mit einer prächtigen Chaconne, die gleich in den Chor einfällt.«
»Es giebt wenig Opern, wo der Stoff so viel höchst lyrische Situazionen darbietet; sie sind hier weder in der Poesie, noch in der Musik erschöpft. Jomelli hat nur die zwey gewaltigsten herausgehohlt, und als großer Meister dargestellt.«
»Der schwarzausgeschlagne Trauersaal, wohin Krone und Scepter verdeckt gebracht werden; und wo Lucius Verus auf dem Throne sitzt: – entweder Tod, oder Reich und Scepter mit ihm – giebt [220] eine herrliche Verzierung, und macht überhaupt das Ganze äußerst romantisch und reizend für die Einbildungskraft.«
»Auch das Anerbieten der unerwartet angekommenen Lucilla ist erhaben: Lucius Verus soll wählen, sie oder Berenizen; und glücklich seyn. Wenigstens die Pille schön vergoldet; kurz, das Ganze eine der erfreulichsten Opergeschichten.«
»Der Anfang gleich ist überraschend, wie Vologeso dem Lucius Verus und der Berenize als Bedienter den Wein aufträgt, sie ihn erkennt; und er den vergifteten, dem Lucius Verus bestimmten Wein, wovon sie diesem aber zutrinken soll, von ihren Lippen wegstößt, und sich alsdann selbst zu erkennen giebt.«
»Obgleich das Andre den angeführten Scenen nicht gleich kommt, so ist doch viel Schönes darunter; als im ersten Akt die Arie des Lucio Vero: Luci belle più ferene, più tranquille a me splendete, voll schmeichlerischer Melodie für einen Tenor. Die erste Arie der Berenize mit begleitetem Recitativ: Se vive il mio bene, le pene non sento, voll weiblicher Freude. Das Quartett am Ende sehr schön; und hiernach gar keine Frage, daß die komische Oper ihre Finalen von der ernsthaften genommen, oder ihr nachgeäfft hat.«
»Im zweyten Akt ist die Arie des Lucio Vero: Sei tra ceppi, e insulti sehr dramatisch; die Arie des Vologeso: Cara, deh serba mi costante il core, voll Zärtlichkeit in Melodie und Begleitung.«
»Sie haben mir damit wieder große Freude gemacht, beschloß Hildegard; ich werde die zwey Scenen recht einstudiren, und denke, Berenize soll sich auch nach der Pariser Dido noch mit Vergnügen hören lassen.«
So schickte sie ihn fort; ein keuscher Kuß war sein süßer Lohn.
Er sah zwar nicht, wie es ausgehen, und was es werden sollte; [221] doch schätzt' er sich höchst glücklich, daß er es so weit gebracht hatte. Bey ihrem ersten Kusse war ein Flügelschlag leise wehend von Begierde, deren Regung ihr Verstand nicht einzuhalten vermochte. Mit frohem Blick in die Zukunft darüber stand er, wie Columb bey der ersten sichern Spur seiner neuen Welt. Ihm blieb bis jetzt der Vortheil vor jedem; er zog mit den Sirenen von Neapel auf, indeß die jungen Herren am Hofe sich begnügen mußten, mit Etiquette um sie herum zu flattern, und einen züchtigen, ehrbaren Morgenbesuch bey der Mama ab zulegen. Noch sah er keine Gefahr; aber sie stellte sich nur zu bald ein.
In dieser Zeit quoll zu seiner Oper die schönste Musik, heroisch und lieblich, aus seinem Wesen. Schon wünscht' er Hildegarden als jungen Achill mit seinen Melodien entzücken zu hören, und den Kampf zwischen Ruhm und Liebe in ihrem hohen Herzen. Aber er wollte hierin mit nichts voreilig seyn, und alles recht zeitig werden lassen.
Hildegard und Musik beschäftigten ihn auch so, daß er für Niemand und für nichts anders Muße hatte.
Den folgenden Abend war er schon wieder bey ihr. Er hätte immer bey ihr seyn mögen. Er traf sie bey ihrem Bruder, und hörte vor der Thür ein Gelächter. Als er in das Zimmer trat, sah er sie über Jomelli's Fetonte sich lustig machen. »Welch ein Einfall,« sagte Hohenthal, »den Sturz Phaetons, Himmel und Erde und die Elemente in Brand, auf dem Theater vorstellen zu wollen!«
Lockmann versetzte gleich darauf: »Es ist gewiß das albernste Bretterspiel, durchaus ohne Verstand und Empfindung. Vielleicht hat der Herzog selbst dem unsinnigen Dichter aus ältern Operntiteln 19 [222] das Thema angegeben, und der große Tonkünstler mußte sein Genie dabey mißbrauchen. Es ist aber auch in der Musik meistens nur sein Styl sicht bar. Wo der Text einigermaaßen gut wird, ist er jedoch vortreflich; welches nur bey wenigen Fällen Statt findet. Fast alles ist bloß für Phantasie und Ohr gearbeitet.«
»Die zwey Könige Epaffo von Aegypten, und Orcano von Aethiopien,« fuhr Hohenthal fort, »sind die albernsten Fratzen, die ich auf dem Theater kenne; und diese machen die ganze Verwickelung aus. Sie zwingen den Phaeton zu beweisen, daß er ein Sohn des Phöbus sey.«
»Der Ausgang ist wirklich das possierlichste Zeug. Himmel und Erde brennt; Jupiter zerschmettert den Wagen Phaetons mit einem Donnerkeil; Libia, dessen Geliebte, stirbt in Ohnmacht; und Climene, die Mutter, schwatzt noch lange mit den hundstollen Königen, und stürzt sich darauf ins Meer. Kein Schauspieler erstickt oder verbrennt, welches ordentlich zum Lachen seyn muß, bey dem ungeheuern Aufruhr aller Elemente; und das Stück endigt sich mit Dunst und Rauch und dem Davonlaufen Aller.«
»Sehr wahr,« sagte Lockmann lachend; »aber der Schluß in der Musik ist doch pittoresk und prächtig.«
»Der Herzog hat mit seinen großen Künstlern das Unmögliche möglich machen, und ein glänzendes Feenspiel zum Erstaunen der guten Schwaben für Augen und Ohren geben wollen.«
»Der Anfang gleich ist eine Zauberey nach der andern; die Symphonie schön und neu. Das Andante macht die Anrufung der Climene an die Thetis mit einem Chor tanzender Priester. Im Presto stürzt alles zusammen, und Thetis erscheint in aller Pracht auf einem Thron. Die Arien sind für äußerst geübte hohe Sopranstimmen. Der Chor der Tritonen ist ein Meisterstück für ihren [223] Charakter. Das Duett der Thetis und Climene hat schöne Stellen; dann kommt freylich auch in der Musik Leeres und Langweiliges. Der Abzug des Phaeton zur Sonnenburg ist das Beste; und sein Duett mit der Fortuna, deren vom Vater erbetenen Beystand er aus Stolz nicht annehmen will, das Wesentliche vom Ganzen.«
»Es ist nützlich, auch solche Ausschweifungen kennen zu lernen, und sich davor zu hüten; selten ist ein so herrlicher Verstand wie der Ihrige dabey gegenwärtig.«
»Die andre Oper Cajo Fabrizio ist viel besser. Auch das Gedicht hat schöne leidenschaftliche Scenen und Arien für Musik; doch ist die ganze Verwickelung platt und unwahrscheinlich. Nämlich Decius, der Geliebte und Bräutigam der Giunia, Tochter des Fabrizius, soll, eben nach einem Sieg und Triumph, Rom an den Feind verrathen. Die Geschichte ist die mit dem Pyrrhus, den einer von seinen Leuten vergiften wollte, welchen Fabrizius ächt groß Römisch auslieferte; wovon aber hier fast gar kein Gebrauch gemacht wird, außer daß gegen Ende deßwegen die Gefangnen frey gegeben werden.«
»Ein Tarentiner, Sergalio, hat sich in die Giunia verliebt; er will den Decius als Verräther hinrichten lassen, und endlich den Pyrrhus selbst vergiften.«
»Die interessante Person ist Giunia, Gefangne des Pyrrhus, zärtlich verliebt in den Decius. Sie hat zwey Arien, die unter die reizenden von Jomelli gehören; und die letzte im dritten Akt, wo sie für ihn bey ihrem Vater bittet, ist eins seiner größten Meisterstücke.«
»Er übernahm erst nur die Komposizion der Arien für die große Sängerin Dorothea Wendeling, welche die Rolle der Giunia machte; und schrieb hernach alles, die mittelmäßigen Arien im ersten Akt ausgenommen, welche Giuseppe Colla, der Mann der [224] Bastardina, setzte. Die Oper gehört unter seine guten Werke; er wollte bey den Mannheimer Künstlern Ehre einlegen.«
»Der Marsch zu Anfange ist prächtig.«
Sie gingen dabey auf den Musiksaal, spielten ihn, und probirten sogleich das Folgende.
Akt II. Sc. 4.
»Die Arie der Giunia: Tutti gl'affetti miei spiegagli tu per me. Digli – ma che? Non so. Che fida io parto. Oh dei!« u.s.w.
»Sie hat durchaus den Charakter einer schönen keuschen jungfräulichen Seele,« fuhr Lockmann ferner fort; »Melodie und Begleitung ist voll Heiterkeit und Reiz. Sie gehört unter die schönsten weiblichen Sachen von Jomelli.«
»Das Duett zwischen der Giunia und dem Decio ist treflich nach dem Text gearbeitet. Lasciami in pace, o perfido; leidenschaftliche Musik voll Wirkung.«
»Das Terzett am Ende ist ein Meisterstück; Il pianto ti muova, ti plachi il dolor; es kann unter die klassischen gezählt werden, so wohl was Ausdruck, als was Kunst betrift.«
»Im dritten Akt
ist die Arie des Decio: Ceppi, fasci, minaccie di morte, no, non hanno terrore per me, ein Meisterstück von Heldenmuth und Zärtlichkeit, welches beydes einen reizenden Kontrast macht. Ihm ist nur für seine Geliebte bange.«
»Das Vortreflichste aber der ganzen Oper ist die Arie der Giunia:
Parto; ma attendimi,
Farò ritorno:
Un ombra squallida
Avrai d'intorno« u.s.w.
[225] »Die zweyte Violine macht durchaus eine äußerst passende originelle Begleitung; und die Flöte wetteifert im schönsten Ausdruck mit der Singstimme. Es ist ein wahrer Kapwein von musikalischem Genuß, und trägt recht den Stempel des Genies.«
Beyder Gefühl bekräftigte Lockmanns Urtheil. Hildegard nahm die letzte Arie, die ganz für ihre Stimme, zum Triumph über alle Instrumente, gesetzt war, unter ihre liebsten auf.
Einen der nächsten Tage war Lockmann sehr früh ausgegangen, um der frischen Morgenluft zu genießen, und sich eine starke Bewegung zu machen. Auf der Rückkehr traf er den alten guten Reinhold unter einer hohen freystehenden Eiche, deren weit verbreitete zweigevolle Aeste kühl umschatteten, ins weiche Gras gelagert; wo nicht weit davon ein klarer Bach, mit Pappeln und Erlen eingefaßt, in ein kleines anmuthiges Thal rann.
Lockmann gesellte sich gleich zu ihm, und streckte sich auch hin, zwischen Kräuter, die eben in voller Blüthe standen, mit dem rechten Arm auf die bemooste Wurzel des königlichen Baums gestützt. Sie sprachen freundschaftlich mit einander von diesem und jenem, und geriethen bald auf ein Hauptthema, den Ausdruck in der Musik, und endlich in einen muthwilligen Zwist darüber, wo jeder sein Recht durchsetzen wollte; als Hildegard und ihr Bruder mit dem Herrn von Wallersheim und der Frauvon Lupfen herbey geritten kamen, und sie angenehm überraschten und störten.
Hildegard, die voraus war, hatte die letzten lebhaften Worte ihres Streits noch vernommen; da aber die Andern herbeyeilten, so ward sie zu bald erblickt. Man hielt eine Weile bey ihnen an, ergötzte sich an dem anmuthigen Platze, und bevor man wieder fortritt, lud Hildegard, mit ihnen besonders, sie auf den Mittag beyde zu Tisch ein.
[226] O, wie die Lust in Lockmanns Herzen wallte, als er der stolzen hohen Schönheit nachsah, und zurückempfand, wie er sie, Mund an Mund und Brust an Brust, in seinen Armen hatte!
Sie kamen, ließen es sich nach der Bewegung wohl schmecken, und man unterhielt sich erfreulich.
Gegen Ende der Mahlzeit, als der edelste Hochheimer beyder Lebensgeister befeuerte, wiederhohlte sie, nach einer kleinen Stille, Reinholds letzte Worte.
»O, das ist boshaft, rief Lockmann; Sie haben uns diesen Morgen belauscht.«
»Ich wünschte,« erwiederte sie lächelnd, »daß es zu meinem größten Vergnügen und zu meinem Unterricht länger hätte geschehen können.«
»Ich möchte meinem vortreflichen jungen Freunde, fing Reinhold an, gern leichte Arbeit machen; aber er dünkt sich mit seiner Sirenenkunst Herkules am Scheidewege, und wählt das Schwerste. Sie, himmlische Muse selbst, sollen Richterin seyn, wer Recht hat.«
»Das muß ich mir zu Ihrem Vortheil verbitten,« versetzte Hildegard; »ich würde vielleicht für meinen Lehrmeister partheyisch seyn.«
Lockmann sagte darüber: »Am Ende dürften wir sehr wohl einig werden, und die zufälligen Dissonanzen sich in eine reine Harmonie auflösen.«
Hildegard machte den Antrag: »Eine erquickende Ostluft spielt über den Garten durch die Fenster, und wir können höchst angenehm noch einige Zeit bey Tische bleiben. Herr Reinhold, treflicher Meister aus Italien, theilen Sie also zuerst uns Ihre interessante Meinung mit.«
Reinhold ließ sich nicht lange bitten, und sagte: »Ob ich gleich [227] befürchten muß, daß mir von neuem übel mitgespielt werde; so kann ich doch dem edlen Begehren von so schönen Lippen nicht widerstehen.«
»Man lasse zwey glücklich organisirte Freundinnen, die gute Kehlen und Lungen haben, aber weder von Musik noch von Declamazion etwas wissen, jede nach langer Abwesenheit, bey stiller Luft, an dem entgegen gesetzten Ufer eines gehörig breiten angeschwollnen Flusses, worüber sie nicht können, einander einsam zu Gesichte kommen, und sich erstaunlich wichtige Neuigkeiten erzählen; höre nun, in einem Busche verborgen, bey welchen Sylben und Wörtern, bey welchen Perioden der Ton stark wird, sich erhöht und vertieft: und man wird großen Aufschluß über die Grundsätze der Melodie in der Musik, und des Accents in der Declamation finden; wenn sie nicht zu bald vor Begierde ins Wasser fallen.«
»Das Wort, worin das Thema des Gesprächs liegt, wird hoch und stark gesprochen werden; die Nebensachen, die sich fast von selbst verstehen, minder hoch und stark, und die Leidenschaft sich in mannigfaltigen Beugungen der Stimme zeigen. In kurzen Sätzen kann man schon des Nachts bey Schildwachen vernehmen, die in Ernst rufen: Wer da? abgelöst! wie stark der Accent auf Wer, und der Sylbe ab liegt.«
»Der singbare Ton hat seinen Ursprung daher, daß man sich weit und breit verständlich machen könne; die Melodie, daß jedes Wort leicht faßlich sey; wiederhohlte Melodie bey Strophen, daß die Worte immer faßlicher werden. Die Wiederholung derselben Worte bey Arien in Opern und Recitativen mit Begleitung hat eben die Ursache zum Grunde. Telemann in Hamburg hat also nichts Abgeschmacktes mit den Worten gesagt: man könne einen Thorzettel singen; wenn man ihn für einen in der Ferne ablesen soll.«
[228] »Wie die Quinte und Terz auf einer langen Saite von selbst entstehen, wenn die Bewegung derselben sich schwächt: so hat es gleiche Bewandtniß bey der menschlichen Stimme. Nur heftige Leidenschaft giebt Dissonanzen; bey gefälligen Gegenständen sucht die Stimme, oder trift sie von selbst, für das Ohr das Angenehme. Nur geht auf der langen Saite der schwächere Ton in die Höhe, und bey der Menschenstimme in die Tiefe.«
»Durch die Instrumente haben die schon sprechenden Menschen den Ton von der Sprache abzusondern gelernt, und eine eigne Kunst aus bloßen Tönen gebildet. Wo einmal schon Sprache ist, lassen sich die Töne der Stimme allein für sich selten hören. Es kommt hauptsächlich darauf an, was gesagt wird, nicht wie der Ton ist. Ich gebe dafür tausend Thaler; gilt dasselbe in allen Tönen. Ja, ich will ihn heurathen; gilt eben so in allen Arten von Tönen. Wenn etwas nur in klarem vernehmlichen Ton gesagt wird, so ist es genug. Dieser und jener sagt es mit einer besondern Grazie? Schön! aber es ist nicht wesentlich.«
»Daraus kann man erklären, wie verschieden Melodie und auch Harmonie zu denselben Worten seyn können. Derselbe Meister ist nicht im Stande zu demselben Text dieselbe Musik wieder zu machen, wenn er die erste nach acht oder vierzehn Tagen halb oder ganz vergessen hat. Selbst Pergolesi's Melodien lassen sich nicht als wahr demonstriren. Schon bloß neue angenehme Musik geht Ohr und Menschen über angebliche Wahrheit; so wenig Gewisses herrscht da.«
»Die Musik macht den Text nur gefälliger, und dadurch tiefer eindringend. Wir bilden uns ein, die Musik thue das Meiste; es sind die Worte und Sachen. Wer fühlt etwas Bestimmtes bey Instrumentalmusik [229] allein, wenn man nicht vorher schon die Bedeutung weiß; als beym Ruf der Trompete in Lagern und Schlachten, bey Tanzstücken?«
»Musik wirkt hauptsächlich durch Rührung und Erschütterung des Nervensystems, damit es die Gegenstände und Leidenschaften, die durch Worte und Action gegeben werden, leichter auffasse; und bestimmt zu den Bewegungen das allerkürzeste Zeitmaaß, besser als Sekundenuhren, Flügelmänner und Vortänzer.«
»Daraus kann man sehen, wie weit die Musik von der Ursache ihrer Entstehung abgewichen ist. Jetzt muß man die Worte gedruckt herumgeben, damit man wisse, was Sänger und Sängerinnen hervorgurgeln.«
»Und die bloße Instrumentalmusik in Konzerten ist nun weiter gar nichts als Zeitvertreib und Spielerey: eine Seiltänzerey von Tönen. Man sagt nicht, was sie bedeuten soll; und wenn man es sagt, so kann selten ein Andrer, als der Komponist, finden, worin es stecke. Auch hört man häufig die Klage, daß man bey einem wohlgespielten Konzert ungefähr dieselbe Empfindung, wie bey allen andern Konzerten habe; und daß man aus Furcht vor langer Weile keins mehr hören mag; zumal wenn Fürsten und Liebhaber viel Geld dafür ausgeben sollen.«
Man lächelte über die sonderbare Meinung, ward aber doch von dem Wahren, was darin lag, betroffen.
Hohenthal redete zuerst, und sagte: »Ich sehe, daß Sie in der Theorie der Musik das sind, was man im Fechten einen vortreflichen Naturalisten nennt. Halten Sie Sich tapfer!«
Lockmann antwortete: »Die neuere Italiänische Musik hat gar wenig Dissonanzen; auch bey den heftigsten Leidenschaften ist sie [230] geschmeidig, und der wilde Schrey der Natur ist sittsam geworden. Alles geht ins Schöne; man höre nur zum Beyspiel die ernsthaften Komposizionen von Paesiello. Es fehlt ihr aber dadurch an Stärke, und mancherley Kontrast, so wohl bey Freude als Leid. Gänge in der verkleinerten Septime, die Gluck so häufig braucht, sind bey ihr schon sehr selten.«
»Die neuern Italiänischen Komponisten arbeiten hauptsächlich darauf, daß sich ihre Kastraten und Sängerinnen mit ihren Stimmen hervorthun können; und daß alles, wie im gemeinen Leben bey vornehmen Gesellschaften, in einem guten Tone gesagt wird. Die ältern, Porpora, Leo, Pergolesi, und nochTraetta und Jomelli, sind in einer ganz andern Welt zu Hause. Uebrigens muß man gestehen, daß die neuern sich mehr in ihren eleganten Metastasio einstudirt haben.«
»Aber so ist der Gang bey allen Künsten; aus dem Wahren, Individuellen kommt man zu allgemeinen schönen Formen.«
»Dieses vorläufig.«
»Mein theurer Freund, ich gebe dafür tausend Thaler! mag dasselbe in jedem Ton bey einem Juden oder Finanzminister gelten. Eben so:ja, ich will ihn heurathen, bey einem Freyer auf Rechnung. Aber gewiß nicht, weder bey Ihnen, gutherziger Mann, noch bey diesen vollkommnen Personen.«
»Bravo!« rief Reinhold.
Lockmann. »Wir haben hier zwey große Philosophen, die uns zuhören, und die beyden Damen können in dieser Materie auf jeder hohen Schule dafür gelten; wir müssen also gründlich zu Werke gehen.«
»Was ist Musik überhaupt?«
[231] »Wenn ich nicht irre, so ist sie die Kunst, durch gemessene Töne das Leben im Menschen, und alles, was sich in der Natur durch Ton und Bewegung äußert, darzustellen; ohne Metapher zu reden, dem, Sinn des Ohrs hörbar zu machen.«
»Da dieß der Stimme des Menschen oft zu schwer wird, nicht selten zu niedrig, ja unmöglich ist: so hat er Instrumente dazu erfunden, welche die göttliche Stimme einer Hildegard, der Sultanin aller Feen im Luftreich, gehorsamst und mit Lust bedienen.«
»Vortreflich, mein theurer junger Freund!« riefReinhold weiter.
Lockmann. »Und um die Darstellung, so viel als möglich, zu bestimmen, die Wörter der Sprachen.«
»Eine starke Aussprache ist noch keine Musik, wenn die Töne dabey in keiner gemessenen Leiter stehen; und so kann man dem leisesten zärtlichen Gesang einer Gabrieli oder Todi diesen Namen nicht absprechen.«
»Jomelli stellt durch die Geige den Galopp eines schnellen Pferdes dar, weil dieses für die Stimme zu unedel wäre; mit Hörnern, Klarinetten und andern Instrumenten einen angeschwollnen Waldstrom, der alles niederreißt, was ihm in seinem Lauf begegnet; Majo, Jomelli und Gluck durch die gewaltige Geige den Wetterstrahl, der die Wolken durchzackt und trümmernd herniederfährt; und warum sollte man die allergrößte Janitscharentrommel nicht brauchen dürfen, wenn man den Donner der Kanonen darstellen wollte? den schrecklichen Hall der Posaunen für Sturmwinde, und die mit zartem Finger gerührten Saiten der Harfe für das gelinde Säuseln holder Frühlingslüfte?«
»Ohne pedantisch zu werden, kann man bey Melodien für sich von großem Umfang die Harmonie nicht bestimmt genug für den Ausdruck [232] angeben; von diesem Bedürfnisse getrieben, hat man zuerst die Begleitung der Instrumente erfunden. Mit dieser ist ein Ton der Melodie hinlänglich, den ganzen Ausdruck zum Beyspiel des schmelzenden Accords der kleinen Septime auf dem vollkommnen Dreyklang hervorzubringen, und die Stimme kann überdieß noch wählen, welchen sie will von vieren, für jeden besondern Reiz. Sie steht dadurch wie eine Semiramis und Tomiris, wie Alexander und Cäsar, gleichsam an der Spitze von geübten Heeren; und es wäre höchst ungerecht, wenn man eine Melodie für sich allein aus einer Iphigenia in Tauris von Gluck nehmen, das Mädchen barbarisch frech von ihrer furchtbaren Pallasrüstung in der Partitur entkleiden, und anatomisch zeigen wollte, daß es ein schwaches Geschöpf wie andre auch sey, und nicht einmal so stark, wie manche Westphälische Magd.«
»Die Töne an und für sich genommen, und nach dem bloßen Verhältniß, sind freylich so allgemein, wie das Element der Luft, woraus sie bestehen, und wie die Zahlen; aber die Verschiedenheit der Kehlen und Instrumente, wodurch sie hervorgebracht werden, bestimmt schon sehr ihren Gehalt: und sie unterscheiden sich wie hundert Goldstücke und hundert Rechenpfennige. Jedoch kann man auch in ihrem allgemeinsten Ausdruck bey der Verbindung nicht die Zahlen verwechseln. Die Dreyklänge, das alltägliche Leben, haben schon entschieden ihren bestimmten. Da diese zu häufig gebraucht werden, so will ich mich bey ihnen nicht aufhalten; ob man gleich auch hierin harte Fehler begeht. Bey den seltnern Accorden, die auch nur seltne Leidenschaften bezeichnen, läßt sich aber leicht darthun, wie richtig das Gefühl großer Meister, eines Leo, Pergolesi, Traetta, Jomelli, Majo, Händel, Hasse, Graun, Gluck, [233] Benda sie auf ein Haar überein trift und anwendet; und zuverlässig haben diese Originalgeister einander nicht ausgeschrieben.«
»Dieß verlang' ich zu sehen und zu hören, erwiederte Reinhold; und wir werden bald einig seyn.«
»Daran soll es nicht fehlen!« fuhr Lockmann ferner fort.
»Was die Sprache der Musik, und die Musik der Sprache leistet, ist so schwer als gefährlich zu beantworten und zu entscheiden. Ein Rodomont von Dichter, und ein Mandrikart von Tonkünstler könnten sich in ihren gut gehärteten Rüstungen wenigstens heillose blaue Flecken stechen und hauen.«
»Die Sprache ist das Kleid der Musik, würde der letztre behaupten, und nicht die Musik das Kleid der Sprache. Wenn sie sich nach der Sprache richtet: so thut sie es, wie der menschliche Körper nach den Kleidern. Nicht die Italiänische Sprache hat die Welsche Musik geschaffen, sondern das Welsche Herz und Feuer, die Neapolitanische Schönheit des Himmels, der Erde und des Meeres; und freylich ist die Welsche Sprache leichter Schleyer, Griechisches Gewand der Empfindungen oder Töne.«
»Der Dichter stellt mit Worten, willkürlichen Zeichen die Gefühle dar, in so weit ihm Darstellung dadurch möglich ist; und der Tonkünstler mit Tönen. Diese sind die allgemeinen natürlichen Aeußerungen und Merkmale des Lebens, und der Veränderungen des Lebens, und in der Menschenstimme so das Leben und dessen Veränderungen selbst, als einPraxiteles, wenn ich mich so ausdrücken darf, den Stamm der Schönheiten einer Phryne mit seinen bloßen Formen nur je darzustellen vermag. Der Dichter bestimmt Personen, Ort und Umstände, Leidenschaften, Minuten, Stunden, Tags- und Jahrszeiten, Reden und Handlungen: der Tonkünstler bringt das [234] Gediegne der Gefühle lebendig mit seinen Tönen hinzu, und zwingt die Zuhörer und Zuschauer, die Herzen und Seelen haben, wenn er vortreflich ist, zu fühlen, was der Dichter fühlte, oder vielmehr, was der hohe Mensch überhaupt bey gleichen Situazionen fühlen muß, zuweilen unendlich erhabner und wahrer, als der mittelmäßige Dichter selbst fühlte.«
»Welcher Mensch von Geist und Geschmack will nicht lieber die Musik des Traetta zur Sophonisbe gemacht haben, als die mittelmäßige Poesie des Verazi dazu, und ein Dutzend solcher Operntexte? Welcher Mensch von Geist und Geschmack nicht lieber die Musik des Jomelli zur Dido, als den Text? Wirklich armselige Gewänder um die lebendigen Formen der Schönheit.«
»Wer eine Melodie ohne Worte singt, braucht dazu die Buchstaben, welche am leichtesten auszusprechen sind: da, da, da; oder la, la, la; oder a, a, a; und andre.«
»Diesem nach würde die Sprache am singbarsten seyn, welche am mehrsten solche Sylben und Wörter hätte, wobey der Ton am reinsten und vollsten aus der Kehle in die Luft käme. Melodie und Harmonie herrschten darin am mehrsten in ihrer eignen Stärke und Schönheit. Bezeichnete eine solche Sprache noch außerdem vortreflich die Natur der Dinge und Empfindungen: so wäre sie gewiß für die Musik die vollkommenste. Dieß mag jedoch schwer zu vereinigen seyn.«
»Bittre, schmerzhafte Gefühle, gewaltige, furchtbare und verheerende Dinge und Begebenheiten, rauhe Gegenstände werden durch glatte leichte Worte gewiß nicht natürlich dargestellt. Das Allgemeine vergnügt nur den ewigen Verstand; das Individuelle allein reizt das zeitliche Leben. Das Interesse erzeugt die Leidenschaften; und [235] mit diesen hat es die Musik vorzüglich zu thun. Für den Ausdruck würde alsodie Sprache die vollkommenste seyn, welche Gefühle und Gegenstände schon durch bloße Worte sinnlich darstellte.«
»Die Italiänische Sprache hat beydes; doch das letztre vielleicht in manchem schon zu abgeschliffen. Der Deutsche ist nicht reich genug an singbaren Sylben; hat aber eine Menge unverdorbner vortreflicher Wörter für den Ausdruck.«
»Man hat im Accent der Sprache die Quelle der Musik, und in jeder besondern die Quelle der Nazionalmusik gesucht und zu finden geglaubt. Aber die höhern und tiefern Töne, das Melodische der Declamazion liegt nicht in der Sprache an und für sich, sondern im Charakter des Menschen, der sie spricht, und in den Sitten der Stadt und Nazion.«
»Bey Uebersetzung des Originaltextes der Musik in eine andre Sprache muß natürlich allezeit viel verloren gehn; viel nämlich von der Sprachmusik zu Melodie und Harmonie.«
»Nur fürs erste eine kleine Bemerkung,« unterbrach ihn Reinhold.
»Wenn man Melodie und Harmonie der Worte beraubt; so ist es eben, als wenn ich den Geist abziehe von Blumen, Blüthen und Kräutern: es bleibt das Allgemeine; das Individuelle geht verloren. Das Wort ist die Form des Tons; und menschliche Musik ist auch vom Wort unzertrennlich. Poesie und Musik waren ursprünglich Eins. Nur durch Erfindung mehrerer und vollkommner Instrumente sind sie getrennt worden. Was wir jetzt besonders Musik nennen, ist weiter nichts, als Schönheit von der Musik der Sprache. Wo die Sprache schon an und für sich viel Musik hat, ist die Komposition leicht; man merkt auch das Willkürliche da weit weniger.«
[236] Um beyde nicht ausschweifen zu lassen, warfHildegard folgende Frage auf: »Ist der Gesang beym Menschen entweder Natur, oder bloß Kunst, oder beydes zugleich?«
Lockmann antwortete:
»Durch ein Gleichniß wäre die Sache leicht entschieden. Der Gesang ist gegen gewöhnliche Rede, was Tanz gegen gewöhnlichen Schritt und Gang, oder Sylbenmaaß gegen Prose ist. Wie Sprung und abgemeßner Schritt schon im gemeinen Leben, wie Verse zuweilen schon im gewöhnlichen Gespräch vorkommen: so schon auch Gesang.«
»Nach diesem wäre der Gesang bloß erhöhte idealische Aussprache. Der Mensch treibt es bey allen seinen Fähigkeiten und Bedürfnissen bis zur Vollkommenheit. Die Musik wäre also Kunst, die Töne der gewöhnlichen Aussprache, und, in weitläuftigem Verstande, die Töne der ganzen Natur, zur höchsten Vollkommenheit zu bringen.«
»Bey allen drey Künsten zeigen die Virtuosen wie die reichen Leute ihren Luxus: ein Vestris in Schritten und Sprüngen; ein Sophokles in Worten und Sylbenmaaßen; ein Marchesi in starken reinen Tönen, und schnellen Läufen von erstaunlichem Umfang. Alle Drey steigen weit über das bloße Bedürfniß, den Ausdruck, hinaus, und wir bewundern die Kraft und Vollkommenheit dieser Menschen. Das, was sie darstellen, ist zuweilen bloß Nebenwerk, und dient nur, daß sie ihre Kunst dabey zeigen können.«
»Inzwischen ist der Stoff bey der Musik von weit höherer Art und tiefrer Natur, als bey den andern Künsten. Wenn ein Mensch singt; so ist es, als ob er auf einmal seine Kleider abwürfe, und sich im Stande der Natur zeigte: so etwas Inniges, Himmlisches liegt in dem Kontrast von abgemeßnen Tönen. Die gewöhnliche [237] Aussprache scheint eher ein armseliges Ueberbleibsel, ein Ruin, ein Aschenhäufchen von der Melodie, als deren Wurzel oder Quelle zu seyn. Vortrefliche Musik ist vollkommen reine Natur; die gewöhnliche Aussprache Convenienz. Vortrefliche Melodien sind wiederhergestellte Töne der Natur; und die Kunst verstärkt und verziert dieselben durch die Begleitung von Instrumenten. Die Griechen scheinen unter den bekannten Völkern, schon nach der spätern Erfindung ihrer Accente zu schließen, am mehrsten Melodie in ihrer gewöhnlichen Aussprache gehabt zu haben.«
»Die Hauptquelle der Musik liegt also im Herzen, und wenigstens bey uns nicht in der Aussprache. Ein Komponist kann diese nicht nachahmen, wie ein Mahler sein Modell; er ist, wenn er das Gewöhnliche nicht nachleyert, mehr Schöpfer, als irgend ein andrer Künstler.«
»Die Aussprache im gemeinen Leben,« unterbrach ihn Reinhold hier wieder, »richtet sich nach dem Ton von Vernunft und Verstand; die Aussprache in der Musik richtet sich nach dem Ton der Leidenschaften. Musik im strengsten Verstand ist die Sprache der Leidenschaften; und wenn auch kalte Vernunft hinzu kommt: so wird sie zum Ton der Leidenschaft gespannt und erhöht.«
»Warum erhöht man den Ton der Aussprache überhaupt; oder läßt ihn sinken? Warum bleibt er gleich?«
»Wenn ich einen Schluß der kalten Vernunft vortrage: so brauch' ich den Ton, der meiner Kehle und der ganzen Stimmung meiner Existenz der natürlichste ist; und ich erhöhe ihn bloß, um mit meinem Athem einen frischen Ansatz zu nehmen, oder auch nur, meine Sprachorgane ohne weitere Bedeutung anzustrengen, um das Einschläfernde des Einklangs zu vermeiden; ich lasse ihn sinken, weil [238] mein Athemzug, oder auch die Periode, die ich sage, zu Ende geht. Der Ton meiner Aussprache ist hier bloß Mittel, meinen Gedanken oder meine Empfindung zu offenbaren. So bald aber Leidenschaft mein Wesen spannt, bekommt der Ton auch mehr Gehalt.«
»Sehr wohl, mein alter Freund, erwiederte Lockmann. Jeder Ton ist das Resultat unsrer momentanen Existenz. Bleibt unsre Existenz im gewöhnlichen Zustande: so bleibt auch der Ton derselbe.«
»Diesen Ton der Stimme muß der Komponist von jedem Sänger und jeder Sängerin wohl fassen; dieser ist ihr eigentliches C, alle andern Töne stehen damit in Kontrast. Was hinauf oder herunter steigt, ist Leidenschaft, so bald es über Quarten und Quinten geht; erhöhter oder erniedrigter Zustand.« –
»Soll ich zu guter letzt noch den Rodomont machen? Den Mandrikard haben Sie schon ziemlich gespielt!« Mit diesen Worten blickte der Alte Lockmannen feurig an, und wendete sich dann lächelnd zu Hildegarden. »Mein Stärkstes, was ich diesen Morgen sagte, muß wenigstens das verständige Fräulein ganz hören.«
»Vocalmusik ist verstärkte und verzierte Aussprache; Instrumentalmusik Nachahmung derselben.«
»Musik überhaupt ohne Worte ist eine Sprache in lauter Vocalen, und steht an Nachahmung oder Darstellung der Natur weit unter jeder Sprache; sie hat gar keine Konsonanten, und kann alle die Eigenschaften, welche diese ausdrücken, nicht bezeichnen. Musik ohne Worte ist ein Mittelding zwischen Stummseyn und Reden. Ihre wirkliche Existenz ohne Worte gehört in den rohesten Zustand der Menschheit. Doch ist zu zweifeln, daß Musik ohne Worte selbst bey den ersten Menschen da war. So gar die Thiere, Papageyen, Raben, Ochsen, Schafe und Hunde, brauchen schon Konsonanten.«
[239] »Heutiges Tages ist ihr wesentlichster Dienst, daß sie die Gefühle im Menschen, und die Gegenstände, wozu uns die Worte fehlen, ausdrückt. Ein Volk, das arm an Sprache ist, muß sie häufig brauchen; bey einem an Sprache reichen Volk ist sie bloßer Luxus. Die Freude an ihr entsteht daher, daß wir gern bewegt, gerührt und erschüttert werden, es sey, wovon es will; wenn es nur nicht weh thut, oder doch nur angenehm weh thut.«
»Der Verstand hat über dieß sein Spiel dabey im Dunkeln mit den Proporzionen der Bewegungen der Luft; und es giebt wenig Dinge, wo Empfindung und Verstand so beysammen sind, daß man die eine von dem andern nicht unterscheiden kann.«
»Bloße Instrumentalmusik ist oft nichts mehr, als ein leerer Ohrenkitzel, wie Taback für Nasen und Zungen; wir vergnügen uns daran aus Gewohnheit, um immer etwas zu empfinden, unsre Existenz anzuwenden.«
»Und dieß waren die letzten Worte, die Sie diesen Morgen hörten. Lockmann hat gesagt, was zu sagen war; ich bekenne in manchem nun meinen Muthwillen und Irrthum, freue mich aber, wenn Sie Gelegenheit gaben, strengere Untersuchungen anzustellen. Die himmlische Musik hat keinen größern und innigern Verehrer als mich; und wo ich nur ein Paar Hörner und Klarinetten höre, muß ich alter Knabe ihnen nachlaufen.«
Hildegard fing nun an zu reden, und sagte: »Das größte aller gesellschaftlichen Vergnügen ist, wenigstens für mich, bey solchen Untersuchungen gegenwärtig zu seyn. Nur muß da Freyheit herrschen, das Alleräußerste und Verwegenste für seine Meinung zu sagen; und kein Vernünftiger, der für die hohen Freuden der Geselligkeit gebildet ist, wird das übel nehmen. Da sprühen und [240] fliegen zuweilen die Funken des Genies herum, wie vom Amboß der Küklopen, wenn sie mit gewaltigen Hammerschlägen den Donnerkeil des Zevs schmieden, oder Vulkan Rüstung, Schwert und Lanze eines Halbgotts. In der Gluth des Kampfs erhalten die noch rohen Materien nach und nach und endlich die schönsten Formen. Die neuen Ideen erzeugen sich dabey wie von selbst, wie der Blitz am Himmel sich entzündet und glänzend das Wetter durchflammt.«
»Wenn ich es wagen darf, auch noch ein Wörtchen hinzuzufügen: so scheinen Sie mir, Herr Reinhold, in Italien zu sehr von den schönen Stimmen verführt zu seyn und die Instrumentalmusik nicht nach Verdienst und Würden zu schätzen. Es läßt sich viel und Wahres zu ihrem großen Lobe sagen.«
»Sie verstärkt und bestimmt den Ausdruck der singenden Personen; drückt ihre stummen Gefühle aus, so wie die Gefühle der Nebenpersonen, und der ganzen Gesellschaft, und alles Leben der Natur, das sich durch merkliche Bewegung äußert.«
»Und selbst das Stillschweigen und den Tod,« setzte Lockmann hinzu, »durch die Gefühle der Menschen dabey.«
»Sie hat also einen viel weiteren Umfang, als die Menschenstimme; sie ist das Meer und die Luft, worin diese schwimmt und ihre Fittiche schlägt.«
»Für sich allein, fuhr Hildegard ferner fort, ist sie ein ergötzendes Spiel für die Phantasie, und schmeichelt dem Ohre durch Neuheit von Melodie und Harmonie und Fertigkeit des Vortrags, und rührt, erschüttert wohl noch das Herz mit unbestimmten Gefühlen und Ahndungen von Leidenschaften. Wenn Sie eben Symphonien und Quartetten von Haydn oder unsern andern großen Deutschen [241] Meistern gehört hätten, so würden Sie gewiß nicht, auch nur zum Scherz, so gering von ihr gesprochen haben.«
»Mich bezaubert,« erwiederte Reinhold, »die höchste aller Tugenden, die Gerechtigkeit, von einer so jungen Dame, mit so göttlicher Stimme, die mich besonders zur Ungerechtigkeit verleitete. O Haydn, Phönix der Instrumentalmusik, Stolz von Deutschland!«
»Das haben Sie gut gemacht,« rief Hohenthal; »es lebe Haydn! Haydn, mein Mann!«
»Die Melodie muß in der Musik die Harmonie verbergen, wie Blätter, Blüthen und Früchte die Aeste und das Holz der Zweige an den Bäumen. Musik, wo das nicht ist, gleicht dem Winter; da ist kein Leben.«
»Bey der Instrumentalmusik muß Phantasie herrschen, glänzende, und kühn abwechselnde. Das Sentimentale wird gar bald schal; denn es sagt doch nichts bestimmt, stellt platterdings nichts dar, und hat keine Localfarbe.«
»Nirgendwo kann man Genie und bloß nach Regeln Gemachtes besser unterscheiden, als bey der Musik. Man höre Haydn, und hundert Andre!«
»Dafür wollen wir Ihnen auch zugeben, – nicht wahr, treflicher Meister Lockmann? – daß die Musik eine verstärkte Aussprache sey, und ihre Regeln aus dem anhaltenden gemeßnen Ton fließen.«
»Die erste Musik war vielleicht die Rede eines Anführers, eines Tyrtaios, an eine Menge, der, um verständlich zu seyn, in Terzen, Quarten und Quinten sprach; oder der Ausbruch der Gefühle eines Glücklichen, oder Unglücklichen in der Einsamkeit, in starken Tönen, um sich Luft zu machen.«
»Bey den großen Theatern der Alten in freyer Luft,« bemerkte [242] Feyerabend, »war die Musik, oder verstärkte Aussprache in gemeßnen Tönen, nothwendig, um verstanden zu werden; und der Vers eine Folge davon. Bey uns ist sie mehr Vergnügen an schönen Tönen und deren Verhältnissen zu einander.«
»Der Text giebt dem Herzen und der Einbildungskraft das Bestimmte. Ein großer Gedanke, eine tiefe schöne Empfindung müssen aber schon in Worten gut gesagt seyn, wenn sie die gehörige Wirkung thun sollen. Schöne Töne machen sie nur noch eindringender, und bewegen die Seele stärker.«
Lockmann beschloß das Gespräch, indem er sagte: »Die Musik herrscht vorzüglich, wo sie ausdrückt, was die Sprache nicht vermag, oder wo die Sprache zu augenblicklich ist.«
»Die Sprache geht meistens der That vor, oder folgt ihr nach; bey der That selbst bedürfen wir ihrer wenig. Wenn ich einen Freund aus der Noth reiße, oder, wie Megakles, mich für ihn aufopfre, so brauch' ich ihm nicht erst zu sagen: ich liebe dich. Hier ist die Musik an ihrer eigentlichen Stelle, wie Pergolesi und Jomelli gezeigt haben.«
»Der Jubelton bey gewissen Momenten übertrift alle andre Sprache. So läßt sich das innere Gefühl bey andern Thaten, das Wallen des Herzens, die hohe Fluth in Adern und Lebensgeistern durch nichts besser ausdrücken. Worte sind Erfindungen der ruhigen Besonnenheit. Der heilige Augustinus hält bloße Töne des Entzückens ohne Worte für die beste Sprache gegen Gott.«
»Bey Leidenschaften also ist die Musik an ihrer rechten Stelle; besonders bey heftigen, wo man nicht mehr an Worte denkt, sondern von den Sachen selbst durchdrungen wird. Wir stoßen einen Theil von dem Leben aus, das in uns ist. Und dieß geschieht am leichtesten [243] durch Vocale. Die Konsonanten ahmen die Oberfläche der Dinge nach, oder wie sie sich durch Geräusch äußern, oder Gefühl und andre Sinne etwas Besonderes dabey und daran gewahr werden. Für alles, was aus unserm Innern unmittelbar selbst kommt, ist der Vocal der wesentliche Laut. Der Wilde sieht etwas Schönes von weitem, und ruft: A! Er nähert sich, erkennt es deutlich, und ruft: E! Er berührt es, wird von ihm berührt, und beyde rufen: I! Eins will sich des andern bemächtigen, und das, welches Verlust befürchtet, ruft: O! Es unterliegt, leidet Schmerz, und ruft: U!«
»Die fünf Vocale mit ihren Doppellautern sind die Tonleiter des Alphabets und der gewöhnlichen Aussprache.«
Man stand auf. Die Mutter selbst schenkte noch einmal die Gläser voll von einem sprudelnden, schäumenden Champagner, und sagte: »Wie können Menschen angenehmer ihre Zeit zubringen, als bey solchen Gesprächen!«
Auf Bitten Reinholds sang Hildegard im Musiksaal nur noch die Arie der Giunia: Parto; ma attendimi, farò ritorno! und entzückte damit den Alten unaussprechlich.
Es war den Abend Gesellschaft bey der Frau von Lupfen, und man mußte sich trennen.
»Heilige Luft,« rief Reinhold noch außer sich, »Gottheit der Musik, wie oft haben mich deine Zaubertöne schon entzückt! inniger, als die lieblichen Farben des Phöbus. Dir will ich einen Tempel bauen auf den lebendigsten Höhen des Rheinstroms; und die Vögel des Himmels, die Thiere der Erde, und die Hechte, Karpfen und Salmen in den klaren Fluthen sollen auf Lockmanns Kapelle lauschen!«
Im folgenden Konzert wurden die schönen Scenen aus dem Vologeso [244] aufgeführt. Lockmann hatte die lyrischen Situazionen der Geschichte kurz und leicht faßlich aufgesetzt, und Aller Herzen zauberte die göttliche Musik hin wie zur Wirklichkeit, und so wahr schien Hildegard Berenize. Auch Lock mann sang sein Cara, deh serbami costante il core mit dem höchsten Ausdruck, als ob er selbst der geliebte Vologeso wäre. Törring und Wallersheim beneideten sein für Weiber so verführerisches, bey der Liebe so unterhaltendes Talent; und wünschten sich ein gleiches. Wolfseck sah ihn bey seinen zärtlichsten Accenten wieder ein paarmal wild an. Doch lenkte bald Hildegard bey der tragischen Scene ihre ganze Aufmerksamkeit auf sich.
»Himmlisches Wesen, Hildegard!« Mit diesen Worten faßte Lockmann zärtlich ihre Rechte, als er sie den andern Nachmittag allein im Musiksaal fand. Sie antwortete ihm lächelnd, fast eben so zärtlich: »Lieber Lockmann!« Beyde schlugen sich einander die Arme um Brust und Nacken, schmolzen in einander mit einem seelenvollen Kuß und den süßesten Blicken; und bogen dann in unaussprechlichem Gefühl einander wie die Schwäne die Köpfe Wangen an sanfte Wangen und um die schlanken Hälse. Aber dabey blieb es; sie entschlüpfte wie ein Aal, so bald er etwas weiter wagen wollte. Nur diesesmal gestattete die wohlthätige Natur einen Moment länger seine fliegenden Raubgriffe auf die rundlichen zarten Zwillingsformen, der gierigen Hand lauter Entzücken. Schüchtern that sie, als ob sie etwas kommen hörte; und beyde saßen unbeschreiblich schön blühend und glühend am Klaviere. Gut, daß Niemand kam! Alles war still; Strahlen schoß sein Auge; das weiße Sommergewand verhüllte nur leicht die herrlichen Säulen des stolzen Körperbaus. Von [245] Leidenschaft überwältigt, wollt' er mit beyden Händen wie ein kühner Adler darauf stürzen; aber plötzlich in reizenden Zorn verwandelt sprang Hildegard auf, und stieß ihn bitter von sich. Beschämt ergriff er die Oper, die er mitgebracht hatte, unter so gewaltigem Herzklopfen, daß man die Pulsschläge an Hemd und Weste zählen konnte.
Himmel und alle Heiligen! wenn jetzt deine Mutter oder dein Bruder käme! dachte sie voll jungfräulicher Angst, und wollt' es nie wieder so weit kommen lassen. Sie war im Begriff, sich zu entfernen, ihn zurück zu lassen, und auf ihr Zimmer zu eilen; aber er versprach bittend und flehend, sich zu bändigen und gehorsam zu seyn. »Nichts wieder von der Art!« sagte sie mit dem allerstrengsten Ernste.
Die Oper war
Montezuma von Francesco Majo.
Der Blick auf die Musik seines Lieblings brachte ihn nach und nach wieder zu sich.
»Er ist ein wahrer lebendiger Quell,« fing er mit gebrochnen Worten an, »von natürlicher Melodie und Harmonie; und durchaus das glücklichste Original. Kein andrer Tonkünstler erweckt eine solche Heiterkeit in meiner Seele.«
Sie konnte sich nicht enthalten, wider Willen über die Gewalt, die er sich anthat, zu lächeln. »Grausame!« rief er leise, als er es bemerkte. »Nur zu gelind und gütig!« antwortete sie, noch erzürnt, doch etwas versöhnt. »Nur weiter! weiter, Ungenügsamer!«
»Ich habe eigentliche Liebe zu ihm,« fuhr Lockmann fort.
»Die Geschichte ist die Gefangennehmung des Montezuma durch Cortes; und die Poesie hat glückliche Stellen für Musik. Das [246] Heroische herrscht durch das Ganze; und in dieser Art sind darin von dem jungen Tonkünstler klassische Sachen, die, so viel ich weiß, ihres gleichen noch nicht haben.«
»Wahrer Jammer und Verlust, daß die größten Neapolitanischen Tonkünstler so frühzeitig starben,Pergolesi, Vinci, Leo, Majo!«
»Die erste Arie des Montezuma mit begleitetem Recitativ giebt den prächtigsten Ton an in der zweyten Scene. Dove son? che m'avenne? Die Arie Numi Tiranni, non tanto rigor! calmate gli affanni d'un povero cor 20. Alles ist durchaus neu und eigen.«
»Guacozinga, Geliebte und bald Vermählte des Montezuma, tritt in der vierten Scene reizend auf: al sembiante sconvolto, turbato oltre il costume; und dann mit der Arie voll neuer Grazie: Ah, che in un mar d'affanni ho già penato assai.«
»Die zwey Märsche im ersten Akt und zu Anfang des zweyten sind ganz Pracht und neu in Melodie und Harmonie.«
»Das Vortreflichste im ersten Akt, und mit im Ganzen, ist die zwölfte Scene des Montezuma: Pur troppo è ver, ma che far posso! mit der Arie: A morir se mi condanna la tiranna ingrata sorte, ah! si cada almen da forte, senza un ombra di viltà.«
»Parli poi con suo stupore de' miei casi il mondo intero, e le stelle abbian rossore, della loro crudeltà 21.«
Lockmann sang sie nur mit halber Stimme; aber Hildegard [247] ward davon entzückt, und sagte: sie habe im Heroischen an Neuheit, Glanz und Ausdruck, Melodie und Harmonie nichts von so hoher Schönheit gehört; und der junge Majo überblende alles.
»Im zweyten Akt, fuhr Lockmann weiter fort, haben Cortes und Teutile Vortrefliches; aber das Duett am Ende zwischen Montezuma und der Guacozinga ist das Erfreulichste: es hat die allergefälligste Gewandtheit in Melodie und Begleitung. Ah se mi sei fedele, cangia pensier ben mio.«
»Im dritten Akt hat Guacozinga die Meisterscene, voll noch größrer Schönheiten in der Musik, als die Scene des Montezuma im ersten Akt. Sie ist allein während des Gefechts: Eccomi sola alfine, eccomi abbandonata al mio dolore. Schon im Recitativ sind herrliche pittoreske Sachen, als bey Odo il nitrir de' fervidi destrieri – – – 22. Die drey einzeln angeschlagnen halben Taktnoten in Oktaven von drey Takten thun schauerliche Wirkung; bey der plötzlichen Stille glaubt man alles zu hören.«
»Die Arie darauf ist ganz göttlich: Ombre dolenti e pallide, che v'aggirate intorno. Es ist hier manches Neue, womit hernach die Kunst der Musik, selbst beyGlucken, sich bereichert hat, und welches bey den ersten Nachahmern noch für neu durchging; als die ganz bezaubernde Begleitung auf Ombre dolenti, ombre pallide, deh, per pietà, deh, lasciatemi, so gezogen fortlaufend der zweyten Violine zu der entzückenden Melodie, und der nachgeschlagnen Harmonie der ersten Violine. Hier ist die erste frische Quelle: und wie gleich so vollkommen!«
»Das No, più trovar non sa, aus dem Es moll die kleine Terz in die große hinübergezogen, ist hernach, nur grell, nachgeahmt worden; [248] hier glänzt die Empfindung in ihrer ersten natürlichen Unschuld, Wahrheit und Schönheit.«
»Es fehlt dieser Oper zwar der Pomp der so oft erzwungnen Französischen Chöre; aber wie jugendlich schön und blühend ist alles!«
Hildegard rief gleich ihren Bruder dazu. Beyde weideten sich recht, und konnten nicht aufhören, das Göttliche zu wiederhohlen. Sie sprachen alsdann mit einander von Melodie überhaupt, von Harmonie und Begleitung.
Lockmann sagte unter andern: »Melodie ist eine Folge von einzelnen Tönen, die in abwechselnden Sätzen und Perioden, damit die Kehle wieder Luft schöpfen kann, eine Empfindung oder Leidenschaft darstellt. Die Darstellung macht ein Ganzes aus, wie die Empfindung oder das Gefühl, welches natürlich in verschiedne Theile zerfällt. Je mehr diese zu einander, und für den Ausdruck passen, desto größer die Schönheit. Bey Liedern sind sie klein, bey hohen Empfindungen in Operscenen groß; wo ein starker Athem dazu gehört.«
»Der Vorzug der guten Italiänischen Musik besteht in dem edlen leichten Gang der Melodie, dem Ebenmaaß ihrer Perioden, der Klarheit, Reinheit passender mannigfaltiger Harmonie, und überhaupt der schönen Proporzion des Ganzen. Kurz, die Musik wird so viel als möglich selbst Natur.«
»Bey jeder Melodie ist Darstellung von Person, oder eines besondern Wesens, dessen Leben in Bewegung mit der Zeit fortrückt.«
»Wenn bey Arien das Orchester die Melodie vorspielt: so drückt es die Vorgefühle des Sängers zum Gesang aus; doch immer pedantisch! Die Vorgefühle sollen noch nicht die Melodie selbst seyn sondern ihr Werden.«
[249] »Die Melodie zeigt vorzüglich den Charakter. Der Chinese schreitet darin anders fort, als der Neapolitaner; in demselben Klima fühlt darin der freye Mensch anders, als der Sklav.«
»Sklaverey und Kriecherey, Bescheidenheit, Freyheit, Frechheit haben alle ihren verschiednen Gang, und ihre eigne Melodie. Die Vierteltöne und halben Töne, ganze Gänge darin, scheinen sich mit, Bescheidenheit, Freyheit und Adel nicht zu vertragen. Die sklavischen Chinesen haben sie noch; die freyen Griechen erhielten sie mit ihrer Musik von den weichlichen Kleinasiaten, Unterthanen der Perser. Was einmal zur Gewohnheit geworden ist, läßt sich so leicht nicht vertilgen; nur nach und nach kann die stärkste Vernunft unnatürliche Gebräuche abschaffen.«
»Die Musik aus dem Anfang unsers Jahrhunderts hat noch kleinliche Melodie. Bey Porpora, Durante, Leo, Pergolesi ist sie sehr merklich; bey Händel herrscht sie in vielen Arien. Gerade wie in der Mahlerey der Styl des Peter von Perugia, Johann Bellino, Mantegna, bevor die hohen Geister Michel Angelo, Raphael, Tizian und Correggio erschienen.«
»Freylich giebt es Leidenschaften, wo sie so gar im edeln Styl schöne Natur ausdrückt; als in Kirchenmusiken Niederwerfung vor Gott, in der Oper die süßen Zärtlichkeiten, Schmeicheleyen der Liebe, Besorgnisse der Eifersucht: so allgemein ist der Ausdruck der Töne. Doch dauert dieß nur Augenblicke, und herrscht nicht durch das Ganze. Wo es die Natur erfordert, brauchen noch jetzt große Sänger sogar Vierteltöne, wie Virtuosen auf Instrumenten, ob wir sie gleich aus unserm musikalischen System in Folge verbannt haben.«
»Die Neapolitanische Musik liebt von den mittlern Zeiten Jomelli's [250] an einen edlen freyen Gang, und bey heftigen Leidenschaften einen kühnen Flug. Armida wagt in ihrer Wuth Sprünge, wie eine gejagte Gemse.«
»Man kann dieß wohl das klassische Zeitalter der Musik nennen; die Schönheit der Melodie drückt das höchste Ideal edlen freyen, Lebens aus. Majo's göttliches Genie strahlt recht darin hervor, und rückte die Kunst jugendlich gewaltig der Vollkommenheit näher.«
»Gluck fällt schon wieder etwas zurück, und nicht selten, den Französischen Ohren zu gefallen, in das Kleinliche; doch herrscht in seinen besten Werken der klassische Styl.«
»Der kleinliche Fortschritt der Melodie bey Unglück ist gegen allen Adel, selbst bey Weibern; und drückt nur niedrige Natur aus.«
»In den Melodien unsrer Musik unterscheidet man jedoch gewiß noch nicht genug das Weib vom Manne. Was beym Manne kleinlich ist, kann beym Weibe Sittsamkeit, Bescheidenheit, edle Natur seyn. In Opern könnte man den Gang beyder durch den Kontrast gut unterscheiden.«
»Auch die Musik, wie alle Künste, stellt sinnliche Denkmäler auf von dem Charakter ihres Zeitalters.«
»Jomelli, Sarti, und Andre haben wahrscheinlich ihr Heroisches, wodurch sie sich auszeichnen, Deutschland und dem Norden zu verdanken.«
»Eine Melodie besteht entweder für sich allein, das ist, sie hat so viel Klang und Harmonie in sich, daß sie keiner andern bedarf, ja daß jede andere unschicklich ist; oder sie läßt sich in Gesellschaft, von einer Stimme oder mehreren, hören.«
»So sollten Melodien zu Volksliedern seyn, die nur für Eine Person [251] gedichtet sind. Auch finden sich alte dieser Art bey uns, bey den Schottländern, bey den Franzosen, Spaniern, und allen Nazionen; Romanzen, wo nur Eine Person erzählt, Liebeslieder, Hirtenlieder, Jägerlieder. Und so finden sich noch einfache Melodien für Nazionaltänze voll Rhythmus. Sie sind Schätze, Modelle zur Charakteristik für den Tonkünstler.«
»Weit künstlicher sind Nachahmungen solcher Melodien für besondre Instrumente allein, ohne alle Begleitung, wo das Ohr keinen Mangel von Harmonie merkt, und keine andre ohne Unschicklichkeit, sich dazu hören lassen darf.«
»Sangen mehrere Personen Volkslieder in solchen harmonischen Melodien: so könnt' es nur im Einklang und in Oktaven geschehen, wie die Kontrapunktisten von den Griechen behaupten.«
»Alsdann erfand man Instrumente, die Melodien der Stimme zu erleichtern, und die Zwischenzeit der Verse und Strophen auszufüllen. Dieß ist der Ursprung der Begleitung. Die ältesten mögen nur die wenigen vollkommensten Konsonanzen gehabt haben: die Oktave, Quinte, Quarte und s.f.; und nach und nach mag man bis zu den Accorden der heutigen Guitarre gekommen seyn. Noch entzückt diese erste jugendliche Natur der Musik selbst Neapolitaner, Römer, und Venezianer, und alte ausgelernte Kontrapunktisten. Diese Art Harmonie diente den MelodienAnakreons so leicht, so schön und reizend, wie sein Bathyll.«
»Nach der für sich bestehenden harmonischen Melodie kommt das Duett, Wechselgesang zwischen zwey Stimmen. Wenn man nicht einen Despoten mit einem Sklaven darstellen will: so muß die Melodie zwischen beyde Stimmen vertheilt seyn, und eine Harmonie ausmachen.«
[252] »Dann eben so das Terzett, und der vierstimmige Satz; wo die tiefen Stimmen nach der Theorie des Klangs sich doch mehr zur bloßen Grundharmonie neigen. Bey fünf-, sechs-, und mehrstimmigen Sachen werden die wohllautendsten Töne – Oktaven, Quinten, Quarten, Terzen, Sexten – verdoppelt und verdreyfacht.«
»Das Duett und Terzett, auch die mehrstimmigen melodischen Sachen in Chören und Finalen, sollen in Opern ihren Charakter behalten, obgleich bey aller Pracht der Instrumente.«
»Bis zu den spätern Zeiten des Jomelli bediente die Harmonie der Instrumente die Sänger und Sängerinnen ziemlich sklavisch; die Geige wagte es selten, die Melodie der Stimme mit einer eignen andern untergeordneten zu begleiten; Majo ließ sie noch mehr als Grazie neben der Venus erscheinen.«
»Wo besondre Melodie ist, sollte freylich auch Darstellung eigner Person, wenigstens eignen Gefühls, seyn. Ein Doppelgefühl kann gar wohl in einer Person zugleich sich regen, bey Zweifel beydes herrschend, und in Entscheidung der Leidenschaft eins dem andern untergeordnet; zum Beyspiel der Trieb, der Zug der Natur, und das Gefühl des Schicklichen, der bürgerlichen Convenienz. Ein Instrument könnte also das eine oder das andre hören lassen, da die singende Person mit Einer Melodie beydes nicht zugleich kann. Jomelli schildert, wie Homer in seinen Gleichnissen, durch Instrumente das Leben der Natur um sie her, den Galopp des Pferdes, das empörte Meer, Ströme und Sturmwinde.«
»Ueberhaupt aber hat man noch nicht einmal die Frage aufgeworfen, was unsre ungeheuern Orchester bey einer dramatischen Begebenheit eigentlich vorstellen und bedeuten. Etwa die harmonischen Wände der Scene? oder die Nebengefühle der singenden Personen? [253] oder die Gefühle der mithandelnden? oder die Gefühle des zuhörenden Publikums? oder alles zusammen?«
»Das wahrscheinlichste wäre fast: den Chor der Griechen. Auch scheinen Tonkünstler aus Instinkt darauf zuweilen hingearbeitet zu haben. Eine Akademie sollte einmal den Unglücklichen, die bis jetzt in den Tag hinein schreiben, und gegen die Alten so stolz darauf sind, mit einer recht hohen Preisfrage Licht darüber zu verschaffen suchen.«
»Inzwischen will ich Ihnen die beste Antwort darauf ins Ohr sagen: das Orchester stellt, nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge, vor – das Orchester!«
Lockmann setzte die Tage darauf die schönsten Sachen seiner Oper, besonders entzückend die Scene, wo Achill als Pyrrha an der Tafel auf der Guitarre spielt, und dazu singt: Se un core annodi; keinMillico hätte die Kleinigkeit reizender machen können. Und eben so den Spott des Ulysses: Achille in gonna avolto, unter hinreißender Beredtsamkeit. In der Hauptscene, wo Achill mit den Waffen in der Hand wieder Achill wird: Ove son? che ascoltai? konnte Lockmann sich mit den größten Meistern messen, so neu und kühn und voll Feuer waren Melodie und Begleitung, und zugleich so wahr und schön; alles aber für ein großes Theater und ein zahlreiches Orchester geschrieben. Er hatte in seinem Kopfe weite Aussichten.
Diese Woche sah er Hildegarden nur einmal, als er ihr die Probe zu den Scenen des Montezuma meldete, in Gesellschaft des Herrn von Wallersheim, bey ihrem Bruder, kurz vor einer großen Theegesellschaft bey der Mutter; und dann mit ihrem Bruder in der Probe selbst, wo seine Leute sich über die neue Art von Musik [254] des Majo höchlich freuten, den sie bis jetzt nur aus dem Salve Regina. kannten.
Als man den Abend darauf schon die Geigen für das Konzert stimmte, und nun alles versammelt war: kam ein fremder Wagen schnell in das Schloß gefahren. Und wer stieg aus? Prinz Karl, der seinen Vater, den Fürsten, unerwartet überraschte, von einem jungen Offizier begleitet. Es entstand ein allgemeiner Jubel, als Vater und Sohn sich einander zärtlich umarmten, und die Fürstin herbeyeilte, den einzigen an ihr Mutterherz zu drücken. Sie hatten sich fast zwey Jahre nicht gesehen; er war während der Zeit in Paris, und hernach in Geschäften in der Lombardey gewesen. Seine Gemahlin blieb in der Mitte ihrer zweyten Schwangerschaft in Wien zurück, um den Erschütterungen der Reise sich nicht auszusetzen.
Er war ein schlanker schöner Herr, noch nicht in die dreyßig; das Auge voll Feuer, und sein ganzes Aussehen kriegerisch. Er glich auffallend seinem Vater.
Nach einem Viertelstündchen Fragen und Antworten in einem Seitenzimmer, trat die fürstliche Familie wieder in den Saal, und das Konzert ward angefangen.
Der Prinz erwartete, zerstreut und ohne Aufmerksamkeit, gegen Wien höchstens eine kleine artige Provinzialmusik. Er spielte selbst das Klavier von seiner ersten Jugend her, ohne besondre Fertigkeit; hatte aber ein gebildetes und erfahrnes Ohr für die Schönheiten der Kunst.
Eine für die Folge passende Symphonie vonHaydn, die ihm schon bekannt war und äußerst richtig im Tempo und Charakter vorgetragen wurde, machte ihn jedoch geneigt, ferner zuzuhören. Wie [255] erstaunte er aber, als Lockmann, weit mehr alsRaaf, was Geist und heroischen Charakter betraf, die göttliche Arie des Montezuma sang: A morir se mi condanna la tiranna ingrata sorte! Solche! neue reizende Schönheit in Melodie und Harmonie hatte er noch nicht empfunden. Bey der erhabnen Stelle: Ah, si cada almen da forte! stand er hingerissen vom Sitz auf, und trat leise weit in den Saal hinein, bis nahe vor die edle Liebesgestalt des Sängers.
Nach Endigung der Arie konnt' er diesem und dem Fürsten seine Bewunderung nicht genug ausdrücken. Auch er kannte Majo nicht, setzte im Gesang ihn weit über Glucken, und bat, auf die schmeichelhafteste Weise, um die Wiederholung der außerordentlichen Scene.
Lockmann sang sie mit den angenehmsten Veränderungen, die alle zu dem Heroischen des Ausdrucks paßten; und erhielt neue Lobsprüche. Der Prinz sagte: »Schönheit geht bey den Künsten über alles.«
Alsdann mußte Hildegard zum Duett auftreten. Der Fürst gab sie für eine fremde Sängerin aus, und hatte, während der Prinz mit Lockmannen sprach, sie beredet, es geschehen zu lassen. Sie kannte den Prinzen kaum, und er sie gar nicht. Er sah sie anfangs unter den andern Damen wie versteckt; doch leuchtete das schöne Gesicht, bey einer schnellen Wendung, ihm wie bey reiner Nacht ein funkelnder großer Stern in die Seele.
Sie trug ein grünes Kleid, das lange Haar nachlässig gelockt; edel schritt sie heran, jungfräulich sittsam in Blick und Geberde, und die stolzen Formen des Wunderbaus ihres Körpers erschienen in solcher Erhabenheit, wie er noch nie etwas Weibliches gesehen hatte. Majo war fast aus seinem Ohre verschwunden, und sein Auge ward der einzige, aber tief herrschende, Sinn seines Wesens.
[256] Man ließ ihm nicht Zeit, viel Fragen anzustellen. Als er die ersten Melodien ihrer Stimme vernommen hatte, rief er: »Gott, welch ein Ton!« und bald darauf: »Welcher Vortrag!« und weiter: »Welch ein süßer Ausdruck! Das brennt recht von Feuer und Stärke.« Kurz, Majo und Lockmann verschwanden, und er hörte nur Hildegarden allein.
Als sie fertig waren, sagte er geschwind leise dem Fürsten: »Die Mara könnte sie seyn nach der Stimme, durch ganz Europa bewundert; aber nicht an Gestalt und Jugend, und geschmeidigem Ausdruck. Wer ist sie? wie heißt sie? damit ich nicht aus Unwissenheit fehle.«
Der Fürst sagte: »Sie heißt Hildegard, und ist eine Deutsche.«
Alsdann näherte der Prinz sich ihr mit diesen Worten: »Ich habe große berühmte Sänger und Sängerinnen gehört, aber noch keine Stimme, die so ganz schöne reine vollkommne Menschenstimme wäre. Nichts von Instrument, weder Flöte, noch Hoboe ist darin; durchaus Nachtigall ihrer Art.«
Sie verneigte sich, und äußerte in wenig Worten ihre Freude über den Beyfall eines so hohen Kenners; wobey sie vor seinem Blick erröthete.
Fürst und Fürstin zogen ihn die Zwischenzeit von ihr ab.
Aber was er gehört hatte, war Kleinigkeit gegen die letzte Scene: Eccomi sola a fine, eccomi abbandonata al mio dolore; mit der Arie: Ombre dolenti e pallide, che v'aggirate intorno.
So ein feiner Hofmann er war, so gerieth er doch außer sich über den göttlichen Gesang und die himmlische Musik. Hildegard brachte zu ihrem eignen Vergnügen gegen das Ende einen ihr ganz eigenen Lauf an, den Lockmann selbst noch nicht gehört hatte, und [257] den weder Flöten noch Geigen nachmachen können; die Töne rollten dabey immer etwas wieder zurück, aber zugleich doch mit einer erstaunlichen Geschwindigkeit hinauf; und dann herunter schwebte sie in der Mitte des weiten Umfangs ihrer Stimme auf Einem Tone, wahrhaftig wie ein Falk mit ausgebreiteten Fittichen in der Luft, so daß man nicht wußte, ob sie ganz in die Tiefe, oder wieder vorwärts wollte; doch gegen Erwarten ging es wieder in die Höhe, und es folgte der Schluß mit einem entzückend netten vollen reinen Triller.
Alle Hände, die nur da waren, klatschten vor Freude. Der alte Reinhold kam dabey von seiner Vor liebe für die Kastratenstimmen gänzlich zurück.
Der Prinz sagte zu dem Offizier, seinem Begleiter, unter dem Jubel und Lärmen, bey Seite: »Eine stolze Kreatur!« Er faßte gleich den festen Entschluß, das Wunder nach Wien zu bringen; und fragte Hildegarden, ob sie sich irgendwo verpflichtet hätte?
Hildegard blickte dem Fürsten zu, daß die Rolle anfinge ihr beschwerlich zu werden. Sie wollte sich, in gewissen Rücksichten, nicht länger verkennen lassen; und der ganze Scherz ward entdeckt.
Das Gespräch war nun auf einmal traulicher, wie zwischen Gleichem und Gleichem; der Prinz sagte die allerangenehmsten Sachen mit Witz, Geschmack und Gefühl, konnte aber seiner Unzufriedenheit über die Entdeckung nicht so völlig, wie bey andern Gelegenheiten, Meister werden.
Mit der äußersten Achtung führte er Hildegarden selbst zur Tafel; und nahm den Sitz zwischen ihr und seiner Mutter, der Fürstin.
Wie es bey plötzlicher Ueberraschung und Freude zu geschehen pflegt, wurde vieles bunt durch einander gesprochen, über Wien, Paris, [258] London, berühmte Personen. Auch Hildegard sagte bey Gelegenheit ihre Meinung, zwar frey, aber bescheiden; und der Prinz merkte, daß er eine Person von geübtem Verstande vor sich hatte.
Der Fürst stand bey Zeiten auf, um die Herren von der Reise ausruhen zu lassen; und man ging bald aus einander.
Lockmann hatte den andern Morgen seine Leute zur Probe für eine Kirchenmusik auf den nächsten Sonntag bestellt, und dazu das Dixit von Majo gewählt, weil der Prinz diesen Meister nicht kannte.
Text und Sinn der Worte wußten sie alle; er erklärte ihnen nur kurz die musikalische Behandlung derselben, und sagte:
»Ein himmlischer Genius voll Leben, Geist und Grazie, unter ernsten Kirchenvätern mit Silberbärten. Das neue gewandte Spiel bey dem Canto fermo und dem alten Kirchenstyl hier und da ist ungemein reizend, wie ein Edelstein mit zierlicher prächtiger Einfassung. Es ist eben der Grad getroffen, der auch der Strenge eine süße Heiterkeit abgewinnt; alles Bunte vermieden, und Reinheit, Klarheit durch und durch herrschend. Dieses Dixit hat unter den neuern Kirchensachen einen ganz eignen originellen Charakter, und behauptet einen vorzüglichen Rang.«
»Dixit Dominus Domino meo: sede a dextris meis, donec ponam inimicos tuos scabellum pedum tuorum 23. Dieses macht ein prächtiges ausgeführtes Ganze mit der herrlichen Begleitung.«
»Nun kommen Solos.«
»Virgam virtutis tuae emittet Dominus ex Sion: dominare in medio inimicorum tuorum. Klar, schön, und voll Einfalt.«
[259] »Tecum principium in die virtutis tuae in splendoribus sanctorum: ex utero ante luciferum genui te. Dieses gehört mit der reizenden Begleitung unter die schönsten Baßarien für Kirchengesang.«
»Dominus a dextris tuis confregit in die irae suae reges: ist fast durchaus zweystimmig, so einfach begleitet, um den Ausdruck recht klar zu machen. Es erinnert mich lebhaft an die Gewalt einer himmlischen Stimme in Venedig, die durchaus Solo, vom bloßen Orgelbaß in der tiefern Oktave der Melodie begleitet, einen Psalm bey, Nacht in der Kirche sang. Was für einen Lärm würde ein Tonkünstler ohne Erfahrung, ohne Kenntniß dessen was wirkt, auf confregit gemacht haben!«
»Judicabit in nationibus, (Solo, und darauf immer Chorus) implebit ruinas. Mit vortreflicher Begleitung, prächtig und reizend.«
»Conquassabit capita in terra multorum, bloß Chorus von Stimmen, in Absätzen von Instrumenten verstärkt, fugirt, von großer Wirkung im alten Kirchenstyl. Dieß macht gewissermaaßen den Kern. Hörner und Hoboen fallen herrlich ein, und die Harmonie ist klar und leicht bey der Verflechtung der Stimmen.«
»Nun wieder Solo. De torrente in vis bibet, propterea exaltabit caput. Eine Leichtigkeit, Musik hinzuzaubern, die schon an und für sich selbst entzückt bey so schöner Melodie und Begleitung.«
»Das Solo darauf: Gloria patri, gloria filio et spiritui sancto, ist hier und da zu leichtfertig behandelt. Zwey Accorde, A moll und G dur, folgen ganz ohne Verbindung zu grell auf einander. Dieses ist aber auch das einzige Mittelmäßige im Ganzen.«
»Das Sicut erat in principio et nunc et semper, erhebt sich darauf desto prächtiger in himmlischen Solos und Chören, und schließt und [260] rundet majestätisch das Ganze mit Wiederholung der Begleitung im Anfang.«
»Das Amen ist recht feyerlich mit Windungen der Stimmen auf Orgelpunkten ausgearbeitet. Das Schönste vom Ganzen wird wiederhohlt, das Amen fugirt; ein Chor des Paradieses.«
Das Schwere ward einigemal probirt, bis es nach Wunsch gelang; und dann gab Lockmann jedem seine Stimme mit nach Hause.
Des Abends ging er zu Hildegarden, um sich mit ihr wegen des, nächsten Konzerts zu besprechen. Sie kamen mit einander überein, ihm mehr Abwechselung als gewöhnlich zu geben. Frau von Lupfen sollte sich auf dem Klavier, und Frank auf der Hoboe hören lassen.
Er hatte den Alessandro nelle Indie von Majo bey sich; sie wählten daraus nur das göttliche Duett zwischen Poro und der Cleofide: Se mai turbo il tuo riposo, pace mai non abbia il cor 24. Hildegard sagte selbst, daß die Melodie wahrer Engelsgesang sey, besonders durch die halben Töne bey der letzten Stelle.
In der Scene Poro dunque mori, und der Arie dazu: Se il ciel mi divide dal caro mio sposo 25, zog Hildegard Piccini's Komposition, die unter ihrer Musik war, für ihre Stimme vor. Lockmann sagte: »Weder Piccini, noch Majo, nochTraetta haben Cleofiden so als verliebte Schwärmerin dargestellt, wie sie nach dem Texte seyn sollte; besonders bey den lyrischen Worten: Non vivo, non moro.«
Alsdann machte er ihr die gefühltesten Lobsprüche wegen ihres [261] gestrigen Gesangs, die ihr sehr wohl thaten; und wollte wieder anfangen, wo er es hatte lassen müssen. Sie hielt ihn in den gehörigen Schranken, und fragte: »Wie gefällt Ihnen der Prinz?«
»Das ist die Frage nicht,« antwortete er; »die Frage ist: wie gefällt er Ihnen?«
»Außerordentlich!« versetzte sie ihm boshaft; sagte ihm aber nicht, daß der Prinz schon den Morgen, während seiner Probe, bey ihr und ihrer Familie gewesen war. Bis zum traulichen Gespräch über ihn konnt' er es nicht bringen; und mußte so abziehen. Inzwischen war er des Prinzen wegen unbekümmert; die andern jungen Herren, die um sie her flatterten, machten ihm mehr Sorge.
Den folgenden Morgen war Frühstück in einem anmuthigen Thal voll schöner, unter einander verstreuter Bäume: Buchen, Eichen, Linden, Kastanien, Tannen. Die jungen Herren und Damen ritten dahin; der Prinz, Hildegard und ihr Bruder, der Fürst selbst, die Fürstin, und Andre folgten in Wagen nach. Man ergötzte sich mit allerley Scherz und Spiel, wozu schon längst an diesem Lustort Vorbereitungen gemacht waren.
Der Prinz lernte bey dieser Gelegenheit Hildegarden näher kennen, und fand sie immer reizender; auch den hellen Kopf ihres Bruders voll verdauter Kenntnisse, und dessen edlen freyen Charakter. Der Fürst hatte ihm nicht zu viel von dem jungenHohenthal gesagt.
Abends, und die kühlere Nacht hindurch, war prächtiger Ball.
Schon spät, als der Fürst und die Fürstin weg waren, hatte sich Lockmann unter die Musik gestellt, um dem Fest zuzusehen.
Wie ward er gleich bey einem Französischen Tanz entzückt von der seltnen Fertigkeit und Grazie seinerHildegard! Ihre schönen [262] Füße schwebten und gaukelten hoch empor, und berührten kaum den Boden, wie von Stahlfedern in die Höhe geschnellt. Alle Wendungen machte sie mit einer Fülle von Lust, jugendlicher Kraft und Ueppigkeit, daß man nichts Reizenders auf der Welt sehen konnte. Der Prinz undWallersheim, Meister in der Kunst, konnten nicht mit ihr in Vergleichung kommen: sie übertraf bey weitem Alle; das Höchste schien bey ihr nur leichter Scherz, und sie glänzte, gleich der ersten Person im besten Theaterballet unter gewöhnlichen Tänzern, die sich lustig machen. O, wie ihr schönes Gesicht glühte, die Locken herumwallten, die großen Brillanten in ihren Ohrgehängen und dem reichen Hauptschmuck Strahlen warfen, das Kleid flog, die netten Beine sich zeigten, und Arm und Hand, mit den schönsten Perlen geziert, lustlebendig sich regten und bewegten!
Einige Zeit nach dem Tanze begab sich Hildegard mit ihrem Tänzer, dem Prinzen, in ein Seitenzimmer, sich zu erfrischen und abzukühlen. Nicht weit davon winkte dieser mit erhobnen Augenliedern dem Offizier, der ihn begleitete, daß er zurückbleiben sollte. Lockmann konnte weiter nicht nachsehen.
Sie waren, gegen Hildegards Erwarten, den Moment allein. Der Held, von unwiderstehlicher Begier entflammt, umfaßte sie an einem Sopha rasch mit dem einen Arm; um weniges war Mund an Mund, den sie gewandt noch wegbog, die linke Hand mit einem frechen geschickten Bräutigamsgriff nah am Ziel, und sie im Fallen die Länge lang auf die Breite des Sopha: als sie sich hastig zusammen raffte, alle ihre Stärke aufbot, und der kecke Ritter, durch den abgenöthigten allerstärksten Schlag ihres rechten Beins und einen Stoß ihres Elbogens auf die Brust, vom Boden glitt, plötzlich rücklings auf den Hintern prallte, den Kopf mit den Händen in [263] der Höhe kaum vor dem Aufschlagen bewahren konnte, und wie ein niedergeworfner Knabe da saß.
Er versuchte vergebens sie beym Kleide zu erhaschen; von edlem jungfräulichen Zorn entbrannt, flog sie weg in den Saal.
Sie erschien noch an der Thür in der schnellsten Bewegung, drehte den Rücken des Offiziers weg, und mengte sich dann wieder schnell unter die andern Personen. Lockmann glaubte, daß sie etwas Nothwendiges entweder vergessen oder zu bestellen habe; bemerkte jedoch, auch in der Ferne, Unwillen und Zorn in den fest geschloßnen Lippen.
Der Offizier machte sich gleichfalls unter die Andern. Einige Minuten hernach trat der Prinz langsam hervor, mit den Worten auf den Lippen: »Die ist noch ganz scheu und wild; eine starke Hexe!« und sah verstört im Gesichte aus, bey einem erzwungnen Lächeln.
Er erblickte sie vorn an der Reihe zu einem Englischen Tanz mit dem Grafen von Törring, dem sie es versprochen hatte. Vor dem, Abendessen, das nur in Gefrornem, kalten Pasteten, Fasanen, Früchten, andern Erfrischungen, allerley Backwerk und den besten Weinen auf Tischen zerstreut in einem Nebensaale zum Zugreifen bestand, tanzte sie schon eine Menuet mit dem Herrn von Wolfseck, dessen lange Figur und wüste Gestalt sich komisch genug dabey ausnahm; und alsdann einen Englischen Tanz mit dem Herrn von Wallersheim.
Den Letztern mochte sie wohl leiden. Er war ein muntrer Gesellschafter, erzählte gut, und wagte wenig; Törring hingegen war trocken, ernsthaft, heftig, aber doch sittsam. Jener nicht reich, aber wohlgebildet und liebenswürdig; dieser, wie schon gesagt, ein Herr [264] von vielen Gütern, nicht so schlank und nicht so sanft, sondern derb und masericht, wahrscheinlich ein eifersüchtiger Ehegatte.
Hildegard erforschte dieses alles wenig, da sie in mehreren Jahren noch nicht ans Heurathen denken wollte; sie begegnete ihren drey Freyern so höflich wie möglich, und war gutmüthig genug, den beyden letztern, so bald sie ihre ernsthafte Absichten zu erkennen gaben, bey Gelegenheit mit der sichern Erklärung ihrer Gesinnungen, zuvorzukommen. Aber alle Drey kannten sie nicht genug, um das Wahre darin zu fühlen; sie hielten die Aeußerung für gewöhnliche Sprödigkeit, zumal bey solchen Vollkommenheiten und Reizen. Hildegard war nur deshalb gefällig gegen sie, weil sie den Verdacht von ihrem jungen schönen Musikmeister, dem Einzigen nach ihrem Herzen, entfernen wollte; und dieser führte sich auch so klug auf, daß er nicht den geringsten Anlaß dazu gab.
Der Prinz hatte schon von seiner Mutter den Antrag des Herrn von Wolfseck, nebst der abschlägigen Antwort darauf, vernommen; und verwegen vor Leidenschaft den Angriff gethan, alsdann die Heurath mit dem rechten Mann für sich durchzusetzen.
Mit Anordnung des neuen Tanzes und mit Gesprächen beschäftigt, wurden die Andern nichts gewahr. Graf Törring, der am ersten etwas hätte bemerken können, hatte den Saal auf die kurze Zeit verlassen, und fand, als er wieder herein kam, Hildegarden unter den andern Frauenzimmern.
Während sie und Törring die Reihe durchtanzten, hatte der Prinz sich wieder herbey gemacht, und rief ihnen oft seinen Beyfall zu. Sie tanzte zerstreut und nachlässig, und konnte ihren Blick voll Verachtung nicht immer von ihm wegwenden.
Nach dem Englischen Tanze fing man einen Walzer an, worauf [265] sie sich aber nicht einließ. Sie hohlte ihren Bruder, und beyde gingen zur Mutter. Bald entfernten sie sich unvermerkt, und fuhren nach Hause.
Der Prinz war noch ganz erhitzt von dem obgleich nur augenblicklichen Griff in die zarte Haut der vollen festen kräftigen Schenkel, schon größere Wollust für ihn, als er bey nachgiebigern Schönen je empfunden hatte. Er sann auf neue Plane, und warf sich schlaflos in seinem Bette herum bis gegen Morgen. Hildegard hingegen setzte sich vor, mit der äußersten Wachsamkeit gegen die Nachstellungen des Gefährlichen und Mächtigen auf ihrer Hut zu seyn, und war erbittert, daß ihm auch nur so viel hatte gelingen können.
Damit ihr Zorn Zeit hätte, zu verrauchen, fuhr der Prinz den nächsten Sonntag sehr früh nach der Residenz, sich dem Volke zu zeigen. Der Minister hatte dort schon alles veranstaltet, ihn würdig zu empfangen. Dessen Sohn, Herr von Wolfseck, begleitete den Prinzen. Unterwegs sprach er von den seltnen Eigenschaften Hildegards, doch kalt in Rücksicht seiner selbst, und machte den Verliebten noch verliebter. In ganz Wien, sagte er, das doch wegen reizender Frauenzimmer in Ruf stehe, sey keins, welches nicht von ihr übertroffen werde. Wolfseck glaubte, mit der Prinzessin eine Ausnahme machen zu müssen.
Der Prinz wurde mit Jubel empfangen, und die Menge strömte überall um ihn.
Nachdem die Vornehmsten, welche gegenwärtig waren, sich ihm empfohlen und er manches Neue besichtigt hatte: kehrte er, in Gesellschaft des Ministers, und von mehreren Herren und Damen in andern Wagen begleitet, wieder zurück, und traf gerad' um die Zeit des Konzerts ein, welches bald darauf anfing.
[266] Hildegard hätte sich gern davon los gesagt, wenn es schicklich gewesen wäre. Sie sang also, nachdem sich Frank auf der Hoboe mit vielem Beyfall hatte hören lassen, das himmlische Duett, Se mai turbo il tuo riposo, mit dem jungen Kapellmeister unübertreflich. Nun war die Reihe an dem Minister, ihr seine Lobsprüche zu machen; dieß that er auch mit Gefühl, und küßte ihr dabey ehrerbietig die Hand.
Er unterhielt sich angenehm mit ihr in der Zwischenzeit; und der Prinz erzählte dabey lebhaft und witzig musikalische Anekdoten von Wien, Paris und Turin, und suchte sich unvermerkt wieder einzuschmeicheln.
Alsdann bezauberte sie in der Scene von Piccini; und Frau von Lupfen machte den Beschluß mit einem neuen meisterhaften Konzert von Mozart, und ward wegen ihrer Gewalt über das Fortepiano, ihrer glänzenden Manieren und ihres reinen Vortrags allgemein bewundert.
Der Prinz betrug sich gegen Hildegarden mit der allerstrengsten Sittsamkeit und Würde; sprach viel mit andern Damen, überließ sie an der Tafel ganz der Familie von Wolfseck, Vater und Sohn, Mutter und Töchtern; und wendete sich nur zuweilen bey Gelegenheit an sie, ihr etwas Schmeichelhaftes, das nicht die entfernteste Absicht verrathen konnte, zu sagen.
O, wie freute sie sich, als sie auf ihrem Zimmer wieder allein war! Sie öfnete die Fenster, und schöpfte frische Luft. »Ist es billig, daß du von den Menschen so geplagt wirst, da du allen, wie sie sagen, so viel Vergnügen machst?« So seufzte sie bekümmert; und Lyra, Schwan und Adler leuchteten bey der stillen Sommernacht vom heitern Himmel rührend in die schöne Seele. »Aber weder die [267] Herren vonWolfseck, noch der Prinz sollen dich dir selbst rauben!«
»Freylich sind wir Blumen,« fuhr sie nach einer Pause fort, »die von jedem rauhen Hauch der öffentlichen Meinung leiden, und die jeder Gefühllose brechen will, um sich damit zu schmücken. Ewige Vorsehung, du hast mich zu etwas Edlerem bestimmt! und es giebt tausend Andere, die gut genug und vortreflich zu dem einzigen Zwecke sind, das Geschlecht der Wolfsecke für Stifter und Hofstellen fortzupflanzen.«
Lockmann hatte Hildegarden die ganze Woche nicht allein gesehen und gesprochen, weil sie immer in Gesellschaft, oder bey der Frau von Lupfen, gewesen war. Er freute sich innig, als er sie den Tag nach dem Konzerte um die gewöhnliche Zeit wieder im Musiksaal antraf. »Ich sehe Sie noch mit dem Prinzen tanzen,« waren seine ersten Worte; »ein neues Talent, und in welcher Vortreflichkeit! O, wie leuchtete dabey Ihre göttliche Schönheit mit neuen Reizen in Wendungen und Stellungen, in Schritt, und Sprung und Flug hervor! Sie können auf dieser Welt keinen Feind haben; alles muß Sie anbeten.« Dabey hielt er ihre schönen zarten Hände in den seinigen. Mit holdem Blick und Lächeln hörte sie seinem süßen Reden zu, ließ sich dann von ihm umarmen, sank selbst an seine Brust, umschlang seinen Nacken, sah ihm still in die Seele, und hauchte dann ein paar geistige Küsse auf seine schönen Augen. Als seine Leidenschaft darüber auffuhr, bändigte sie dieselbe sogleich mit der Zauberformel: »Bleiben nur Sie mein Freund, und schlagen Sie Sich nicht zu meinen Feinden.«
Es war in der That ein hohes Gefühl für sie, einen so raschen feurigen Jüngling im Arm, und dessen Vernunft und Leidenschaft, [268] beyde so reizend, in gleicher Wagschale zu halten! Entzückende Seelenmusik von Gefühlen und Ideen, wo die herbsten irdischen Dissonanzen in den heitern Aether der Dreyklänge des Verstandes sich auflösen. Es war ihr nicht anders, als ob sie die süßesten und ausdruckvollesten Harmonien aus einer unvergleichlichen Laute lockte, wie sie dieß alles so in seinem Gesicht und an seinem Herzen empfand. Ein Freudenschauer überlief sie dabey, so daß sie ihn noch einmal an sich schloß; dann aber zog sie sich aus seinen Banden und Schlingen.
Sie war im Begriff, ihm Verschiednes anzuvertrauen; doch wurde sie von einer gewissen Furcht zurückgehalten, die, wie man sehen wird, nicht unbegründet war.
Er hatte den Demofoonte von Majo bey sich.
Sie verbat sich aber gleich, im nächsten Konzert zu singen. Er habe, sagte sie, noch trefliche Virtuosen, die sich auch hören lassen möchten; inzwischen wolle sie doch das Schönste mit ihm durchgehen.
»Nach Ihrem Belieben!« erwiederte er; »ich kann etwas neueres Komisches nehmen, das Sie morgen auswählen sollen, und das jetzt für die Hoffeste auch besser paßt.«
Sie setzten sich an das Klavier, und er fuhr ferner fort:
»Der Text des Demofoonte ist ein künstliches Gewebe, und beruht auf Erkennung, die, wenn man sie einmal weiß, wenig mehr täuscht. Dazu sind Cherint und Creusa ohne Natur hineingeflickt. Doch giebt es darin schöne lyrische Stellen. Das Wesentliche besteht in ehelicher Liebe, die getrennt werden soll und bis zur höchsten Leidenschaft anschwillt.«
»Die Musik ist eins von Majo's Anfangswerken; doch überall [269] quillt das Genie in Melodie hervor. Demofoonte war seine erste Oper zu Rom, und machte ihn sogleich berühmt. Man bewunderte, wegen des Ausdrucks voll jugendlichen Feuers in den schönsten Melodien: Sono in mar, non veggo sponde; und per lei fra l'armi, dove guerriero; besonders aber den Monolog des Timante im dritten Akt: Misero me.«
Sie sang sogleich die vorletzte Scene im ersten Akt der Dircea: Padre perdona, oh pene! und fand sie ganz nach den Worten leidenschaftlich und reizend; ward aber entzückt von dem Klassischen des Timante: La dolce compagna vedersi rapire 26; so wohl von der Melodie in der höchsten, edlen Süßigkeit, als von der zärtlichen Begleitung.
Lockmann erzählte dabey, daß Sarti 1783 zu Rom diese Arie mit wenig Veränderung ganz in seine Komposition aufgenommen, dafür als Autor die größten Lobsprüche eingeerntet, den Raub – so bloß für den Moment wären die Italiäner, und so sehr vergäßen sie das Alte – niemand bemerkt habe, und überall in Italien La dolce compagna, als das neuste Meisterstück von Sarti, den ganzen Frühling und Sommer nach dem Karneval gesungen worden sey.
Hildegard verwunderte sich darüber; er machte es ihr aber ganz begreiflich, und fügte hinzu: Majo hätte seinen Demofoonte, nur etwas über zwanzig Jahre früher, in demselben Theater zu Rom aufgeführt. Des Jahrs gäbe man in Italien ungefähr dreyßig bis vierzig neue Opern, freylich kaum Ein Meisterstück darunter; und diese würden wie die andern vergessen.
Er sang dann das rührende Misero pargoletto, il tuo destin non sai 27 [270] des Timante, wo die zärtlichste Vaterliebe auf die einfachste Art voll Empfindung ausgedrückt ist. »Schöne Seelenklänge!« rief Hildegard dabey aus.
Und dann sang sie die Arie der Dircea: Ah, tu volgi altròve i rai 28, mit der originellen Begleitung, wo die Violine immer ihre besondre untergeordnete Melodie in den angenehmsten Läufen hat.
»Jomelli,« fuhr Lockmann fort, »hat kurz vor seinem Tode zu Neapel dieselbe Oper in Musik gesetzt. Es ist ein netter, aber meistens zu gelehrter und künstlicher Styl, und wenig Natur darin. Doch hat er die Hauptscene, wie gewöhnlich, am meisterhaftesten bearbeitet.« (Sie war der Oper von Majo beygelegt.)
»Dircea son io, vado a morire, non ho delitto 29, u.s.f. mit erhabner Begleitung. Ihre ganze Anrede ist klassisch; neu, schön und tragisch; auch die Tonart treflich gewählt: F moll und As dur. Die Arie darauf:Se tutti i mali miei io ti potessi dir, dividerti farei per tenerezza il cor 30, gehört unter das Höchste der Musik, und ist allein eine Oper werth: so voll weiblicher Grazie und tragisch zugleich, in Melodie und Begleitung.«
»Majo hat sein Hauptwerk in La dolce compagna gelegt, welches Jomelli – ich weiß nicht warum – ganz weggelassen hat. Jener ist gewiß weit gefälliger, und übertrift diesen ferner im Misero pargoletto, und allem Uebrigen. Aber Jomelli behauptet mit dieser einzigen Scene den Rang in dieser Oper über ihn; dazu gehört ein Geist von mehr Erhabenheit.«
[271] Hildegard stimmte ungern in diesen Ausspruch; so lieb war ihr Majo schon geworden.
Den folgenden Morgen wählten sie mit ihrem Bruder unter mehrern komischen Opern Il Convito 31 von Cimarosa, als die neueste und angenehmste.
»Es zwingt auch dem Ernsthaften ein Lächeln ab,« sagte Lockmann dabey, »wie sich das Element der Musik zu allem bequemt. Es sind Saturnalien, wo sich die Göttliche herunter läßt bis zum gemeinen Volke.«
»Cimarosa hat ganz den leichten lachenden Genius, der sich dem Grotesken anschmiegt. Es ist eine wahre Erhohlung: viel denken darf man dabey nicht; man überläßt sich nur, wie in der heißen Zeit einem kühlen Lüftchen, das einen fächelt: ein Zeitvertreib für Müde und Erschöpfte, die nichts aus sich hervorbringen wollen oder können.«
»Die Finalen in der heutigen Opera buffa sind das beste, wo alle die verschiednen Charakter zusammenkommen, und in Melodie, Harmonie, Ton, Takt und Begleitung durch mancherley ein buntes Ganze machen.«
»Das Finale im ersten Akt ist auch das beste darin. Die Arien sind gar zu leicht und leer, wie sie auch seyn sollen; Laune und Grazie kommt hier und da zum Vorschein.«
»Sono in mar, non vedo sponde, mi confonde il mio periglio; Parodie, die sich recht für Saturnalien schickt, aber für den eigentlichen gefühlvollen Menschen immer widrig bleibt. Es ist mit viel Geschmack und Geschicklichkeit ausgeführt; und man erkennt deutlich die größere, nach Piccini ausgebildete Fertigkeit.«
[272] »Leichtigkeit, und geläufige Volkssprache, die bey Uebersetzungen in der Musik ziemlich matt wird, bleibt die Haupteigenschaft eines komischen Tonkünstlers. Cimarosa hat sie in hohem Grade.«
»Im zweyten Akt ist die komisch-ernsthafte Scene, wo die Wittwe Alfonsina sich närrisch stellt, und thut, als ob sie in Elisium wäre, um wieder zu ihrem verstorbenen Mann zu kommen, vortreflich; das Recitativ schön; noch schöner die Arie: Cara voce del mio bene, già ti sento e ti reviso 32, mit der Hoboe und Violine Solo, die mit der Stimme konzertiren. Gewiß eine der schönsten des komischen Theaters, voll Grazie und Laune; der Stoff recht schicklich zu Persiflage und reizender Musik. Cimarosa hat sie auch mit meisterhafter Fertigkeit ausgeführt.«
»Das zweyte Finale ist vortreflicher als das erste; ein Meisterstück in seiner Art, voll Abwechslung und zugleich Einheit in der Begleitung, und voll Buffonerien: Umidetta e tenebrosa sorge già la notte oscura 33.«
»Eine reiche, junge und schöne Wittwe, die ihre Freyer zum Besten hat, giebt den Stoff zum Ganzen, und wählt sich einen jungen hübschen Menschen. Zwey machen den verstorbnen Mann nach als Geist, ohne etwas von einander zu wissen, und fürchten sich auch vor einander. Das ganze Stück voll Laune und Lustigkeit gehört unter die besten Opere buffe.«
Zur Entschuldigung und zum Lobe Cimarosa's merkte Lockmann noch an, daß er seine mehrsten Sachen, nach der in Italien eingeführten übeln Gewohnheit, äußerst geschwind habe schreiben müssen, manche Oper binnen vierzehn Tagen, drey Wochen; und [273] daß er einer von den wenigen Meistern sey, die allen möglichen Vortheil aus den Stimmen ihrer Sänger und Sängerinnen zu ziehen wüßten.
Den Abend war Spielgesellschaft bey Hofe, wovonHildegard schicklich nicht wegbleiben konnte. Es wurde so eingerichtet, daß sie, der Prinz und der Minister zu einer l'Hombrepartie kamen; und das Loos wollte, daß sie dem erstern gegenüber saß.
Dieß war ihr höchst unangenehm, ließ sich aber nun nicht ändern. Sie setzte sich vor, ihm, und beyden, mit bloßem kalten Verstande zu begegnen, und sich so viel als möglich nur mit ihrem Spiel zu beschäftigen; besonders da der Prinz es ziemlich hoch vorschlug.
Sie spielten kaum eine halbe Stunde, so war er schon oft Labet geworden, und Hildegard hatte Glück. Der Fürst kam, eben als sie Karte gab, und bat um einen Augenblick Unterredung mit dem Minister, die aber fast eine Viertelstunde währte. Hildegard und der Prinz blieben nun allein an ihrem Tisch, von den Andern so entfernt, daß man wohl sprechen konnte, ohne verstanden zu werden. Sie wendete sich, um noch Jemanden zur Gesellschaft zu haben, und wollte selbst aufstehen; aber er hielt sie zurück mit höchst bescheidnen Blicken, und fing gleich an mit diesen Worten:
»Vergebung! fußfällig, wenn Sie allein wären,Hildegard, nicht anders zu nennen, Einzige! Wer hätte in dem Augenblick so vieler Schönheit, so unendlichen Reizen widerstehen können? Ich nicht.«
»Einen Würdigen, einen der an Vollkommenheit Ihnen gleich wäre, werden Sie auf Erden schwerlich antreffen; Sie müssen also immer eine ungleiche Heurath machen. Ledig werden Sie doch nicht bleiben wollen? Pfui! dazu sind Sie nicht bestimmt. Ich wüßte keinen bessern Mann für Sie, als Wolfseck. Er hat alles, um eine kluge [274] Frau zur glücklichen Despotin über ihn zu machen, wenn sie nur will; und der Herzensgute wartet auch noch.«
»Ach, daß ich schon vermählt bin! daß wir Europäer so eingeschränkt seyn müssen! Ich würde alles thun, mich Ihnen gefällig zu machen, zu einer Verbindung auf mein Leben.«
Sie sah ihn mit einem hellen zurückstoßenden Blick an, und gab ihm dann kalt zur Antwort: »Man kann nicht mit mehr Verstand sprechen, als Sie, Prinz. Wohl dem Lande, dessen Fürst Sie werden, wenn Sie zuvor noch Herr über Ihre vielleicht nur zuweilen vorüberfliegenden Leidenschaften geworden sind! Was die kluge glückliche Despotin des Herrnvon Wolfseck betrift: so überlass' ich die Rolle einer Andern, da es mir, nach meiner Art zu empfinden und zu denken, nicht möglich ist, weder so klug noch so glücklich zu werden.«
»Daß auch an dem geschliffensten Verstande,« erwiederte er, »sich Rostflecken der Erziehung ansetzen, bey denen die beste Lebensphilosophie Noth hat, sie wieder wegzubringen!«
»Wir wollen nicht mit Worten spielen,« erwiederte sie darauf, und fuhr fort: »Prinz, Sie haben eine tugendhafte Gemahlin, der Sie Treue schuldig sind. Ueberlassen Sie mich meinem Schicksal. Besondrer Geist, Zeit und Umstände haben uns in gewissen Jahren schon so fest gebildet, daß auch die beste Lebensphilosophie nichts daran zu ändern vermag. Was Ihnen Rostflecken zu nennen beliebt, nannten die würdigsten Männer durch alle Zeitalter: edle Menschheit; wenigstens bey unserm Geschlecht.«
»Männer! unwürdige Ehemänner!« fing er an zu antworten, als sie schon aufgestanden war, zu ihrer Mutter zu gehen, indeß Minister und Fürst herbey eilten und um Vergebung baten.
[275] Das Spiel dauerte bis zur Tafel. Hildegard behielt immer gleiche Gegenwart des Geistes, verlor zuweilen mit Fleiß, und konnte doch nicht umhin, eine starke Summe zu gewinnen, wenn sie nicht das Spiel zur Posse machen wollte. Dann sprach sie mit ihren Freyern vorüberschlüpfend, und sagte jedem etwas Scherzhaftes. Bey der Tafel war sie ernsthaft und fröhlich, wie es das Gespräch mit sich brachte. Inzwischen schien bis jetzt Wallersheim einigermaaßen begünstigt.
Den Sonntag, Morgens, führte Lockmann dasDixit von Majo auf, welches verdienten Beyfall erhielt. Damms herrliche Baßstimme, und das Solo für die tiefen Töne, in meisterhafter Melodie, ward besonders bewundert.
Im Konzert ergötzten die Finalen von Cimarosa höchlich, und Madam Ewald glänzte in der schönen Arie der Wittwe Alfonsina. Aber Alle verlangten noch Hildegards Zauberkehle zu hören; wozu sie sich jedoch nicht erbitten ließ.
Der Prinz bemühete sich, mit Hildegarden allein, wenigstens nur in ein Gespräch, zu kommen; es glückte ihm aber nicht, weil sie alle Gelegenheiten dazu klug und fein vermied.
Solchen Widerstand hatte er, bey seiner wirklich schönen Gestalt und seinem verführerischen Wesen, noch nicht gefunden. Sein Vorsatz war, auf kurze Zeit nach Spaa zu reisen, mit einem unwichtigen Auftrag für Brüssel. Aus Hofnung, vielleicht noch seine Absicht zu erreichen, gab er jenen auf, und schickte seinen Begleiter ab, diesen auszurichten.
Der Minister, ein erfahrner Weltmann, schätzteHildegarden hoch, wie sie es verdiente, und wünschte sich zwar herzlich eine solche Schwiegertochter, erkannte aber ziemlich unpartheyisch das Unharmonische [276] zwischen ihr und seinem Sohn, bezeigte gar keinen Eifer für die Verbindung, und reiste wieder ab zu seinen Geschäften.
Lockmann fuhr fort, seinen Tag nicht zu versäumen, und kam zu der gewöhnlichen Zeit mit zwey neuen Opern. Er traf gerade den Herrn von Wallersheim bey Hildegarden, mit Mutter und Bruder, im Musiksaal. »Sie kommen eben recht, Herr Kapellmeister,« redete Hildegard ihn, zwar freundlich aber mit einem gewissen gebieterischen Wesen, an; »Herr von Wallersheim hat die Musik von Sterzer zu Noverre'ns Ballet Les Horaces et les Curiaces aus Wien erhalten, und ist so gütig gewesen, sie mir zu bringen. Sie werden Sich mit uns darüber freuen.«
»Gewiß, erwiederte er; ich selbst besitze von dem klassischen Meister für dieses Fach nur Adèle de Ponthieu.« Er nahm die Partitur, setzte sich damit aus Klavier, las sie nebst der Beschreibung geschwind durch, und spielte dabey einige Stellen. Indessen unterhielten sich die Andern in den Zimmern vor dem Saal gegen die Straße zu.
Als Lockmann fertig war, spielte er sie mit einigen Griffen wieder herbey, und fing an über das Ballet zu reden.
»Ein Ballet, sagte er, ist die Darstellung einer Begebenheit durch Mienen und Geberden, Tanz, und Gruppirungen für das Auge: gleichsam eine Mahlerey in lebendiger Folge. Man muß also Begebenheiten dazu aussuchen, an denen das Wesentliche und Interessanteste gerade den Sinn des Auges trift.«
»Die Musik drückt die Gefühle dabey aus, und giebt das Maaß zu den Bewegungen. Je mehr der Körper dabey handelt, und je weniger die Sprache dabey nöthig ist: desto besser die Begebenheit. Große Massen; Ferne, wo man glauben kann, daß man die Worte nicht mehr vernehme; Krieg und Streit in Wirklichkeit; Liebesscenen, [277] wo Hand und Arm, Fuß und Auge hauptsächlich im Spiel sind: Landschaften; Sturm und Wetter; alle Jahrszeiten in ihrem Lebendigen; Meer, und Ströme und Wälder; Ernten, Jagd, Weinlese, Fischfang, Vögelfang, Hochzeiten; Wirthshäuser, Lager, Festungen, Seehäfen; kurz, Alles, was dem Auge Genuß giebt, wobey unter den Menschen Instrumentenspiel gebraucht wird, bey Festen und Schlachten, ist dazu vortreflich.«
»Diese Bemerkungen als richtig vorausgesetzt: so gehört wohl die Begebenheit zu diesem Ballet unter Nummer Eins in der ganzen Geschichte, für theatralischen Tanz. Sie liegt ganz gediegen da, und Noverre brauchte wenig künstliche Form hinzu zu bringen.«
»Drey junge Männer von beyden Seiten; eine reizende Jungfrau der Preis auf jeder; zwey Völker, die, weit über diesen Preis, ihre Herrschaft für beständig aufs Spiel setzen; zwey Armeen; zwey Könige; die pittoreske Römische Gegend; und, zum recht Dramatischen, die eine Jungfrau Schwester des Siegers, und Geliebte des einen Erlegten: nie war eine Begebenheit von größerm Interesse.«
»Sterzers Musik ist ihm eigen. Er hat wenig Glänzendes in der Melodie, aber ergreifenden Rhythmus, welcher hier das Wesentliche ist, und passende Harmonie.«
»Sonderbar ist es, daß er das herrliche Instrument für den Krieg, die wilde Klarinette, nicht gebraucht hat. Gewiß ein wahrer Mangel. Er braucht meistens Trompeten, Hörner, Flöten, Hoboen, Fagotten und Pauken, nebst den Geigen.«
»Der erste Akt
ist bloß Vorbereitung. Anfangs tritt Kamilla auf, Schwester der Horazier, voll zärtlicher Liebe für den ältern der Kuriazier, dem sie [278] eine Schärpe gestickt hat für den Kampf, und der selbst erscheint. Ihre Lage ist verzweifelt.«
»Die Trompeten erschallen; er entfernt sich.«
»Die Horazier nehmen darauf von ihr Abschied. Der alte Horazius kommt noch dazu; auch Proculus, und Fulvia, seine Tochter, welche der Preis des Siegers, des ältern Horaziers, seyn soll.«
»Kamilla fällt zu Ende vom Kampf der Leidenschaften in Ohnmacht.«
»Der zweyte Akt
ist das Wesentliche und Vortreflichste vom Ganzen. Das Ballet zeigt sich dabey in seiner höchsten Pracht: Feld, Armeen, Könige, Opfer auf Altären, feyerlicher Schwur, alles auf den Grenzen von Alba und Rom.«
»Kriegerische, heroische Musik. Die Armeen strecken die Waffen, und fallen auf die Knie. Darauf geben die Trompeten das Zeichen zum Angriff.«
»Die Luft erschallt von den Streichen.«
»Der Kampf ist zweifelhaft, und der Sieg lenkt sich bald auf die eine, bald auf die andre Seite.«
»Dieß ist alles nach der Geschichte vortreflich ausgeführt; die Musik dazu voll Genie, äußerst einfach, meistens im Einklang, von heftigem Rhythmus. Die Geigen machen den Schritt mit dem Baß in Oktaven; die Hoboen zeigen die Streiche an, und, wenn der Kampf recht lebhaft wird, die Trompeten mit den Hörnern. Die Trompeten schmettern zuerst mit den Hörnern in Oktaven in C moll; dann in C dur.«
»Wie der Horazier die zwey letzten erlegt, ist voll Darstellung in der Musik. Beym Schmettern der Trompeten, und dem Donnerhall [279] der Pauken ist das Siegsgeschrey bald auf der einen, bald auf der andern Seite.«
»Dritter Akt.«
»Der Marsch auf das Kapitol zum Triumph, und Tanz der Ritter dazwischen, vortreflich; die Chaconne mit abwechselnden Scenen ein Meisterstück; so wie die Ermordung der Kamilla eben dazwischen. Ein großes herrliches Ganze in der Musik.«
»Vierter Akt.«
»Das Gefängniß und Fulvia.«
»Ein wenig geziert ist es von Noverre'n, daß Fulvia dem Horaz den Dolch reicht, sie zu erstechen; und daß sie, als er nicht will, in Ohnmacht fällt. Doch schön ist es, wie sie daraus wieder erwacht, und in seinen Geberden den Inhalt der Sentenz liest.«
»Fünfter Akt.«
»Schmaus, Hochzeit und Ball; recht für ein Ballet, voll reizender Sachen.«
Lockmann und Hohenthal hatten auf dem Klavier und mit der Geige alles gespielt, was sich davon auf diesen beyden Instrumenten vortragen ließ.Wallersheim pries die Fertigkeit beyder, besonders aber Lockmanns, in jeder Rücksicht.
Sie gingen den zweyten Akt noch einmal durch; und die heroische Erhabenheit ergriff sie gewaltig.
Man ließ alsdann die Musik, und die Mutter fing das Gespräch an.
»Die Ballete gefallen so leicht, sagte sie gerührt, weil sie jeden in die Feste seines Lebens versetzen; und dann, weil sie, gleich der Mahlerey, eine allgemeine Sprache sind. Ja, sie übertreffen die Mahlerey noch, weil sie die Natur selbst scheinen.«
[280] Wallersheim fuhr fort: »In der Tanzkunst behaupten die Franzosen den ersten Rang. Sie haben es darin bis zu einer Vollkommenheit gebracht, von der man in andern Ländern kaum eine Idee hat. Ich glaube, daß man in Paris die vorzüglichsten Stücke vonCorneille, Racine und Moliere durch bloße Pantomime aufführen könnte.«
Feyerabend hatte sich, als er Hohenthals Geige hörte, auch herbey gemacht, und mit großem Vergnügen das ganze Ballet angehört. Er versetzte: »Man sollte Pantomime und Tanz wohl unterscheiden; es sind zwey verschiedne Künste.«
Lockmann stand ihm bey, und fügte hinzu: »Gewiß sind die Chaconnen und Passecaillen in den tragischen Handlungen oft erzwungen.«
Hildegard trat bescheiden dazwischen, und sagte: »Die Ballete sind wahrscheinlich aus den Maskenbällen entstanden. Der eigentliche Tanz blieb bey diesen immer die Hauptsache; nur schlich sich eine vermummte Gesellschaft von acht, zwölf, sechzehn und mehr Personen ein, und stellte eine Begebenheit aus der Mythologie, Geschichte, oder der neuern Fabel dar. Und so ist in den Balleten der Tanz noch immer mehr oder weniger die Hauptsache.«
Feyerabend ließ sich nicht unterbrechen, und sprach ferner fort, so wie er angefangen hatte.
»Pantomime begreift allen Ausdruck des Innern, und Mahlerey oder Bezeichnung der äußern Gegen stände durch Miene und Geberde des Gesichts, überhaupt durch Bewegung des Körpers und seiner Glieder. Sie ist eine Kunst für das ganze menschliche Leben, und steht zunächst an der Sprache. Ob sie gleich bey den verschiednen Nazionen des Erdbodens manches Willkürliche hat, so [281] behält sie doch immer mehr Natürliches, als die Sprache, und ist deren getreueste Auslegerin, ohne welche man oft nicht wüßte, was und in welchem Grade von Stärke jene etwas sagt. Sie bestimmt Rede und Gesang; und giebt beyden das sichtbare Leben.«
»Der eigentliche Tanz ist der Ausbruch üppiger Stärke, Gesundheit und Freude, die sich nicht mehr verbergen kann, in gemeßnen Schritten, Sprüngen der Füße und Beine, Bewegungen der Hände und des übrigen Körpers, nach den Melodien von Instrumenten, oder Stimmen, oder nach dem bloßen Takt einer Handtrommel.«
Wallersheim erwiederte: »Mich dünkt, Sie schränken den Tanz zu sehr nach den bey uns eingeführten gesellschaftlichen Tänzen ein. Warum soll man mit dem Tanze nicht auch etwas nachahmen können? Ein Holzhacker, zum Beyspiel, der nach dem Takt einen Baum umhaut, ist schon ein Tänzer; das ist nicht bloß Pantomime.«
Es erfolgte eine kurze Stille. Lockmann nahm darauf das Wort, und sagte: »Tanz ist Nachahmung einer Handlung, die man mit dem Körper verrichtet, in gemeßner Bewegung, oder in Bewegung, nach dem Takt der Musik; kurz, Mimik nach Musik.«
»Der Marsch ist der einfachste unter allen Tänzen.«
»Menuet ist gleichsam ein zärtlicher Spaziergang zweyer Personen um einander, in gemeßnen Schritten; kurzer Inbegrif einer Liebesgeschichte.«
»Der Deutsche Tanz ist ein freudiges Wälzen auf und ab.«
»In den Contretänzen wird beydes von einer Gesellschaft vermischt, und mit Jubelsprüngen vermehrt.«
»Bey andern Nazionaltänzen geschieht dieß gleichfalls, komisch oder ernsthaft, kriegerisch oder demüthig, bittend und schmeichelnd, nach dem Charakter des Volks.«
[282] »In den Balleten will man zuweilen Handlungen nachahmen, wo das wenigste durch den Körper, und das meiste mit dem Verstande, durch Beyhülfe der Sprache, verrichtet wird; aber alles, was nicht in musikalische Bewegung gebracht werden kann, taugt wenig für den Tanz.«
»Schritte und Sprünge, mein lieber Feyerabend, machen jedoch den Tanz nicht allein aus. Wir finden bey den Griechen Beschreibungen von Tänzen, in welchen wollüstige Jonierinnen mit einander wetteiferten, wo Fuß und Hand gar nicht wesentlich ins Spiel kamen.«
Er sagte das letzte mit einer Wendung zu Feyerabenden, daß die Andern es kaum verstanden, und die Mutter, die am entferntesten war, es gar nicht hörte.
»Nur muß alles nach dem Takt und nach Noten gehen; dieß ist das Wesentliche.«
»Der Tonkünstler muß die Arten der Bewegung, und die Leidenschaften sehr wohl kennen, Gefühl genug in seinem Herzen, und Schwung der Phantasie haben, um dazu vortrefliche Musik voll Rhythmus und Melodie hervorzubringen.«
»Unsre Meister hudeln sie oft hin, als das Leichteste; und bilden sich albern genug ein, es sey schon hinlänglich, wenn nur das Metrum beobachtet werde. Allerdings giebt es auch Horaze, Sapphoen und Pindare für die Tanzmusik; aber sie sind so selten, wie jene für die lyrische Poesie.«
Die Mutter antwortete: »Was Sie da sagen, gefällt mir ungemein; gewiß sollte der Tonkünstler in Balleten seine Tänzer und Tänzerinnen studiren, wie die Sänger und Sängerinnen in der Oper. Noverre, den ich in Stuttgard oft gesprochen habe, war auch ganz[283] der Meinung, daß Tänzer und Tänzerinnen die Musik, und nicht ihre erlernten Schritte und Sprünge, tanzen sollten.«
»Ich war gerade zugegen, als Vestris eine Chaconne tanzte, welche Jomelli für ihn geschrieben hatte. Sie wird noch lange unübertroffen bleiben, so erhaben ist sie in ihrem Rhythmus, und so reizend in ihrer Melodie; mir gleichsam noch ein lebendiges Bild von dem unvergleichlichen Tänzer.«
»Noverre war Genie für seine Kunst, und ist auch der Mann, der sie auf ihren Gipfel gebracht hat. Er hielt die edle Pantomime für die Seele des Ballets; nicht die Capriolen, acht und zehnfache Entrechats, und künstliche Schritte. Seinen Tänzern und Tänzerinnen empfahl er nichts so sehr, als sich ihren eignen Empfindungen zu überlassen, damit sie den wahren Ausdruck träfen; auch verbot er ihnen streng alles Nachäffen. Kein Balletmeister hat je von dem Charakter, den Talenten, den Schönheiten seiner Personen so viel Vortheil zu ziehen, und sie so ins rechte Licht zu stellen gewußt.«
»Er war zugleich vortreflicher Dichter und Mahler. In seinen guten Balleten herrscht Einheit der Handlung, schön durch das Ganze vertheilt, an die sich das Interesse hängt. Dadurch entstand, wie von selbst, eine Reihe von Gemählden in lebendiger Folge, in reizenden Gruppirungen. Er hatte deshalb die Meisterstücke der bildenden Künste wohl studirt, trieb die Magie der nächtlichen Beleuchtung sehr weit, und schuf sich, zur Vollkommenheit der Täuschung, ein Ideal von Theaterperspektiv.«
»Ueberall war er zugegen; bey dem Zeichner der Kleidungen: keine Tänzerin durfte sich nach ihrer bloßen Laune kleiden; bey dem Theatermahler: die Hintergründe mußten zu seinen Drapperien passen, die Figuren darauf in gehöriger Proporzion hervorgehn;[284] bey dem Maschinisten: um die Scenen leicht und schnell zu verändern; (er rühmte sehr die erstaunliche Einfachheit und Fertigkeit der Engländer in der Maschinerie); besonders bey dem Tonkünstler: er selbst schrieb Dellern zuweilen Melodien und Instrumente vor. Der Tonkünstler war sein Hauptmann; mit diesem arbeitete er ganz gemeinschaftlich.«
»Es ist eine Lust,« sagte Lockmann sehr vergnügt und heiter, »sich mit Personen von so viel Geschmack und Kenntnissen über solche Gegenstände zu unterreden.«
»Die Hauptregel bleibt immer, daß ein Künstler nichts wagen soll, was er mit seiner Kunst entweder gar nicht, oder gegen andre Künste nur langweilig und schwerfällig, leisten kann.«
»Pantomime allein ist eigentlich für Personen, die sich der Worte nicht bedienen dürfen, aus Furcht von Feinden gehört oder verstanden zu werden; oder die sich der Sprache nicht bedienen können, weil die einen Peruanisch und die andern Kastilianisch reden: oder überhaupt, weil sich das, was sie empfinden, fühlen, denken und bedürfen, mit Worten entweder gar nicht, oder doch nur schwach, sagen läßt.«
»Zwischen solchen wird ein Ballet, ja schon eine Scene, immer höchst reizend seyn, und alles andre dagegen matt und schwach werden, wenn die Schauspieler es in der Mimik bis zur Vollkommenheit und Grazie gebracht haben.«
»Pylades und Bathyll, die freygelaßnen Griechen, trieben sie auch in jenen Zeiten, wo es oft gefährlich war, sich mit Worten auszudrücken, bis zu ihrem weitesten Umfang. Sie gebrauchten wahrscheinlich manche willkürliche Mienen, Geberden, Bewegungen des Körpers, die in Syrakus unter denDionysen, und in Rom während der bürgerlichen Kriege, ihren leicht verständlichen Sinn [285] erhalten hatten. Ihre Vorstellungen waren unter dem Augustus ein angenehmer Schatten freyer Gesinnungen. Da die Komödien aufhörten, so ward dieser Zeitvertreib doppelt willkommen.«
»Die Römer wurden in dem ersten, zweyten und dritten Jahrhundert unsrer Zeitrechnung so davon entzückt und bezaubert, daß jedes andre Schauspiel seinen Reiz für sie verlor. Und noch jetzt scheinen in dem südlichen pantomimischen Italien einige willkürliche Zeichen davon übrig zu seyn.«
»Aus Florenz kam in den neuern Zeiten das Ballet mit den Mediceischen Prinzessinnen nach Frankreich. Quinault verwebte es hernach als einen wesentlichen Theil in das Wunderbare seiner Opern. Rameau's beredte und leidenschaftliche Musik rückte es, nach Noverre'ns eignem Geständniß, seiner Vollkommenheit näher; und der letztre scheint es, mit den außerordentlichen Künstlern und KünstlerinnenDupré, den Vestris, Dumoulin, Lany, den Demoisellen Lany und Sallé zur höchsten Vollendung gebracht zu haben.«
»Aber man kann zweifeln, ob es sich mit den Worten der Poesie in den Opern je zu einem reinen gediegnen Gusse werde bringen lassen, einzelne Scenen ausgenommen.«
»In unsern neuern Balleten herrschen die einmal angenommenen bestimmt ausgebildeten Formen von Chaconnen, Passecaillen, und so weiter; und die Pantomime dient diesen nur zur Abwechselung und Veränderung.«
Wallersheim erwiederte: »Diese Verzierungen oder Ausschmückungen mögen wohl nothwendig seyn, da Sie die Pantomime für sich allein so sehr einschränken. Das Kunstgefühl der Zuschauer, die sich mit Fleiß täuschen lassen wollen, sollte übrigens gern ergänzen, was noch fehlte.«
[286] »Der Tänzer will nun einmal Geschicklichkeit haben, sein Inneres durch bloße Mienen, Geberden und Bewegungen des Körpers auszudrücken. Wenn er es treflich kann, so entzückt er, und reißt zur Bewunderung hin.«
Hohenthal fügte noch hinzu: »Gewiß machen die Tänzer manches, was wenig oder gar nichts sagt, und doch zur höchsten Kunst gerechnet wird; ihre Sprünge und schnellen Bewegungen der Füße und Beine. Dazu paßt denn das bloß Künstliche der Musik von Virtuosen auf Instrumenten vortreflich: Schwärmer, die bloß die höchste Gewandtheit ihrer Kräfte zeigen, ohne einen andern Zweck zu haben. Man lächelt darüber, und bewundert, was der Mensch thut, um sich von andern zu unterscheiden und zu gefallen; und was für eine Menge von Kräften wir zu unserm Spielwerk übrig haben, ohne sie zu unsern Bedürfnissen zu brauchen.«
Feyerabend beschrieb nun einige Tänze der Griechen nach dem Lucian, und der Sammlung des Meursius. Dann zeigte er, wie treflich bey ihnen auch die Tanzkunst in Staat, Religion, Erziehung und häusliche Glückseligkeit verwebt war, und wie sie den Körper zu allen Arten von Bewegung bildete; wie ärmlich wir dagegen mit unsern ewigen Menuetten, Walzern und Contretänzen erscheinen; daß der Tanz bey uns nur eine öffentliche Lustbarkeit ist, und nie die geheime Freude, die höchste Süßigkeit des Lebens, in einem vertrauten jugendlichen Zirkel wird; u.s.f.
Hohenthal suchte nun, auf Verlangen der Mutter, die Chaconne von Jomelli hervor; und man führte sie zu guter letzt auf. Wallersheim hätte gern den Versuch gemacht, seine Füße, Beine und Arme nach ihr in Bewegung zu setzen; aber er scheute sich vor der großen Kennerin, die in ihrer Jugend, so wie jetzt ihre Tochter, [287] eine der besten Tänzerinnen gewesen war. Und so gingen sie, als die Dämmerung einsank, höchlich erfreut aus einander.
Den folgenden Nachmittag traf Lockmann Hildegarden allein auf ihrem Zimmer, und wagte jetzt bey Kuß und Umarmung, was er schon sonst vergebens versucht hatte, schneller und behender und ungestüm: dasselbe was der Prinz sich erfrechte. Er war glücklich, jedoch nur wie der Blitz verfliegt. Sie zürnte heftig, schlug ihm aber kein Bein unter, und stieß ihn nicht mit dem Elbogen auf die Brust, sondern drängte ihm nur den verwegenen gierigen Griff mit beyden Händen weg, und fuhr oder zog sich zurück, so sehr sie konnte. – »O Himmel! Engel, Angebetete, einziges Kleinod auf Erden, Unvergleichliche, Unaussprechliche!« So rief er, und fiel, ganz außer sich und wie von Sinnen, vor ihr nieder.
»Lockmann, kommen Sie zu Sich!« Mit diesen Worten faßte sie ihn an den Schultern, ihn von sich zu stoßen, indeß er, mit dem Gesicht in ihrem Schooß, ihre Beine fest umschlungen hielt. »Es kommt Jemand, Unsinniger! mein Bruder!« Diese Worte rissen ihn plötzlich in die Höhe; er fuhr mit dem Kopfe zum Fenster hinaus, um die Gluth in seinem Gesicht zu verbergen. Sie zog ihn schnell zurück, damit ihn niemand sähe; denn die Ankunft des Bruders war nur Erfindung.
»Noch einmal so etwas, Lockmann, und wir sind auf immer geschieden!« sagte sie ihm auf das allerstrengste; aus ihren Blicken aber sprach eine gewisse, nicht ganz so strenge Gluth, welche sie nicht völlig zu unterdrücken vermochte.
»Fort! fort!« sagte sie, nahm ihn beym Arm, nachdem sie einigemal, jedes für sich, die Kreuz und die Quer auf und ab gegangen [288] waren, und führte ihn an das Klavier zu seinen Opern, die sie den Morgen für sich schon durchgesehen hatte.
Ihre Blicke auf einander am Klavier? O, wenn es dafür eine Mahlerey gäbe!
»Nun, angefangen!« sagte sie voll Zorn. Er stammelte:
»Ifigenia in Tauride di Majo. Ifigenia in Tauride di Jomelli.«
»Text von Verazi.«
Sie ließ ihn auf keine Weise von den auf dem Pulte liegenden Werken weg sehn, indeß die Mutter wie ein furchtbarer Dämon in den Saal trat.
Beyde erschraken, und ihre Wangen glühten von einem tiefern Roth. Die Mutter hatte auf dem Gange zu ihrem Zimmer Lockmannen an Hildegards Fenster bemerkt, und war unruhig geworden über ihre Sorglosigkeit.
Sie schwieg, und ging mit einem sehr auffallend mißtrauischen Blick langsam nach dem Sopha.Lockmann stand auf, und verneigte sich etwas ungeschickt; nahm aber inzwischen doch sein ganzes Bewußtseyn zusammen, und fuhr nun mit Gegenwart des Geistes fort, als ob ihre Ankunft ihn unterbrochen hätte:
»Jomelli, der sie zu Neapel im Jahre 1771 nach Majo schrieb, hat Verschiednes weggelassen und verändert, besonders in der Rolle des Orestes.«
Hildegard hörte wenig von dem, was er vorbrachte, und sagte sittsam und zärtlich zu ihrer Mutter: »Wir haben eben angefangen, die Iphigenien vonMajo und Jomelli durchzugehn.«
Die Mutter schwieg noch immer, nahm einen Stuhl, und setzte sich näher.
[289] Lockmann dachte: gesehen hat sie doch nichts! Er faßte Muth, blätterte in der Partitur, und fing von neuem an.
»Es ist unbegreiflich, wie man nach dem Meisterstücke des Euripides so etwas Mittelmäßiges machen konnte! Der Kaffern-König Merodates, und die Tomiris müssen erbärmlich den Knoten auflösen und die Griechen wegbringen. Einige schöne Arien und die Situazionen ausgenommen, herrscht in dieser Oper gar nichts von dem Gefühl, das im Euripides so aus der innersten Natur gehohlt ist und überall entzückt. Schade, daß zwey der größten Tonkünstler ihr Genie daran verschwendet haben!«
»Das Wahre der Fabel besteht in Folgendem: Orestes muß, dem Verhängnisse der Götter zufolge, nach manchen Trübsalen noch die Todesangst wegen des Muttermordes ausstehen; seine jüngste herrliche Schwester und sein himmlischer Freund retten ihn endlich, und machen ihn wieder glücklich. Das Ganze wird durch Religion reizend verschleyert und verziert.«
»Der Opernmacher Verazi hat gar keine Ahndung davon gehabt. Kindisch verändert er die Fabel und läßt den Orestes wider Willen seine Mutter Klytämnestra ermorden, weil sie unversehens dazwischen läuft, als er den Aigisth ersticht.«
»Aber die Musik selbst? – Es ist ein wahrer Ohren-und Seelenschmaus, den alten großen Jomelli am Ende seiner Laufbahn den Zauber des himmlischen Genius Majo bekämpfen zu sehen! Wahrscheinlich wählte er Verazi's im Grunde armselige Oper deßwegen, weil er sich mit diesem bewunderten Jüngling messen wollte. Neapel hat gewissermaaßen zum Vortheil des letztern entschieden, und der Alte, wie man sagt, sich darüber zu Tode gegrämt. Heftige Eifersucht war ja immer bey großen Talenten. – Zeit und Umstände [290] können auf das Urtheil Einfluß gehabt haben; die Nachwelt soll unpartheyisch richten.«
»Ich selbst kann nicht umhin, so sehr ich auch Jomelli'n bewundre, Majo'n, was diese Oper betrift, meine Stimme zu geben; ob ich gleich bekennen muß, daß Jomelli das Wesentliche des Stücks richtiger gefaßt, und ohne Vergleich vortreflicher dargestellt hat. Das Wesentliche ist ohne Zweifel das Leiden und die Raserey des Orestes über den Muttermord. Jomelli hat eben hier den Text verändert und Neues hinzu gefügt. Seine Musik hat den eigentlichen Charakter, den der edle Orest haben soll; sie ist voll des tiefsten Gefühls und der höchsten Schönheit. Man kann nichts Göttlicheres hören, als die vierte Scene des ersten Akts: Per pietà, deh nascondimi almeno di quel seno l'acerba ferita! deh per pietà! non mi dir, che ti tolse la vita, quel ingrato chi l'ebbe da te 34.«
»Dieß hat Majo gar nicht; und im Folgenden:Grazie ai Numi! parti; auch in der Arie: Tardi rimorsi atroci, besonders bey Odo il suon delle querule voci, wird er himmelweit übertroffen. Majo hat hier den Charakter des Orestes verfehlt; Pomp giebt er, und prächtige Musik, aber wenig treffendes Gefühl.«
»Und so ganz im edlen Charakter voll tiefen Gefühls nimmt Orestes bey Jomelli in der Arie der achten Scene des zweyten Akts vom Pylades Abschied: Prendi l'estremo addio, non mi lasciar cosi! Ah quante volte, oh Dio, misero in questo dì morir degg'io 35!«
[291] »Majo hat diese Arie wieder nicht; sie ist unendlich mehr werth, als bey ihm die Trennung in der zehnten Scene des ersten Akts im begleiteten Recitativ nebst dem Duett; welches Jomelli mit gutem Verstande weggelassen hat. Die Poesie ist Empfindeley, und wird, auch noch so schön declamirt und gesungen, im Largo der Musik unerträglicher.«
»Dieß ist aber auch das Beste im Jomelli.Majo vergütet und überwiegt es mit andern unnachahmlichen Schönheiten.«
»So wie Majo den Charakter des Orestes verfehlt hat, so Jomelli den Charakter der Iphigenia, dem es bey ihm noch überdieß an Einheit mangelt, und der für jede Scene besonders gemacht ist.«
»Die Scene, worin Jomelli hauptsächlich mit dem Jüngling wetteifert, ist die neunte oder letzte des ersten Akts, wo der Dichter den Schmerz der Iphigenia, – nachdem ihr Orestes, noch unbekannt, gesagt hat, daß er der Mörder der Klytämnestra sey – und zugleich ihre Begierde, den Mord zu rächen, so übertrieben schildert.«
»Diese Scene gehört unter das Vortreflichste, was Majo im Ausdruck tragischer und schmerzlicher Gefühle geliefert hat; sie zeigt, wie viel Italien und die Musik an diesem jungen Manne für die Zukunft verloren. Der Charakter der Iphigenia ist so rein, so voll Gefühl und Unschuld in Melodie und Harmonie, und dabey so voll neuer und hoher Schönheit, daß sie entzücken wird, so lange Musik dauert. Man merkt dabey sogar das Uebertriebne des Dichters nicht mehr, und denkt nur an die Situazion.«
»Das Recitativ Chi resister potrìa, ist auch beyJomelli vortreflich; aber ohne Vergleich größer, natürlicher und schöner bey Majo. Der Text selbst verdient hier Lob. Im Majo ist diese Scene die achte des zweyten Aufzugs.«
[292] »Doch ist bey Jomelli schon etwas Kleinliches, Empfindendes in der Begleitung zu der Stelle: Sospendi, o madre, i rimproveri tuoi, le tue querele. Wie schön bittet sie dagegen bey Majo! Jomelli liebt zuweilen die Mahlerey einzelner Stellen und Worte; diese zerstört aber meistens den Ausdruck des Ganzen, und fällt ins Kleinliche. Das dolente, sbigottita, pallida, lacera, insanguinata haben beyde vortreflich ausgedrückt; doch Majo natürlicher, schöner, und mit mehr Mannigfaltigkeit.«
»Zu Anfange der Arie: Ombra cara, che intorno t'aggiri, frena il pianto, sospendi i lamenti 36, hatMajo's Iphigenia den wahren Ausdruck einer bis zur Schwärmerey tief gerührten und ergriffnen Seele; die Töne der Melodie sind eigentlicher Accent Griechischer Grazie.«
»Jomelli's vier lange Takte auf O – – – – mbra, und zwey auf ca – – ra, die ersten durchaus in demselben Tone, sind übertrieben, bloß theatralisch, und außer der Natur: sie dienen nur dazu, daß eine schöne starke Kehle und Brust sich hervorthun kann; und so ist die Mahlerey auf dem intorno hier gewiß kleinlich, und fast eben so kleinlich der Ausdruck aufsospiri und flebili accenti. In der Mitte läßt Jomelli das Wort Ombra, gar acht Takte lang auf zwey Tönen halten. Del tuo scempio hat er nicht sehr glücklich im drey Achteltakt gesetzt. Majo geht viel vortreflicher in der Einheit der Empfindung, wie in einem Strome, fort; und was Schönheit und Neuheit der Musik betrift, so findet gar keine Vergleichung statt: Jomelli ist gegen ihn mager und armselig.«
»Majo bleibt diesem Charakter der Iphigenia immer treu. Welche schöne Scene, wo Iphigenia sich mit dem Thoas vermählen und [293] hernach umbringen will, wenn Orestes dadurch fortgekommen ist! Accresca pietoso al viver tuo quei giorni il cielo, ch' a me scema il rigor d'averso fato! und welche bezaubernde Arie: Se il labbro si lagna, mi basta se dice, per me l'infelice la vita perdé! Jomelli hat dafür zu Ende des zweyten Akts eine lange Scene mit einem Duett angebracht, worin die augenblickliche Empfindung sehr langweilig bis zum Unsinn aus einander gedehnt ist.«
»In der fünften Scene des zweyten Akts hat Jomelli der Iphigenia eine Arie in den Mund gelegt, die im Charakter der Mamsel Arnould zu Paris wäre: so witzig und sinnreich ist Melodie und Begleitung; ein Meisterstück. Aber wie kann dieselbe Person kurz vorher O – mbra acht Takte lang halten? Die Arie ist: Ah non voler ch'io sueti, quel che mi piace ascondere.«
»Uebertroffen wird Jomelli von Majo, wie etwas Unbedeutendes von einem großen Meisterstücke heroischen Jubels, in der Arie, die Orestes singt, nachdem er alle Gefahr überstanden hat: Tornò la mia speranza nel seno a germogliar, vinto ha la mia constanza, io corro a trionfar 37! Mit einem so natürlich schönen Produkt und Gewächs läßt sich etwas bloß von der Kunst Zusammengereihtes gar nicht vergleichen.«
»Eben so vortreflich ist noch die letzte Scene des Ganzen, wo die Begleitung die Seele furchtbar lieblich umflicht, ganz eigen in Majo's Styl.«
»Jomelli hat noch einige kunstreiche schöne Nebenarten; Majo auch manches andere Schöne, als gleich die erste Arie der Iphigenia: De tuoi mali esultarei; wo Jomelli ihm schon nicht gleich kommt,[294] und bey esultarei in kleinliche Mahlerey verfällt, so wie die Läufe auf crudeltà nichts bedeuten. Majo macht, durch Veränderung des Takts, und sehr glücklich durch Einmischung des Recitativs, das Ganze mannigfaltig.«
»Nach der strengsten Kritik kann man Jomelli'n, was das Ganze betrift, nur bey Einer Hauptscene mehr Verstand zuschreiben. Uebrigens ist Majo's Komposizion weit reicher an natürlichen Schönheiten; und es gehört eben so viel Genie dazu, die Leiden der Iphigenia in Musik darzustellen, als die Qualen des Orest. Wenn die Rede von der Poesie wäre: so möcht' es streitiger seyn, wem der Preis gebühre.«
Hildegard wählte sich für das Konzert gleichMajo's Scene: Chi resister potrìa, die sie mit den Hörnern und mit voller Musik hören wollte.
Lockmann, als Orestes, wählte sich die Scene von Jomelli: Per pietà, deh nascondimi almeno di quel seno l'acerba ferita! und die Jubelarie: Tornò la mia speranza, von Majo.
Hildegard wollte ihren Bruder rufen; Lockmann ging aber geschwind noch die besten Scenen aus einer Ifigenia in Tauride von Traetta durch, welche er, außer denen von Jomelli und Majo, mitgebracht hatte. Er sagte dabey: »Die Poesie der ganzen Oper ist ebenfalls mittelmäßig, obgleich von Coltellini; die interessanten Situazionen imEuripides sind ausgelassen: weder Freundschaft, noch Erkennung, noch Gefahr rührend geschildert. Pylades erzählt, als es zum Tode gehen soll, ganz kalt, wer sie sind; und Iphigenia ersticht den Tyrannen, der sie dennoch morden will.«
»Zwey Scenen, beyde im zweyten Akt, sind unstreitig das Beste vom Ganzen. Die erste stellt Iphigeniens Situazion auch in der Poesie [295] vortreflich dar; sie fängt an: Ah, qual s'apre al mio cor tragica scena di spavento e d'orror; und wird von Hörnern, Flöten und Fagotten meisterhaft begleitet. Die Arie:
Che mai risolvere! che far poss'io!
mi struggo in lacrime, morir desio,
nè basta a uccidermi il mio dolor 38;
ist erhaben und klassisch; vortrefliche Musik durchaus, und zugleich edler Ausdruck. Traetta ist der Vater dieser Art Bravourarien, in denen eine schöne Stimme sich mit aller Pracht hervorthun kann, und die der Schmuck des Ganzen sind.«
»Die Quart ist bey der Frage auf: risolvere? in ihrem allereigentlichsten Ausdruck, Ungewißheit, gebraucht, und ergreift Ohr und Herz in der höchsten ursprünglichen Schönheit. Wie schwebt die Stimme hernach auf che far, che far poss'io hinunter!«
»Das wirklich Pathetische der Oper besteht in der vierten Scene dieses Akts, wo die Furien den schlafenden Orestes bestreichen.«
»Ihr Gesang und Chor ist schöne Musik, vortrefliche Melodie, von Hörnern und Hoboen begleitet. Es scheint, als ob Traetta mit Lessing geglaubt hätte, die Furien wären von den Griechen schön vorgestellt worden; seine Musik gleicht wirklich dem reizend furchtbaren Medusenkopf im Pallast Rondanini zu Rom.«
»Crude Larve! wird vom Orestes im Schlafe vortreflich ausgedrückt. Eben so das Vendetta der Furien. Der Fall aus dem Es und B dur des letzten Chors in D dur bey Nere figlie del Erebo, thut gewaltige Wirkung, und drückt recht die Stärke der Gerechtigkeit aus.«
[296] »Gewiß ist Strafe von Adel und Schönheit furchtbarer, als von Wuth.«
Hildegard hohlte nun ihren Bruder. Die Mutter hatte sich, da Lockmann die Hauptstellen so treffend bezaubernd vortrug, und so viel Gegenwart des Geistes zeigte, ziemlich wieder beruhigt.
Sie wiederholten das Schöne. Auch Hohenthal weidete sich an den neuen Schätzen, und begleitete seine Schwester bey der herrlichen Scene von Majo wie ein Meister. Man sprach noch, als es schon anfing dunkel zu werden, über den Charakter der drey großen Künstler der neuern Zeit in Italien. Lockmann beschloß: »Wenn Traetta es trift, so ist er der wahrste, und gleicht dem Tizian in seinem Kolorit. Schade nur, daß dieß selten geschieht, und er eine solche Menge Chocolatenarien gemacht hat!«
Der Prinz wußte nicht mehr, wie er angreifen sollte; Hildegard ließ sich nie anders sehen und von ihm sprechen, als in Gesellschaft. Er und der Graf von Törring waren eifersüchtig auf den Herrn von Wallersheim, mit dem sie doch nur scherzte, sich auf nichts Ernsthaftes einließ, und den sie nur aufstellte, um den Verdacht wegen Lockmanns zu entfernen. Wolfseck, der wenig mehr in Betrachtung kam, war wohl auch eifersüchtig auf denHerrn von Wallersheim; aber sein eigentlicher Grimm ging, wie anfangs, noch immer aufLockmannen, doch nur aus Instinkt, und ohne daß er etwas wußte. Wallersheim fing an zu wittern, und merkte an dem leeren Gehalt etwas von der Rolle, die er gern oder ungern spielte; wußte aber auch nichts, als was jedermann sah und hörte, welches nicht den entferntesten anständigen Grund geben konnte. Die gewöhnliche Eitelkeit auch nur zum Schein einigermaaßen begünstigter Liebhaber machte, daß er kaum eine Sylbe [297] davon bey sich selbst berührte. Seine Leidenschaft war außerdem bey weitem nicht so stark als die Leidenschaft des Prinzen und des Grafen. Der Prinz, der Feinste unter allen, verbarg die seinige mit außerordentlicher Klugheit. Nicht so der Graf, welcher den Herrn von Wallersheim wegen seiner Gaukeleyen um die Damen, die gewöhnlich nur Zeitvertreib zur Triebfeder hatten, schon bitter anzapfte, und ihn aus unwillkürlicher Besorgniß scheel ansah.
Die vortreflichen Scenen von Majo und Jomelli wurden im Konzert mit neuer Bewunderung gehört. Wallersheim stellte sich recht in seiner angenehmen Gestalt vor die unvergleichliche Iphigenia hin, und fing jeden Laut von ihr mit Entzücken auf. Graf von Törring und Wolfseck hörten von verschiedenen Seiten zu; aber die Eifersucht im Herzen, und zu wenig Kenntniß, besonders bey dem letztern, gestatteten ihnen keinen rechten Genuß. Der Prinz blieb als Kenner in gehöriger Ferne; er hatte sich mit der Frau von Hohenthal und dem Fürsten den besten Punkt erwählt, und sprach hernach auch am besten unter Allen über Musik und Vortrag.
Er meinte, auch der stärkste Ausdruck lasse sich mit der höchsten Schönheit der Melodie und Harmonie vereinigen, wie hier die zwey Neapolitaner zeigten; und die Musik wirke so weit mehr, als wenn man sie zum Schrey der Natur, oder zur bloß erhöhten Declamazion der Worte, herunter setzen wolle. Die Worte, wiederhohlt und mit neuen Wendungen und Gefühlen in Melodie und Harmonie, nach der vonVinci an bis zur Vollkommenheit ausgebildeten Form, drängen um so viel stärker ein. Gluck sey zu streng auf einmal zurückgegangen. Seine lyrischen Schauspiele machten eine eigne Gattung zwischen Tragödie und Oper; diese Gattung könne [298] nur von wahrem Genie sowohl des Dichters als des Tonkünstlers bearbeitet werden, und das Mittelmäßige sey darin unerträglich. Die Kunst müsse sich auch nach den Bedürfnissen der Menschen richten. Man gehe nicht immer in die Schauspielhäuser, um Tumult und Aufruhr im Innern zu werden; das Ohr, dieser göttliche Sinn, verlange auch etwas zu seinem besondern Vergnügen. Gluck selbst habe in seiner Iphigenia in Tauris auch schon sehr viel nachgegeben.
»Keine himmlischere Wonne verlangt mein Herz und Ohr, gnädiges Fräulein, als Sie die Rolle dieser Iphigenia zum Entzücken und Erstaunen, selbst der Pariser, in jener Menschenwelt, unter der vollen, von dem Meister selbst geübten Gewalt der Begleitung, spielen zu sehen.«
Diese Apostrophe faßte sie recht, und durchfuhr ihr Innres. Wenn er etwas hätte ausrichten können, so wär' es auf diese Weise gewesen; doch sagte er dieß nicht aus Absicht.
Sie blickte ihn darauf minder streng als vorher an, und antwortete gefällig: »Prinz, Sie denken zu hoch von meinen geringen Fähigkeiten. Inzwischen freut es mich, den seltnen Kenner in Ihnen reden zu hören, und Nutzen aus Ihrem Unterricht zu schöpfen.«
Der Prinz baute gleich sehr viel auf diese günstigen Aeußerungen; sie waren kühle Tropfen der Erquickung. Doch betrug er sich gegen sie dabey mit der strengsten Sittsamkeit.
Lockmann aber fing an besorgt zu werden bey dem leidenschaftlichen Wesen, wovon er sie umringt sah. Ihm war, ob er gleich keine Frage darüber wagte, noch nicht aus dem Sinn, wie sie auf dem Ball mit dem Prinzen in das Seitenzimmer ging, und plötzlich, erbittert, allein daraus zurückkehrte; und mit welchem Gesicht der [299] Prinz hernach erschien. Auch Wallersheim erregte Besorgniß. Lockmann war freylich bis jetzt der Glückliche; aber ihm fehlte noch sehr viel, es ganz zu seyn. Vor der Zukunft hing seinen Blicken noch ein undurchdringlicher Flor. Die letzten Worte, die Hildegard dem Prinzen auf seine Apostrophe sagte, und ihre, wiewohl nur augenblickliche, Freundlichkeit dabey, thaten ihm weh wie Stiche.
Vom Herrn von Wolfseck befürchtete er zwar in Rücksicht ihrer wenig mehr; aber, noch an die Italienischen Sitten gewöhnt, war er besorgt, daß der Rohe ihm auflauern lassen möchte. Deßwegen trug er, wenn er des Abends oder des Nachts zu Reinhol den oder andern Bekannten ging, seinen Degen immer bey sich.
Er setzte sich vor, alles zu wagen und das Aeußerste zu thun, damit sie ihm nicht entrissen würde. Den Tag darauf nahm er die besten Scenen der vortreflichsten Oper mit sich, die er in Italien hatte aufführen hören; traf aber bey Hildegarden auf dem Musiksaal schon die Mutter, welche sich auch vorgesetzt hatte, die beyden gefährlichen jungen Leute weniger aus den Augen zu lassen.
Hildegard war eben beschäftigt, alles zusammen zu suchen, was sie von Gluck besaß, und batLockmannen, dessen wichtigste Werke mit ihr durchzugehn.
Sie fingen gleich an mit
Orfeo ed Euridice.
»Dieß, sagte Lockmann, ist der erste Versuch des großen Deutschen Künstlers, die neue Revoluzion in der Musik zu bewirken. Er wagte ihn zu Wien im Jahre 1764, in einem Alter von acht und vierzig Jahren, nach mancherley auf den Theatern von Italien, London und Deutschland gemachten Erfahrungen von dem, was eigentlich [300] dauernde Wirkung hervorbringt.Calsabigi, ein guter Italiänischer Dichter, ward leicht von seinen Gründen eingenommen, und ließ sich bereden, ihm hierin behülflich zu seyn. Dieser entwarf unter seinem Rath und Beystand das Gedicht, und beyde arbeiteten dann mit einander gemeinschaftlich.«
»Die Italiänische Oper war bey dem ausschweifenden Luxus einzelner Sänger und Sängerinnen im Ganzen meistens doch nur ein armseliges Wesen, und glich so ziemlich dem neuern Römischen Staate, worin nur wenige päpstliche Familien reich sind; paßte so auch gut für Rom und das übrige Italien. Es läßt sich nicht läugnen, daß drey Akte lang weiter nichts als trocknes Recitativ und Arien nach einander, mögen einige auch noch so schön seyn, Zuhörern von Kopf und Herzen, welche in den Logen nicht die meiste Zeit spielen, Gefrornes essen und Chocolate trinken, endlich langweilig werden müssen. Auch ward man schon vorher gezwungen, durch öftere und stärkere Begleitung bey Recitativen, und durch Ballete in den Zwischenakten, dem Schauspiel Abwechselung zu geben.«
»Noch weit republikanischer wollt' es Gluck machen: die Farinelli, die Caffarelli, die Gabrieli, die Todi sollten nicht mehr Pracht und Reichthum zeigen, als ihr Text verdiente; das Volk der Sänger nicht allein auch etwas bedeuten, sondern die große Masse der Harmonie in Chören behaupten; und die übrige Natur der Instrumente mit allen Schätzen des Luftreichs immer der menschlichen Stimme, dieser Despotin der musikalischen Schöpfung, gehörig zu Gebote stehen.«
»Die Fabel des Orfeo ist zwar ein reicher, aber kein tragischer und theatralischer Stoff. Das Ganze läßt sich dem Sinn des Auges [301] nicht wohl darstellen: es ist mehr episch, oder für die Phantasie, und die Katastrophe beruht auf der Zerstreuung eines Poeten und Verliebten. Vielleicht wäre es treflich für eine rührende komische Operette, wie ein Geistlicher im Schwabenlande den Apfelbiß unsrer ersten Eltern behandelt hat. Aber es scheint, daß Orpheus, wie bey den Griechen, auch bey den neuern Nazionen in der Kunst voran gehen solle: Polizian fing mit ihm das neuere Schauspiel an; und Rinuccini hundert Jahr nachher die Oper.«
»Das Wesentliche der Fabel ist Liebe, Gewalt der Musik, selbst über die Götter des Tartarus, und doch Schwachheit der menschlichen Natur am Ende.«
»Calsabigi hat den Stoff einzeln gut behandelt, und nur in der Anlage, wenn man will, gefehlt. Da er tragisch seyn sollte, so durfte das Ganze nicht, gegen die Fabel selbst, glücklich ausgehn, und Orpheus die Euridice doch noch bekommen. Der Dichter richtete sich aber nach der neuern verzärtelten Natur, besonders der Italiäner, die nichts Tragisches mehr vertragen kann. Das Ganze ründet sich deßwegen auch nicht, zerfällt in vier Akte, und wird gleichsam viereckig.«
»Der erste Akt ist Leichenfeyer; und Erscheinung Amors, als Beystand. Der zweyte, Kampf und Sieg über die Unterwelt. Der dritte, Erliegung der Menschheit, und Verlust. Der vierte, Geschenk und Gnade.«
»Gluck ist in seiner neuern Musik wirklich Originalgenie; er arbeitet beständig auf den Ausdruck, und sein Zweck dabey ist tiefe Wirkung des Ganzen. Als Mann von Verstand, Gefühl und großer Kunstkenntniß erreicht er diesen Zweck auch in seinen besten Werken.«
»Allein dieß ist noch nicht genug. Vollkommne Kunst besteht in [302] Darstellung nicht der Natur überhaupt, oder dieser und jener Art von Natur, sondern der gebildeten Natur in ihrer Stärke und Fülle, der hohen, schönen, der edelsten und schönsten Natur. Kein Drama, kein Gemählde, keine Bildsäule, wenn sie nicht bloßes Porträt seyn soll, kann in die erste Klasse gesetzt werden, falls sie nicht auch vortreflicher Ausdruck, vortrefliche Darstellung der ersten Klasse von Menschen ist.«
»Nach dieser Regel, die zu allen Zeiten wahr bleibt, kommt Gluck, was hohe Schönheit betrift, den großen Neapolitanischen Meistern, Leo, Jomelli, Traetta, Majo selten gleich, wenn man ihr Vortrefliches mit dem seinigen in Vergleichung stellt. Dabey aber behauptet er doch, was tiefen Eindruck des Ganzen betrift, mit den höchsten Rang unter den ersten dramatischen Tonkünstlern.«
»Seine gute Musik (denn auch unter seinen neuern Werken nach dem Orfeo sind mittelmäßige und ganz unerträglich leere Sachen, als zum Beyspiel seine Belagerung von Cythere) ist kernig, und erstürmt oft mit der größten Tonfülle der Chöre und Instrumente die Herzen der Zuhörer. Seine besten einzelnen Arien sind ächt Deutsch in Melodie und Harmonie: so etwas Herzliches, Gutes und Gefühlvolles, ein so rechtschaffner Adel, eine so reizende Würde von Keuschheit und Männlichkeit, spricht in ihren Accenten.«
»Erster Akt.«
»Der Chor ist voll Gefühl, in dem einfachsten Ausdruck der Trauer; der doppelte Ausruf und Seufzer des Orpheus: Euridice! dazwischen, natürlich und höchst rührend. Die Klarinetten und Posaunen passen vortreflich für die Leichenfeyer, und verstärken beym Gesange durch ein Paar Nachhalle den Ausdruck unvergleichlich. [303] Die verkleinerte Septime und die kleine Septime auf dem verminderten Dreyklang in ihren Umkehrungen machen den Reiz der Harmonie aus.«
»Orpheus Verlangen allein zu seyn, der Tanz um das Grabmal, die verstärkte Wiederhohlung des Chors, ein wenig lebhafter abgewechselt, und dessen Abzug, machen einen sehr einnehmenden Anfang, und sind das Beste dieses Akts.«
»Die erste Arie des Orpheus scheint zu leicht an Gehalt, hat aber eben dadurch etwas Gutes und Herzliches, welches die Schalmey im Einklang, und die Flöte in der Oktave mit dem Gesang, der Unschuld der ersten Zeiten näher bringt. Daß doppelte Orchester, bey der zweyten Wiederhohlung mit Englischen Hörnern und Fagotten verstärkt, und die begleiteten Recitative dazwischen, machen die Scene sinnlich und täuschend.«
»Das Recitativ darauf Numi d'Acheronte, wo der Vorsatz ausgedrückt wird, in den Orkus hinab zu steigen, gewinnt durch die Begleitung viel an Pathos.«
»Amor, welcher dem Orpheus zum Trost erscheint, und den Willen des Zevs dabey bekannt macht, hätte im Recitativ: t'assiste Amore gleich froher sprechen und das Thränengewölk der verkleinerten Septimen mit himmlischem Licht erhellen können.«
»Doch ist die folgende Arie heitrer, im Charakter eines gutherzigen Knaben, und Gluckische Melodie, die der Meister öfter gebraucht hat.«
»Der erste Akt schließt sich mit dem feuervollen Recitativ des Orpheus, worin er sich selbst reizt, das Abentheuer zu bestehen.«
»Zweyter Akt:
Triumph der Musik.«
[304] »Die Annäherung des Sängers zu den Pforten des Tartarus, voll Leidenschaft und zugleich schüchtern, kurz und sinnlich dargestellt; sein Vorspiel auf der Harfe besteht in wenig einfachen Griffen, und der Chor der Furien fällt dann sogleich ein.«
»Dieser ist, wie Musik der Griechen, in lauter Oktaven, zuweilen dreyfachen, und vortreflich declamirt. Es wird recht fühlbar, daß die Oktave die vollkommenste Konsonanz ist. Das kurze Instrumentenspiel zum Tanze dazwischen thut als Abwechselung gute Wirkung, und die Geigen, am Ende des Chors, drücken in der Begleitung das Bellen des Cerberus naiv aus.«
»Das Cantabile: deh, placatevi con me! von der Harfe begleitet, ist gewiß höchst rührend; und das harte No der Furien macht einen furchtbaren Kontrast damit. Das deh – placatevi! bey der Wiederhohlung im zweyten Abschnitt, mit dem halben Ton in der Melodie, der in der Harmonie zur übermäßigen Sekunde wird, und einen Anstrich von der beklommenen verkleinerten Terz bekommt, ist ein Meisterzug; die Furien antworten eben darin noch greller das bewunderteNo. Die verkleinerte Septime hat ihren Ausdruck hier in der höchsten Stärke. Eine süße tonvolle Stimme kann in dieser Scene bezaubern.«
»Der gemilderte Chor darauf: Misero giovine, in der einfachsten Harmonie, mit bloßen Oktaven vermischt, setzt die Handlung vortreflich fort; so das Cantabile, wieder mit der Harfe: Mille pene, ombre moleste, immer tiefer eindringend; und der Chor eben so, mehr besänftigt, in Ah quale incognito affetto. Das men tiranne ah voi sareste, bestürmt noch mehr mit lebhafterer Begleitung und süßer, in halbe Töne verschmolzner Melodie. Lauter Dialog zwischen Orpheus und dem Chor in kurzen Absätzen, bis der letztre nach [305] einem Orgelpunkt voll Ausdruck mit dem: al vincitor, verschwindet.«
»Diese Musik hat wirklich das, was sich nur von der vortreflichsten sagen läßt; man vernimmt nämlich bloß den Sinn der Worte, und wird getäuscht, in die Scene hingezaubert, ohne daß man die Musik, die es bewirkt, selbst merkt: so nackend und rein ist die Darstellung.«
»Nun dringt der Sänger frey in Elisium. Das lange Recitativ, worin er seine Empfindung von sich athmet, macht durch die heitre und zugleich rührende Begleitung einen entzückenden Kontrast mit dem Vorigen. Die Harmonie, obgleich in aller Fülle von Hoboen, Flöten, Hörnern, Fagotten, ist doch sehr einfach, und die Declamazion darunter vortreflich. Die Worte sind schön, zum Theil aus dem Virgil: Che puro ciel! che chiaro sol! che nuova serena luce è questa mai! Die Instrumente konzertiren höchst reizend mit einander, und die Begleitung der ersten Violine hält wie ein liebliches Murmeln alles zusammen. Der Chor der Seligen ist in Glucks herzlicher Art.«
»Dritter Akt.«
»An der Klippe der Katastrophe scheitert aber die Dichtung, und natürlich muß das Kolorit und Helldunkel, wie Gluck seine Musik nennt, der Zeichnung folgen.«
»Euridice ist gar ein armseliges poetisches Geschöpf: nicht die schöne, junge, von einer Schlange in Blumen getödtete Griechin voll Adel und Unschuld des heroischen Zeitalters, sondern eine närrische Italiänerin; und der Zurückblick des antiken Dichters – in der unglücklichen Zerstreuung, da sein Herz voll ist von Leidenschaft der Liebe, und seine Phantasie von allen den Wunderdingen, die er gesehn und [306] gehört hat, und die ihn noch umgeben – bis zur widerlichsten erzwungnen Handlung verzerrt. Wie albern, daß Euridice ihre Reize schildert, und sich verachtet glaubt! Bloße Instrumentalmusik und Pantomime, welche stumme Gefühle ausdrücken, wären hier wohl an ihrer rechten Stelle gewesen.«
»Aber die Arie, die Orpheus, wie ein Amphion auf dem Delphin, in dem Schiffbruch der Oper singt: –Che farò senza Euridice! dove andrò senza il mio ben! che farò, dove andrò senza il mio ben!
Euridice, oh Dio, rispondi! io son pur il tuo fedel!
Ah, non m'avanza, più soccorso, più speranza, nè dal mondo, nè dal ciel! – ist göttlich, und gehört unter Glucks Vortreflichstes. Sie ist durchaus reine nackte Darstellung der allerheftigsten Leidenschaft; die Melodie hat nichts von irgend einer Nazion, sondern ist allgemeine schöne menschliche Natur. Auch hat Gluck die reinste harte Tonart zum Ausdruck der Stärke meisterhaft gewählt.«
»Imvierten Akt
will Orpheus sich umbringen; Amor aber erscheint ihm wieder, und giebt ihm endlich doch seine Euridice zum Lohn für so treue und starke Liebe. Tanz und Chor machen den Beschluß.«
»Es bleibt immer eine Oper, worin viel Gold- und Silberadern sind; aber rechte Einheit von Originalität herrscht in ihr noch nicht. Sie ist eine Zusammensetzung von eigenen und fremden Formen. Inzwischen gab sie dem schläfrigen Schlendrian einen ermunternden Stoß.«
Lockmann setzte hinzu: »Um Ihnen die Art Gluckischer Musik im höchsten Adel der Natur, und zur höchsten Schönheit gebildet, zu [307] zeigen, will ich morgen die Antigone bringen, die Traetta 1772, acht Jahre nachher, für die Gabrieli in Petersburg schrieb; und worin der größte Italiänische Tonkünstler im Tragischen, besonders was den ersten Chor des Orfeo betrift, offenbar mit dem Deutschen rang.«
»O, wenn wir die Antigone doch schon jetzt hier hätten!« antwortete ihm Hildegard voll Begierde. »Die Scene Ombra cara amorosa darin, soll der Triumph der Gabrieli gewesen seyn. Ich habe sie nie erhalten können. Sie werden mir eine unaussprechliche Freude damit machen.«
»Der Tag dauert noch lange,« erwiederte Lockmann; »wir können die ganze Oper durchgehen.« Er eilte fort, und kam bald wieder. Indessen konnteHildegard sich nicht enthalten, im Enthusiasmus, und in aller Unschuld, der Mutter zu sagen: »Kein anderer Mensch, außer unserm Hause, hat mir je so viel Vergnügen gewahrt!« Diese Worte gingen der Mutter tief zu Gemüthe. Hildegard hohlte inzwischen den Sophokles, und las den Inhalt der Geschichte, um das Ganze gegenwärtig zu haben.
Antigone.
»Der Text« – fing Lockmann an, wandelte mitHildegarden im Saale auf und ab, und die Mutter ward mehr als je von einem besondern Gefühl überrascht, als sie die schönen jugendlichen Gestalten, und die außerordentlichen Reize des unvergleichlichen Paares aufmerksam betrachtete – »Der Text, das Gedicht, ist von Coltellini, nach dem Lieblingsstücke der Athenienser von Sophokles; das Ganze aber, so wie Euripides die Fabel behandelte. Antigone begräbt den erlegten Bruder Polynikes gegen das Verbot ihres Oheims Kreon, welcher die Todesstrafe darauf gesetzt hatte. Dieser [308] verzeiht ihr endlich in der Grube, worin sie verhungern sollte, und sie vermählt sich mit Hämon, seinem Sohne.«
»Sophokles ist ohne Vergleich lebendiger, als der Italiäner. Jener stellt die Antigone in dem von ihrem Vater geerbten Charakter dar: erhaben über alles Unglück, unbeugsam bey einer edlen That, und doch dabey weiblich, erzürnt und erbittert gegen ihre schwache Schwester und den Oheim; durchaus voll Gefühl und Verstand.«
»Sophokles läßt weislich die gerechte Sache des Polynikes unberührt, damit Kreons Verbot nicht allzu unwahrscheinlich und tyrannisch werde. Vielleicht hätte das Ganze gewonnen, wenn Eteokles als ein liebenswürdiger Regent wäre geschildert worden; jetzt muß man nur rathen, daß er es ist, weil ihm die Thebaner so beystehen. Polynikes fehlte gewiß, daß er sein Vaterland verwüstete, um wieder zur Regierung zu gelangen. Beym Sophokles ist es doch ein Kampf sehr wahrscheinlicher Leidenschaften; der Italiäner aber macht den Kreon gar zu unerträglich.«
»Antigone ist inzwischen höchst interessant, und durch Traetta's Zauber eine wahre tragische Person: leidend, voll Gefühl und Adel; das letztre nur nicht so schön, wie bey dem Griechen. Auch behandelt dieser das Begräbniß viel feiner, und nicht so ohne Wahrscheinlichkeit, wie der Italiäner.«
»Doch ist Traetta dabey wahrhaft erhaben, und greift bis ins Innerste. Dichter und Komponist haben vorzüglich für die Antigone gearbeitet, und sie den Reizen der Gabrieli zum Opfer gebracht.
Im
ersten Akt
ist nichts Außerordentliches. Die Chöre darin sind schön; die Recitative gut declamirt; und die erste Arie der Antigone voll einfachen [309] Ausdrucks: D'una misera famiglia, tutta sai l'istoria amara 39.
Der Anfang des
zweyten Akts
gehört aber unter das Allervortreflichste der Italiänischen Musik; es ist so recht der eigentliche wahre edle tragische Ton aus der Seele gehohlt, was der Mensch von hoher Kultur empfinden muß, wenn er die erhabensten Stellen im Sophokles und Euripides liest. Auch die Worte sind schön:
Ascolta il nostro pianto,
i gemiti, i sospiri,
ombra, che qui t'aggiri
al mesto rogo accanto!
E passa poi felice
d'eterna pace in sen 40.«
»Ganz erhaben ist der Seufzer der Antigone zwischen dem Chor ausgedrückt:
Ah, misero Polinice!«
»Nach dem Chor: O voi dell' Erebo pietosi Numi, kommt aber erst der rechte Kern, Antigone in dem Recitativ:
Ombra cara amorosa, ah perchè mai tu corri al tuo riposo, ed io qui resto!
Tu tranquilla godrai nelle sedi beate, ove non giunge ne sdegno ne dolor, ne sdegno de dolor! ricopre ogni cura mortale eterno obblio.
[310] Ne più ramenterai fra gli amplessi paterni il pianto mio, ne questo di dolor soggiorno infesto.
Ombra cara amorosa, ah, perchè mai tu corri al tuo riposo, ed io qui resto! 41 Und in der Cavatine sogleich darauf: Io resto sempre a piangere, dove mi guida ogn'or, d'uno in un altro orror, la cruda sorte. E a terminar le lagrime pietoso al mio dolor, ahi, che non giunge ancor per me la morte 42!«
»Diese Musik ist, nebst der Poesie, so Accent und Ausdruck der Natur, daß sie bey allen Völkern und in allen Zeitaltern ergreifen und rühren muß. Sie ist auch weiter nichts, als die gefühlvollste und zugleich edelste Declamazion; und die Arie geht in demselben Tone, nur im schnellern Pulsschlag des Sechsachteltakts, so fort, daß man den Unterschied gar nicht merkt. Ich kenne nichts Vollkommneres im ganzen Reiche der Musik; der schönste Ausdruck schwesterlicher Zärtlichkeit und tiefer Trauer.«
»Der Chor fällt alsdann wieder prächtig ein: O folle orgoglio umano! und Antigone beschließt himmlisch: O reliquie funeste! [311] Dieses alles zusammen macht das vollkommenste Ganze, und die erhabenste Leichenfeyer. Es kann neben Jomelli's Requiem aeternam stehen; nur daß alles dramatisch ist, und, was Genie betrift, einen höhern Rang behauptet.«
»Noch sind in diesem Akte gute Chöre. Antigone hat auf die letzt, ein schönes Recitativ mit Begleitung, und eine glänzende Bravourarie, die der Kehle derGabrieli Ehre macht.«
»Der dritte Akt
fängt mit einem vortreflichen Chor an: Piangi o Tebe! Antigone fällt ein: O Tebe, o Cittadini, o voi vicine sacre ombrose foreste, e voi di Dirce pure sorgenti, addio! wozwischen der Chor immer erhaben tragisch fortgeht.«
»Ismene, ihre Schwester, will nun mit ihr sterben, und ihr Gesang dient zur Abwechslung. Darauf hat Antigone wieder ein begleitetes Recitativ: O germana, o Tebani; und eine Arie: Non piangete i casi miei. Alles voll Gefühl.«
»Kreon, Adrast, Hämon haben gute Sachen, besonders der letzte; aber nichts davon kommt der Antigone gleich.«
»Die Scene, wo sie in der Grube verhungern soll,Misera, ove m' inoltro, ist wieder vortreflich; und so das Duett zwischen ihr und Hämon.«
»Kreon kommt dazu, bereuet, was er gethan hat, und alles schließt mit der Vermählung. Der Ausgang wird in der Musik, wie in der Poesie, grell. Man ist nicht mehr aufgelegt, die festlichen Sachen zu genießen. Die Chöre und Tänze sind übrigens schön, besonders die Chaconne.«
»In der Poesie ist Hämons Erzählung, wie er zu Antigonen in die Grube kommt, unwahrscheinlich. Man begreift nicht, wie er hinein [312] kam, eben so wenig warum beyde nicht wieder heraus können, und sich selbst das Leben nehmen wollen.«
»Die Musik zu dieser Oper ist ohne ZweifelTraetta's Meisterstück.«
Hildegard sang nun die göttliche Scene einmal und zweymal mit so wahrem Gefühl und so rührenden Seelentönen, daß sie selbst den Sophokles und Athen entzückt haben würde. Der Mutter und auch ihr traten dabey Thränen in die Augen; sie dachten zugleich an das, was sie verloren. Nach einer langen Stille, worin beyde ihre Gesichter wegwendeten, gingLockmann unbemerkt fort, und überließ sie ihren Empfindungen.
Den Tag darauf hielt er Probe, und ließ seine Leute den Chor dazu einstudiren; auch andere Sachen für die Kirche und das Konzert.
Den folgenden, Nachmittags, ging er schon wieder zu Hildegarden, mit dem Wunsche, sie allein zu finden; ein unwiderstehlicher Zug trieb ihn zu ihr. Ihm war es jetzt, als ob er sie nicht gesehen hätte, wenn er sie nicht allein sah; sie schien dann nichtseine Hildegard, sondern die Hildegard der Mutter, des Bruders, der Gesellschaft.
Zu seinem Mißvergnügen traf er sie wieder nicht allein, sondern im Garten mit der Frau von Lupfen, welche bald nach Schwaben auf ihre Güter abzureisen gedachte, wohin Geschäfte sie riefen.
»Es freut mich sehr, daß Sie kommen,« sagteHildegard freundlich zu ihm; »wir haben noch drey Opern von Gluck durchzugehen, und können, wenn Sie beyde wollen heute mit der Alceste ein paar Stunden angenehm zubringen.«
»Schon längst, Herr Lockmann,« fuhr Frau von Lupfen fort, »bin ich begierig gewesen, Ihre Gedanken über Glucks neue Art von Musik zu hören.«
[313] »Ich werde Damen von so viel Kenntniß, Verstand und Geschmack wenig Neues zu sagen wissen;« erwiederte er darauf. Und Frau von Lupfen fragte ferner: »Worin besteht denn eigentlich Glucks Revoluzion, von der man so viel spricht?«
Er antwortete: »Die Frage ist, ob in der Oper, oder überhaupt, ob bey Singemusik, die Poesie oder die Musik herrschen soll. Gluck hat bey weitem der Poesie den Vorrang gegeben, nach ihr als ein gehorsamer Diener gearbeitet, und dadurch die große Menge der Tonkünstler und Liebhaber beleidigt. Er selbst widerlegt sich aber am besten: denn eben in seinen guten Opern herrscht die Musik mehr, als in andern; nur flattert sie nicht herum, und treibt kein Spielwerk, sondern drückt die Gefühle mit mächtiger Entscheidung aus. Und so herrscht im Gegentheil die Poesie bey manchem Italiäner; denn wenn man die Worte nicht wüßte, so fühlte man oft gar nichts.«
»Doch wir müssen die Sache genauer untersuchen.«
»Glucks neuere Opern unterscheiden sich von andern dadurch, daß das Ganze mehr Einheit und Zusammenhang hat, daß es nicht durch die eingeführten Formen, besonders der Arien, und die unzweckmäßige Kunst der Sänger und Virtuosen unterbrochen oder in seinem Gange aufgehalten wird, und daß alles Wesentliche in gehöriger Haltung hervorstrahlt.«
»Darin hat er völlig Recht; und es war Zeit, daß die übeln Gewohnheiten und Mißbräuche abgeschaft wurden. Doch haben große Meister vor ihm nach eben diesen Grundsätzen gearbeitet.«
»Darin aber hat er Unrecht, daß die Poesie nur Zeichnung seyn soll, und die Musik nur Kolorit und Licht und Schatten. Jede von den beyden Künsten hat ihre Zeichnung, ihr Kolorit und Helldunkel. [314] Dieses springt, dünkt mich, so in die Augen, und wird so allgemein für wahr angenommen, daß es keines Beweises bedarf.«
»Die Musik macht in der Oper ein Ganzes für sich aus: die Worte vereinigen sich damit, nicht als etwas Fremdes und Verschiednes, sondern als etwas Gleichartiges in Melodie und Harmonie; und sie bestehen in eben solchen abgemeßnen, nur durch Konsonanten bestimmter geformten Tönen, wie die Vocale der bloßen Musik. Die Personen der Sänger, und die Worte, stellen das Individuelle und Bestimmte dar; was die bloßen Vocale der Musik nicht vermögen.«
»Glucks Hauptverbesserung besteht in der Form der Arien. Die seit Leo's und Vinci's Zeiten eingeführte Italiänische Hauptform war bey weitem nicht mannigfaltig genug, und paßte in vielen Fällen gar nicht. Auch dieß ist schon so oft gerügt worden, daß ich mit Wiederhohlung davon Ihnen nicht beschwerlich fallen will.«
»Inzwischen hat man noch immer keine bestimmte Idee, was Arie überhaupt eigentlich ist.«
»Das Wort Aria ist Italiänisch, und hat vielerley Bedeutungen. In der Oper bedeutet es nichts anders, als das Werden eines besondern Ganzen im Strome der Handlung. Arie ist, in Musik und Poesie, die sich sammelnde Empfindung, das sich sammelnde Gefühl einer Situazion, welches sich nicht selten in einem Bilde, in einer Sentenz äußert, wobey der Tonkünstler alsdann nicht sowohl das Pittoreske des Bildes, den Inhalt der Sentenz, sondern, wo möglich, das Gefühl, woraus beyde entstehen, darzustellen hat. Arien sind gleichsam reizende Thuner- und Genfer-Seen nach den wüthenden Stürzen des Rhodan und der Aar, deren beym Einströmen trübe Fluthen das vorangehende, von Instrumenten begleitete [315] Recitativ ausmachen; und ihre Formen können unendlich verschieden seyn.«
»Aria, nach dem Wortverstande, ist die Dauer des Ausdrucks einer Empfindung. Quell' aria dolce del bel viso, der süße Ausdruck des schönen Gesichts; der himmlische Schein gleichsam, den ein schönes Gesicht von sich strahlt.«
»Die Hauptform der Italiänischen Arien ist aus einer solchen Sammlung der Empfindungen entstanden. Die Worte werden verschiedentlich wiederhohlt, damit das Ganze derselben tiefer eindringe und von allen Seiten gezeigt werde.«
»Bey solchen Sammlungen scheint auch die Handlung still zu stehen; der Strom derselben wird unmerklich; die Kehlen großer Sänger und Sängerinnen können darin, vollkommen der Natur gemäß, ihre ganze Gewalt, ihren ganzen Reichthum, zeigen. Ein zu rascher Fortgang beraubt die Musik ihrer größten Schönheiten, die Oper ihres vorzüglichsten Reizes vor der Tragödie, die solche Stellen nur durch Pantomime und Stillschweigen, bey weitem nicht so lebendig, Herz und Sinn ergreifend durch glänzende Läufe, entzückendes Schweben auf süßen Tönen in allen Graden von Stärke und Schwäche, und durch den Zauber der Manieren, auszudrücken vermag.«
»Anstatt, daß die Handlung darunter leiden sollte, gewinnt sie vielmehr an Kraft, und schreitet dann mit genährtem und geläutertem Feuer kühner fort.«
»Von seinem System verführt, wollte Titan-Gluck alle die schönen Seen, auf denen die Farinellis und Faustinen so lange zu unaussprechlicher Freude herumschwammen, herumschifften, abgraben und höchstens nur in breite Kanäle verwandeln. Und das [316] wäre in der That grausam und unvernünftig gewesen. Jedoch hat er sich bald eines Bessern besonnen, und das Seichte, Magre einiger von seinen Arien wohl gefühlt.«
»Was Gluck den Arien entzog, sollte durch die Fülle der Chöre, den Rhythmus der Tänze, die Mannigfaltigkeit und Stärke des Instrumentenspiels überhaupt, reichlich wieder ersetzt werden.«
»Chor ist eine Menge, die zusammensingt; Bäche und Flüsse, die zusammenströmen und sich in Einen Lauf vereinigen.«
»Das Bedürfniß, die Leidenschaft, muß groß und heftig seyn, wenn eine Menge auf einmal sprechen und singen soll. Die Worte müssen dann einen sehr bestimmten Ausdruck haben. Zum Beyspiel die Israeliten in der Wüste: Wasser! wir verschmachten! Harmonie in Oktaven, in Fugen, ist dann gewiß die beste. Solche Chöre sind weiter nichts, als ein Schreyen der Noth, des allgemeinen Verlangens und Willens, und machen, recht angebracht, erstaunliche Wirkung. Feuer! Feuer! Hülfe! Wir ertrinken; rettet! Zu den Waffen! die Feinde! Das No! der Furien im Orfeo.«
»Dieß ist der eigentliche theatralische Chor.«
»Der Griechische stellte eine Person vor; der Anführer sprach im Namen der Menge. Die Dichter Athens mußten sich vom festlichen Ursprung des Schauspiels her lange damit plagen; und er zerstörte – was auch ihr eifrigster Bewundrer nicht leugnen wird, wenn er nur an die Medea des Euripides denkt – die Täuschung in ihren besten Werken.«
»Unsre mehrsten Chöre sind künstlich, wohin die in der Kirchenmusik gehören. Man nimmt an, ein Volk, eine Gemeinde singe schon gemachte Psalmen; ein Tonkünstler habe die beste Melodie und Harmonie dazu in Noten gesetzt.«
[317] »Solche Chöre sind nicht für das Theater; sie hindern die Täuschung.«
»Inzwischen wenn sie einmal schon im Gebrauch sind, wie bey den Franzosen, so fällt ihr Unnatürliches und Gekünsteltes weniger auf. Man will eben bey jedem großen Ganzen, wie eine Oper ist, von einzelnen Stimmen an, bis zu Duetten und Terzetten, die höchste Gewalt und Stärke aller Kehlen und Instrumente beysammen haben.«
»Wo der Stoff es mit sich bringt, ist es schön und gut und prachtvoll. Wo es aber herbey gezwungen wird, macht es für jeden Vernünftigen ein tolles Geplärr; und die Wirkung fällt, durch den häufigen Mißbrauch von Stümpern, auch bey guten und natürlichen Chören weg. Das Volk, dessen taubes Gehör hauptsächlich nur dadurch gereizt werden kann, wird einem ein Gräuel.«
»Chöre, Tänze und Posaunen können eben so übel angebracht werden, als Ritornelle und Läufe.«
»Um die Einheit des Ganzen desto mehr hervorzubringen, und das Abstechende zu entfernen oder zu verschmelzen, hat Gluck das Recitativ meistens mit Instrumenten begleitet.«
»Für die Französische Sprache mag dieß sehr dienlich seyn; die Italiänische bedarf der Kleiderpracht weit weniger. Das Geschleppe, gleichsam von vielen Bedienten, wird endlich doch lästig. Die Italiäner regen sich in ihrer bloßen Declamazion weit freyer und leichter. Für eine Königin Alceste, für den Hof eines Agamemnon, einer Klytämnestra, ist das Gepränge schicklich; man darf es nur nicht zur Regel und allgemein machen wollen.«
»Um wieder dahin zurück zu kommen, wo wir ausgingen – ein Deutscher Kunstrichter hat, im Zorn über Glucks Reformazion, die [318] Poesie gewaltig herunter zu setzen geglaubt, indem er Rousseau's Worte in dessen musikalischem Wörterbuche: Les Airs de nos Opera sont, pour ainsi dire, la toile, ou le fond sur lequel se peignent les tableaux de la Musique, folgendermaaßen dolmetschte:«
»Die Worte der Arien unsrer Opern sind gleichsam die Leinwand oder der Grund, worauf die Gemählde der Musik gebracht werden.«
»Armer Metastasio! du bist, nach dem Ausspruch eines großen Philosophen, nichts weiter als ein Drillichmacher für die Mahlereyen der Tonkünstler!«
»Das Wort Air wird im Französischen nur von der Melodie oder überhaupt der Musik zu einem Liede gebraucht, wie kurz vorher Rousseau selbst sagt, und höchstens, wie er hinzufügt, von der Musik und den Worten zusammen; niemals von den Worten allein.«
»Rousseau wollte bloß sagen: vorzüglich in den Arien stellt der Komponist Charakter und Gefühl dar.«
»Für musikalische Poesie wäre daraus abzunehmen: daß die Worte der Arien das Schönste enthalten müssen, weil Arien die Hauptsache in der Musik sind.«
Hildegard erwiederte darauf: »Ich kann solche platte Ungerechtigkeiten nicht leiden. Wer stellt eigentlich die Armiden, die Sophonisben, die Antigonen, die Oreste, die Iphigenien dar: der Tonkünstler oder der Dichter? Ohne den letztern wüßten wir ja nichts von allen jenen Personen. Sie selbst haben schon gesagt: in dem Schauspiel der Oper treten verschiedne Künste in einen freundschaftlichen Bund, um in ihrer gemeinschaftlichen Darstellung so viel wie möglich [319] der Natur gleich zu kommen. Bald thut diese, bald jene, mehr Wirkung; aber alle greifen so in einander ein, daß von Oberrang gar nicht die Rede seyn sollte, wenn jede leistet, was sie vermag. Am besten wär' es freylich, wenn Dichter und Tonkünstler, wie bey den Griechen, in Einer Person vereinigt wären: so in Eins müssen sie in einer guten Oper zusammen stimmen. Ich will Ihre Erklärungen darüber nicht wiederhohlen.«
»Welche Wunder würde nicht Gluck gethan haben, wenn er wie ein Sophokles erzogen worden wäre! Es freut mich, daß der große Mann so edel und bescheiden für die Dichter dachte. Welcher wird noch für die unwissenden Tonkünstler etwas arbeiten wollen, wenn sie ein se cerca, se dice, oder ein ne' giorni tuoi felici, so unerträglich eitel herunter setzen?«
Frau von Lupfen fuhr fort: »Jede Kunst hat ihre besondern Mittel zu wirken; und wo im Mittel schon die weit größre Kraft liegt, sollte der Künstler bescheiden seyn, und nicht sich die größre Wirkung zuschreiben. So behauptet ein St. George im Zweykampf mit dem Degen bey jedem Vernünftigen einen höhern Rang, als ein Konstabler, der seine Kanone ladet, richtet, abbrennt, und eine Mauer über den Haufen wirft, wovon jener nicht einen Stein losstechen würde, wenn er so thöricht seyn könnte, es zu wollen.«
Lockmann erwiederte: »Vortreflich, meine Damen! Ihr schöner Eifer entzückt mich. Die WörterZeichnung, Kolorit, und Helldunkel, womit so viel gespielt wird, dienen nur, wie alle Gleichnisse, die Sache sinnlicher zu machen. Kolorit soll nur ›lebendig‹ anzeigen; und Licht und Schatten ›das Leben in der Natur rund herum.‹ Dichter und Komponist vermögen dieß nur anzudeuten; eine Hildegard, ein Marchesi, mit einem Le Brün, [320] einem Viotti u.s.f. stellen es in hohen lyrischen Situazionen eigentlich allein dar, und Dichter und Komponist liefern dazu nur die Materialien.«
»Auch die Schauspielkunst, und die Singkunst,« sagte Hildegard, schon an der Treppe im Hause zum Musiksaal, »sollen nicht den ersten Rang erhalten, sondern diejenigen, welche die höchste gebildete Stärke, die erhabenste Menschheit haben, und sie zum Nutzen und Vergnügen der Gesellschaft anwenden.«
Sie hohlte dann sogleich die Alceste von Gluck herbey. Lockmann setzte sich ans Klavier, und fing an darüber zu reden.
»Die Fabel der Alceste ist ganz in die Griechische Religion verwebt, und für unsre Zeiten bleibt davon nur das Allgemeine übrig, daß eine Frau für ihren Mann sterben will, und für so viel Liebe begnadigt wird.«
»Euripides, Schüler und Freund des Sokrates, hat bey dieser Gelegenheit ein Stück Moral aus dem wirklichen Leben aufgestellt. In seinem Drama herrscht eine außerordentliche Stärke von Verstand. Nur kann man eben nicht sagen, daß er in der Scene des Admet mit dem Vater den Grazien huldigte; vielmehr scheint Timon selbst sie hineingebannt zu haben. Aber er wollte die menschliche Natur in ihrer Blöße zeigen.«
»Das Ganze ist bey dem Griechen ein Spiel des Apollo, der den Parzen das Leben des jungen Königs für ein andres abdrängt, weil dieser ihn nach seiner Verbannung aus dem Himmel, als Hirten, so edel aufgenommen hatte. Alceste konnte nicht wohl anders handeln, ohne nach dem Tode des Gemahls ein schmähliches Leben zu führen. Der Meister im Tragischen läßt sie von Schritt zu Schritt alle Bitterkeit fühlen, daß sie, von Pflicht genöthigt, in der Blüthe der [321] Jugend und Schönheit aus dem höchsten Wohlleben von ihren zarten Kindern scheiden muß. Die harte Rolle beyder Gatten wird für den Zuschauer gleich anfangs durch die Ankündigung der Rettung gemildert; und Herkules erscheint am Ende, als Bezwinger selbst des Todes.«
»Calsabigi hat für unsre Zeiten und die Oper nur wenig von dem Griechischen Drama beybehalten; doch ist dieß Wenige vielleicht schon zu viel. Bey den Griechen bewirkte der Glaube an das Wunder die Täuschung, welche bey uns im Ganzen nicht mehr statt findet; nur einzelne schöne für die Musik sehr ergiebige Scenen können daraus hervorspringen.«
»Die Symphonie kündigt eine große Begebenheit erhaben und eigen an. Sie trägt den Stempel des Gluckischen Genies, und ist warm und heiß von Leidenschaft.«
»Der Anfang der Handlung ist ein überraschendes Schauspiel mit der Trompete, dem Herold und dem Chor.«
»Der Herold hat gleich in einem Recitative von zwanzig Takten sechs volle Takte verkleinerte Septimen, die schon in der Symphonie oft vorkommen.«
»Der erste Chor ist vortreflich. Die verkleinerten Septimen werden in ihrer höchsten Bitterkeit angebracht, so wie in den Recitativen dazwischen.«
»Der Chor der zweyten Scene: Misero Admeto, povera Alceste! ist noch stärker. Die verkleinerte Septime wird viel häufiger, und macht das Kolorit und den Schatten trauriger und schwärzer.«
»Das Recitativ der Alceste ist vortreflich declamirt, und voll Ausdruck. Die Arie darauf: Io non chiedo, mit dem kleinen Duett der Kinder darin, ist ein Meisterstück: mehr Recitativ in [322] Arienform mit abwechselndem Takt und Tempo, als Arie selbst; und etwas Neues ihrer Art. Man fühlt dabey die Kunst für das Ganze.«
»Die Recitative der Alceste sind bis hieher ohne alle Begleitung, aber vortreflich declamirt. Derselbe Chor schließt herrlich verstärkt und verziert.«
»Der Marsch der Priester des Apollo ist ein großes Meisterstück voll Charakter zu heiligen Schleppgewändern, durchaus neu.«
»Der Ruf des Hohenpriesters: Dilegua il nero turbine, che freme al trono intorno, mit Fagotten, Hörnern und Posaunen im bloßen C dur-Accord, ist erhaben in Melodie und Harmonie; das Blasen drückt wirklich Sturmwind aus.«
»Der Chor mit eben den Worten, und weiter fort, steigt immer höher, und die Begleitung ist voll rascher Begeisterung. In der That ein großes Meisterstück, und alles neu. Die Italiänischen Chöre verschwinden gegen diesen.«
»Des Oberpriesters Gebet für den König dazwischen: A te nume del giorno, a te del cielo ornamento e splendor, in As dur angefangen, und in Es dur geendigt, ist ganz göttlich.«
»Wieder eben derselbe Chor.«
»Der Priester kündigt die Ankunft der Königin an.«
»Derselbe Marsch.«
»Nun Alcestens Gebet: Nume eterno, immortal; in E dur angefangen, voll hohen Reizes.«
»Wieder derselbe Chor.«
»Nun der Oberpriester: I tuoi prieghi, o Regina, i doni tuoi propizio oltre l'usatto Apollo accoglie. Dieß Recitativ, nebst dem Orakel, gehört unter das Erhabenste in dem ganzen Vorrathe der [323] Musik, und ich kenne wenig, was ihm gleich käme. Man glaubt in der That zu Delphi zu seyn: so stark und gewaltig ist die Darstellung.«
»Mit dem Chor darauf: Che annunzio funesto! macht es ein feyerliches Ganzes; der Chor muß aber gehörig gesungen werden, wenn er die verlangte Wirkung hervorbringen soll.«
»Das Recitativ der Alceste darauf ist meisterhaft declamirt und begleitet, und die Arie: Ombre, larve, compagne di morte, schön und herzlich.«
»Alsdann nach ein paar Recitativen Beschluß des ersten Akts: ein Chor des Volkes.«
»Dieser ist in der That ganz gediegen, durchaus vortreflich, neu und klassisch; alles voll Kraft und Stärke. Es ist ein erstaunlicher Schritt vom Orfeo zurAlceste.«
»Der zweyte Akt
eröffnet sich, nach einem kurzen Vorspiel von Geigen, mit einem unbegleiteten Recitativ zwischen der Ismene und Alceste. Darauf folgt eine kurze passende Arie der Ismene; und dann kommt die herrliche Scene, wo Alceste im Walde, allein, sich dem Tode widmet. Das Recitativ ist pittoresk mit der Hoboe, dem Fagott und Schalmeyen, ganz neu in der Begleitung, und meisterhaft declamirt: Tu tiranno dell' ombre, tu signor dell' abisso, sehr feyerlich; und in der nächtlichen Stille das: che chiedi Alceste? schauerlich. Durchaus herrscht der Accord der verkleinerten Septime.«
»Die Arie darauf ist ein Meisterstück von Declamazion; nur die Begleitung, obgleich der Rhythmus an und für sich vortreflich, doch zu einfach bey der langen Dauer der immerwährenden Wiederhohlung: sie wird auf die letzt zu trocken, und thut den Ohren weh, [324] obschon die blasenden Instrumente dazwischen einfallen. Ueberdieß hat der Dichter Alcesten hier zu schwach aufgestellt; und der Tonkünstler macht sie durch seinen Ausdruck noch verzagter. Mit Einem Wort: diese Arie ist ein fataler Zug im Charakter der Alceste, der sonst bewundernswürdigen Schwärmerin.«
»Der Chor der unterirdischen Gottheiten: E vuoi morire o misera! welche in Einem Tone fort singen, um den sich Geigen und Posaunen winden, und den die Hörner in Oktaven gewaltig verstärken, ist ein großer Zug von Glucks Genie. Die Melodie besteht aus Einem Tone, und macht den Baß ganz neu, furchtbar und schrecklich.«
»Alceste fährt in einem vortreflichen begleiteten Recitative fort, und erhebt sich. Die verkleinerte Septime wird wieder häufig. Der Chor der Dämonen unterbricht sie in dem Tone, und der Harmonie um ihn her, wie zuvor. Das Recitativ ferner eben so vortreflich. Es ist eine hinreißende Einheit und Gewalt der Darstellung.«
»Die Baßarie: Dunque vieni, des unterirdischen Gottes, mit ihrer Scythischen Stärke, von Hoboen, Hörnern, Fagotten und Posaunen begleitet, macht einen herrlichen Kontrast mit der schönen Weiblichkeit.«
»Das Recitativ der Alceste darauf ist schön; und die Arie: Non vi turbate, no pietosi Dei, gehört unterGlucks Allervortreflichstes: so entzückende herzvolle Melodie, und rhythmusvolle Begleitung ist darin; die Melodie recht originell, und ein Kleinod Deutscher Musik; Gluck dabey im Mittag seiner Laufbahn.«
»Der König wird auf der Stelle gesund; man stimmt einen frohen Jubel darüber an, und tanzt. Evander singt eine Arie. Darauf wird wieder getanzt, und Admet erscheint. Er erstaunt über das [325] Wunder; und als er erfährt, daß Jemand sich für ihn aufgeopfert hat, fragt er nach Alcesten.«
»Diese kommt; und die Sache wird bekannt. Sie haben schöne Recitative, worin wieder durchaus die verkleinerte Septime herrscht. Vor der Entdeckung noch ein vortrefliches kleines Duett, ganz neu und rührend dialogirt: Ah, perchè con quelle lagrime m'avveleni il mio contento?«
»Das Recitativ, worin die Entdeckung geschieht, ist voll von Leidenschaft; die verkleinerte Septime und die vielen Sextquinten erheben den Ausdruck mächtig. Admets Arie: No, crudel, non posso vivere, aus dem A moll, fällt gleich mit der Stimme ein, und gehört zu den größten Meisterstücken dieser Oper. Die Musik ist so vortreflich, daß man sie gar nicht merkt; die Melodie durchaus im stilo stretto, oder Note auf Sylbe, gar kein Instrumentenspiel, bis auf zwey Takte zum Athemhohlen; die herbste und bitterste Pein ewiger Trennung göttlich ausgedrückt; der Rhythmus natürlich hinreißend; das non posso vivere zuletzt auf dem höchsten Ton, dem eingestrichnen A, der Leiter für den Tenor, ganz Natur; die verkleinerte Septime, welche in die kleine Sext übergeht, mit dem halben Ton in der Melodie: tu lo sai, non mi salvi, ma m'uccidi se da me dividi la più viva, la più tenera cara parte del mio cor, ein Muster vom tragischen Ausdruck derselben, und dieser Accord hier gleichsam im höchsten Lichte. E un si barbaro abbandono, auf der verkleinerten Sexte mit der reinen Quinte, die Melodie in dem Sturze der großen Septime selbst, ist ein Zug der höchsten Kunst. Virtu credi e chiamiamor, wieder die verkleinerte Septime mit dem Uebergang in die kleine Sext, und das amor auf der übermäßigen Sext wiederhohlt, verstärkt den Ausdruck durch alle Grade.«
[326] »D'una vita cosi misera peggior forte, durch die halben Töne in Harmonie und Melodie mit verändertem Takt und schnellerer Bewegung, zur höchsten Stärke der Leidenschaft in C dur, ist ganz vortreflich; so wie die abgekürzte Wiederhohlung des Anfangs, und das verdoppelte schmerzliche Crudel. Die Melodie ist durchaus eigen, und in ihren Fortschreitungen höchst leidenschaftlich: weder Italiänisch, noch Deutsch, sondern Ausdruck allgemeiner edler Menschheit.«
»Das kurze Recitativ der Alceste, die den Tod herankommen fühlt, (in der sechsten Scene) ist vortreflich; und der Chor: Oh come rapida, im stilo stretto wie Griechisch. Eben so das folgende Recitativ und der folgende Chor.«
»Der Gesang der Alceste in F dur, mit der prächtigen Begleitung von Schalmeyen und Posaunen: Vesta, tu che fosti, giebt ihrem Charakter Heroismus. Dazwischen wieder der Chor, O come rapida, schön zur Abwechslung.«
»Das Oh casto, o caro nuzial mio letto, ist göttlich heiter und keusch, von Posaunen, Schalmeyen und Englischen Hörnern begleitet. Der Chor: Cosi bella, cosi giovane, vortreflich wiederhohlt.«
»Der Abschied von den Kindern hat viel Schönheiten; aber der Gang des Ganzen scheint dadurch aufgehalten zu werden. Wenn eine junge schöne Schauspielerin diese Scene bis zur Täuschung bringen kann, so ist sie doch vortreflich. Der Uebergang von der verkleinerten Septime in die Sextquarte, bey e lasciarli nel pianto cosi, ist glänzend und reizend. Oh come rapida, schließt den zweyten Akt sehr gut.«
[327] Dritter Akt.
»Die erste Scene ist durchaus schön; Admets Situazion in Recitativ, und Arie vortreflich dargestellt.«
»Aber gewiß wird die Handlung endlich langweilig. Wenn Admet ohne seine Frau nicht leben kann, so hilft ihm eben ihr Tod nichts, und das Ganze wird eine Ziererey. Er muß gern leben, und das Leben und den Genuß der Welt lieber haben, als sie selbst; sie hingegen soll ein reizendes Beyspiel von ausschweifender Leidenschaft der Liebe seyn, die man bey ihrem Geschlecht sehr süß und angenehm findet. So wird alles ordentlich, und gewinnt natürliche Haltung.«
»Scene 2. 3. bittet sie ihn, ihr zu schwören, daß er nicht wieder heurathen wolle; im Euripides stehen die Gründe, warum. Die Musik erhält sich durchaus im tragischen Charakter. Dann kommen die Todesgötter, fordern und nehmen sie mit sich unter feyerlichen und schauerlichen Chören.«
»Admet will sich das Leben rauben. Apollo erscheint in Sonnenstrahlen, und bringt Alcesten in lichten Wolken; die Götter wollten so große Liebe nicht zerstört wissen.«
»Diese Oper ist voll einzelner schöner, reizender, erhabner Formen, die sich nach und nach zu einem mannigfaltigen majestätischen Ganzen erheben. Der Gedanke, sich über die alten Vorurtheile wegzusetzen, ist kühn mit viel Genie und Kunst ausgeführt; und sie macht in der Geschichte der Musik Epoche.«
»Was sie von allen vorigen unterscheidet, sind die breiten Massen zu einem großen Ganzen, und das Gediegene.«
»Gluck erreicht dieß hauptsächlich durch die Chöre, welche durch Wiederholung die Recitative und Arien binden; durch den immerwährenden stilo stretto, wo man nur auf Poesie und Inhalt geheftet[328] wird; durch die blasenden Instrumente, von welchen er einige ganz neu einführt; (überhaupt hat noch kein Tonkünstler die Gewalt verschiednen Tons schon im Einklang so wie Gluck gefühlt und angewendet;) durch die häufige Begleitung der Recitative, die jedoch, immer so, auch bey andern Opern, langweilig werden möchte; und endlich besonders durch den Accord der verkleinerten Septime, die in allen Umkehrungen, in allerley Tonarten in allen Instrumenten das Ganze gleichsam in ein tragisches Dunkel bringt, und ihm feste Haltung giebt. Zuweilen sind Sextquinten und die rührendsten Dissonanzen reizend damit verschmolzen.«
»Das Volk wird hingerissen, ohne zu wissen, wie; selbst der Kenner giebt endlich nicht mehr auf die Kunst der Harmonie Acht, und läßt sich ebenfalls täuschen.«
Hildegard und Lockmann hatten dabey einige der schönsten Arien gesungen; und Frau von Lupfen bezeugte gerührt beyden ihr inniges Wohlgefallen.
»Ich weiß nicht,« fuhr Hildegard fort, »wie ich mich darüber ausdrücken soll, daß ein in der musikalischen Welt so hervorragender Mann, außer einigen Kleinigkeiten, nichts für sein Vaterland, dessen Stolz er ist, nichts für die Deutsche Sprache schreibt; und wer eigentlich die Schuld hat, ob er selbst, oder die Fürsten, die Dichter, das Publikum.«
Lockmann erwiederte: »Die Produkte der Kunst müssen in Deutschland wie das Unkraut wachsen; da ist keine Pflege und Wartung, und sie gehen selten ins wirkliche Leben über. Das, was man bey uns gute Gesellschaft nennt, der Hof und der Adel, und die Gelehrten selbst, welche alle, gleich der Frühlingssonne, sie erziehen und zur Reise bringen sollten, bekümmern sich wenig um sie, betrachten [329] sie als unnütz, als bloßen Zeitvertreib, und haben sie niemals zur eigentlichen Beschäftigung gemacht, um ächten guten Geschmack an ihnen zu gewinnen. Kurz, wir sind Barbaren für alle Arten von Schönheit. Es scheint, als ob für die Künste, die sich mit ihr beschäftigen, da eine Grenzscheide gezogen wäre, wo die Sprachen aufhören, die von der Lateinischen abstammen; Sitten und Regierung sind ihnen da zuwider. Alles Vortrefliche derselben wächst in Deutschland wild für sich auf; und die Fremden nehmen heraus, was das Beste ist, oder was sie für gut befinden.«
»Die Dichter haben es am schlimmsten, weil sie zu Hause bleiben müssen, und ihre Sprache nirgend anderswo gilt.«
»Die Mahler müssen bloß Köpfe und Kleider mahlen; das Andre wird nicht nach Verdienst geschätzt und belohnt, und man kauft lieber alte und fremde Werke. Schlösser, Palläste und katholische Kirchen sind schon versehen; und die Protestanten wollen lieber weiße Wände.«
»Die Bildhauer haben alle halbe Jahrhunderte ein Denkmal zu verfertigen, und wissen nicht, ob sie Römische Gewänder, oder Uniformen und steife Zöpfe machen sollen. Phidias, Praxiteles und Lysipp müßten in Deutschland verhungern.«
»In der Musik werden nur Sänger und Geiger, nicht gebildet, sondern bezahlt, wenn sie da sind. Die Komponisten kritisirt man nur. Unsre größten wurden von Engländern, Italiänern und Franzosen versorgt 43.«
»In der Baukunst behelfen wir uns mit Zimmerleuten und Steinmetzen; [330] oder kleben unsre Häuser selbst zusammen, wie die Schwalben.«
»Die Kunst – der Stolz der ersten Menschen, der Griechen, der Römer in ihrer höchsten Macht und Stärke, des schönen sechzehnten Jahrhunderts in Italien, der Franzosen und Engländer in ihren glücklichsten Zeitpunkten – ist bey uns nichts anders als Schmarotzerpflanze; Enthusiasten, oder Pedanten und Professoren, Leute ohne Welt und Klugheit, mögen sich mit ihr beschäftigen.«
Frau von Lupfen erwiederte darauf, tief ergriffen: »Wir sind arm, und haben alle Hände voll zu thun mit unsern Bedürfnissen.«
Und Hildegard setzte hinzu: »Unsre Millionen Soldaten in Friedenszeiten, und manche kostbare Person in den dicken Staatskalendern ...! Jedoch drückten Sie Sich in der Aufwallung Ihres gerechten Eifers viel zu hart und grell aus; es giebt und gab, dem Himmel sey Dank! Ausnahmen von Städten und Fürsten.«
Lockmann erwiederte: »Die Kunst hat zwar an verschiedenen Höfen einige glückliche Perioden gehabt; aber es waren gleichsam nur Treibhäuser für ausländische Gewächse.«
Hildegard antwortete: »Geduld und frohe Hoffnung, Edler! Wir gewinnen nach und nach immer mehr an Bildung; das Gletschereis über den Herzen der Reichen fängt an für lebendige Kunst zu schmelzen. Vielleicht schon binnen wenig Jahren, wenn eine Nationaloper erscheint, das ist, eine Deutsche Oper mit Volksmelodien, die allgemein gefallen, gleichen Frankfurt und Hamburg, Dresden, München, Berlin und Wien an Enthusiasmus Neapel, Paris und London.«
Nach einer kurzen Stille stand Frau von Lupfen auf, und sagte lächelnd: »Die Musik ist ja überdieß eine allgemeine Sprache; und [331] Vaterlandsliebe laßt sich mit Italiänischen Opern, so wie mit Italiänischen Gemählden, noch wohl vereinigen, wenn die Feste nur nicht ausschweifend sind, und auch das Volk sein Vergnügen hat. Eine Nazion ist in diesem groß, eine andre in jenem. Wir sind es in der Kriegskunst, in der Philosophie, wenn ich es nach dem Urtheil der Kenner sagen darf, in der Gelehrsamkeit; und einzelne Männer ragen noch jetzt in den mehrsten Wissenschaften und Künsten hervor über die vorzüglichsten unter allen Völkern. Personen von unserm Geschlecht – Sie werden das nicht als weibliche Eitelkeit auslegen – strahlen bewundert auf den ersten Thronen von Europa.«
»Feyerabend erklärte uns neulich die drey Sprüche, welche die Amphiktyonen mit goldnen Buchstaben über die Thüren des Tempels zu Delphi eingraben ließen; war darunter nicht auch dieser:Nichts zu viel; nichts zu weit getrieben? – Aber wir sind in eine üble Stimmung gerathen, und es ist Zeit uns zu trennen.«
Lockmann nahm seinen Hut, und begleitete sie unter fernerm Gespräch über dieses Thema nach Hause. Inzwischen machte er eine Ausnahme mit seinem Fürsten. »Aber,« sagte er, »es ist doch kein rechter Zweck da: Hildegard allein, die gar nicht dazu gehört, und deren Talente einer ganz andern Sphäre würdig wären, ist mehr, als alles Uebrige bey der Musik; und überhaupt giebt es nichts Großes, das einen Komponisten anfeuern und begeistern könnte.«
Frau von Lupfen gab ihm zwar, was das letztre betraf, Recht; doch, meinte sie, könnte der Fürst bey seinen Einkünften keinen andern Zweck haben, als seine Unterthanen zu ihrem eignen Vergnügen für diese Kunst bilden zu lassen, und sie, seinen Hof, und sich selbst durch vortrefliche Aufführung der Meisterstücke in Kirchen, und [332] der klassischen Scenen aus Opern in Konzertsälen, nebst der besten Instrumentalmusik, zu rühren und zu ergötzen.
Auf dem Rückwege stieß dem unruhigen Lockmann der alte Reinhold auf, welchen er mit sich nach Hause nahm. Beyde ließen es sich dann wohl schmecken, und tranken wacker Burgunder bey angenehmen Erinnerungen an Italien.
»Der Stoß ins Posthorn,« fuhr endlich der Alte fort, »an dem ersten Deutschen Dorfe, Hochholz vorbey:es ritten drey Reiter zum Thor hin aus, Adieu! ist mir doch erquickend durch Mark und Bein gedrungen, als ich aus Italien zurückkehrte.«
»Bruder trink! Willst du Brot, Schwager? sagte ein Postknecht zum andern. Und wie gesprächig die gutherzige Kellnerin dazwischen war, in ihrem grünen Hute, voll blühender Gesundheit, mit Beutel und Schlüsseln an einer Kette, die das Mieder herunter hing!«
»Die Weiber thaten hier schon fast alles bey der Wirthschaft; in Italien fast nichts. Wie man in Rom die Männer auf den Straßen und in den Küchen sieht: so in Tyrol die Weiber und Mädchen. Frisch und munter sind sie alle.«
»Fußböden von Holz und große Kachelöfen sieht man nach langer Zeit zum erstenmal wieder.«
»Das letzte Welsche Dorf S. Martino war ganz armselig, und die Post hatte nur vier Pferde; einen andren Reisenden hätten Ochsen ziehen müssen, und wenn er ein Prinz gewesen wäre. Die erste Deutsche Stazion, Salorn, obgleich vor Kurzem ein starker Brand da gewüthet hatte, sah doch lebendig und muthig aus, und die Pferde rannten wie Englische.«
»Ueberall sprach man mit unter noch Italiänisch; doch ist, so bald [333] man nur von S. Micheli um den Berg herum kommt, alles völlig Deutsch, Sitten und Luft.«
»Freilich muß ich gestehen, daß mir die Zunge müde war, wie nach einem schweren Marsche, als ich eine halbe Stunde wieder Deutsch gesprochen hatte.«
»Die Grenzen von Italien und Deutschland hat so recht die Natur gemacht, und beyde Völker sind in die Klüfte eingedrungen, so gut sie gekonnt haben. Die Etsch zeigte den Weg durch das Gebirge, so wie die Reuß und der Ticino über den Gotthardt, und die Aar vom Grimsel nach Bern.«
»So bald man in Deutschland herüber tritt, fühlt man eine neue nahrhaftere, frischere und rauhere Gegend, die alle Sinne angreift. Wie noch so ganz anders zu Roveredo! Dieß geht durch alles bis auf die Bäume. Und so macht das Ganze bis an den Belt eine eigene Natur aus, die wenig mit Frankreich, und noch weniger mit Italien gemein hat, wo alles trocken, zart und fest und fein ist. Hier hingegen alles saftig, frisch und steif; aber auch stark und mächtig, und doch dabey gutherzig und freundlich. Eins hängt an dem andern. Gänzlicher Unterschied von Italien, wo jedes nur für sich zu seyn scheint!«
»Die größre Freyheit in den Künsten,« erwiederteLockmann, »ist unser Bestes; eben weil sich die Mächtigen wenig darum bekümmern.«
Sie sprachen dann viel und mancherley durch einander, auch von ihren Glücksumständen. Der Burgunder und die lebhaften Reden hatten die Lebensgeister beyder etwas stark in Wallung gebracht; Hilde gard mit allen ihren Reizen schwebte vor des entzückten Lockmanns Blick in die Zukunft. Doch in der Leidenschaft noch [334] mehr, als bey nüchterner Ueberlegung, auf seiner Hut, nannt' er ihren Namen mit keiner Sylbe, obgleich Reinhold ihr Lob einigemal hoch angestimmt hatte. Dieß erkannte er nur für gerecht, und setzte noch einiges Wenige hinzu, lenkte aber gleich wieder davon ab. Ein Muster von einem verschwiegnen Liebhaber!
Kurz vor Mitternacht, ehe sie sich trennten, kamen sie noch auf das Thema Lebensphilosophie; und es flogen dabey folgende wilde unbestimmte Phrasen aus seinem Munde.
»Das Glück des Lebens besteht in der Abwechselung; selbst die größte Mühseligkeit wird dadurch zum Vergnügen.«
»Immerwährende Freude von einerley Art wird bald zur Pein. Der Urquell unsers Lebens will immer neue Formen; er behilft sich mit den albernsten Fabeln und Mährchen, wenn die Wirklichkeit um ihn stille steht.«
»Die Veränderungen, welche Poesie, wie alles Geschriebne, Gedruckte und Erzählte, gewährt, sind die schwächsten, ersetzen aber durch das Häufige und Zahlreiche, was ihnen an Stärke abgeht.«
»Dann kommt der Strahl des Lichts, Bildhauerey, Mahlerey, Baukunst für das Auge.«
»Stärker wirkt die Luft durch Musik auf das Ohr.«
»Körperlicher die Blumen und Blüthen des Frühlings und andre wohlriechende Düfte auf unsern schwächsten Sinn, den Geruch.«
»Stärker Getränk und Speisen auf unsre Zunge und unsren Gaumen, wozu noch das Wohlbehagen der Gesundheit kommt.«
»Die allerstärksten Empfindungen aber hat das Gefühl, der Sinn der Liebe.«
»Harmonie und Abwechselung unter allen diesen Veränderungen, [335] so viel unsere Komposizion verträgt, deßwegen entstand die Schöpfung, das ist die Seligkeit auf dem Erdboden.«
»That allein, die schöne Folgen hat, macht glücklich.«
»Die eigentliche wahre Liebe ist der Drang, mit einer Person vom andern Geschlecht ein Kind zu zeugen. Sie dauert ihrer Natur nach so lange, bis das Kind geboren ist, und als es den Eltern Freude macht.«
»Wenn man unsre Heldengedichte, von den Griechischen an, unsre Schauspiele und Romane liest: so findet man diese Leidenschaft fast nie in ihrer Fülle. Alles ist darin gewissermaaßen nur Vorspiel dazu, ein leeres Wortgeklingel, welchem Leser und Zuhörer ihr eignes Gefühl beylegen, das oft nicht darin ist.«
»Bey der Liebe des Paris zur Helena, des Aeneas zur Dido, des Rinaldo zur Armida, und in den meisten Schauspielen, kommt von Kindern selbst, und was sich darauf bezöge, wenig vor. Diese Leidenschaft, so viel tausendmal sie auch schon dargestellt worden ist, hat also in ihrer Tiefe noch volle und mannigfaltige Neuheit für den Künstler. Homer hat jedoch beym Abschied des Hektor von der Andromache, in den wenigen Worten an den kleinen Astyanax, ein Stück davon, ewig göttlich und schön, herausgehoben.«
»Alles Andre, was noch den Namen Liebe führt, ist Freundschaft, Geselligkeit, Wollust; welche letzte selbst bey dem höchsten Reiz einer Ninon von achtzehn Jahren, einer Lais und Phryne, einesAlkibiades, ein unbedeutendes Spiel ist gegen den göttlichen Ernst und Ungestüm dieser Leidenschaft.«
»Wenn ein Dichter ein Mädchen der Liebe schildern will, so kommt es also warlich wenig darauf an, ob es einen kleinen Fuß und s.w. hat, sondern ob der Bau ihres Körpers vortreflich ist, gesunde und [336] starke Kinder zu empfangen und zu gebären; ob ihre Lenden gut dazu gewölbt sind; ihre Brüste kräftig und derb, die Kinder zu stillen; ob ihre Augen und Lippen gutherzig aussehen, und versprechen, daß sie alles Ungemach der ersten Erziehung zärtlich auf sich nehmen werde; ob sie stark genug ist, die Geburtsschmerzen auszuhalten.«
»Nach diesen Regeln, die doch wohl die einzigen wahren sind, prüfe man nun einmal die Schreibereyen unsrer Dichter; und man wird sich wundern, wie wenig Ahndung sie von diesen Regeln hatten, die ihnen doch so nahe vor Augen liegen.«
Reinhold lächelte; sagte aber, im Begrif fortzugehen, noch gutherzig: »Das ist ein reizender Stoff zur Untersuchung für Deine Jahre, lieber Freund. Was mich betrift, so freu' ich mich, daß ich des Tyrannen Amors so ziemlich los bin. Ich wünschte, daß ich eben so früh scharf darüber nachgedacht hätte; in Italien bin ich von ihm in manches gefährliche Labyrinth getrieben und gepeitscht worden. Bey keiner Leidenschaft ist Verstand und Klugheit mehr nöthig, und doch so selten; sie entscheidet, nach unsern Sitten und Gebräuchen, oft über das Glück oder Unglück unsers ganzen Lebens.«
Lockmann begleitete den Alten nach Hause, um sich in der freyen Luft abzukühlen. Dessen letzte Worte machten zwar Eindruck auf ihn, hafteten aber nicht lange, da sie von Sinn und Phantasie bald verdrängt wurden.
Den nächsten Sonntag, der sehr warm und schön gewesen war, ging Lockmanns Zimmer gegen über, ungefähr eine Stunde vor Mitternacht, der beynahe noch volle Mond auf. Er nahm sein gutes Fernrohr, welches er sich gleich nach seiner Ankunft vom Fürsten zu weiterm Gebrauch ausgebeten hatte, ihn dadurch zu betrachten. Ein innrer Zug richtete es dann nach dem Paradiese, und er erblickte [337] auf einmal plötzlich in der lichten Dämmerung von neuem das himmlische Schauspiel, das er so oft vergebens wieder zu sehen getrachtet hatte. Hildegard legte ihr Gewand ab, (wodurch er sie leicht von ihrem Bruder unterscheiden konnte, den er mehrmals, nur immer des Nachmittags und gegen Abend, dasselbe Spiel hatte treiben sehen); dann stürzte sie sich in ihr Quellenbad, daß die Wellen in goldnem Feuer herumsprudelten. O, wie sein Herz schlug, und alles in ihm nach ihr hin strebte! Er sah zwar, so sehr er auch seinen Blick anstrengte und die Gläser vorn und am Ende rein wischte, nur den glänzenden Schein ihrer göttlichen Gestalt; aber seine Einbildungskraft schwelgte an den sich verlierenden Formen, wie an entzückender süßer Wirklichkeit. Sie blieb nicht lange, schwamm und gaukelte nur einigemal herum, trat heraus, und stand da wie Venus in Marmor von Praxiteles, trocknete sich ab, und verschwand.
»Kein Hinderniß soll dich mehr abhalten! sie ist die Einzige für dich in der ganzen Natur!« Das war wieder sein fester Vorsatz, und er schlummerte vor Planen und Entwürfen die übrige Nacht nur wenig.
Den Nachmittag darauf fand er abermals die Mutter auf dem Musiksaal mit weiblicher Arbeit beschäftigt; und Hildegard selbst stickte Blumen in ein Halstuch. Diese konnte sich nicht enthalten, mit dem Gesicht von der Mutter abgewendet, ihm muthwillig entgegen zu lächeln, weil sie wohl sah, daß er sie gern allein gefunden hätte.
»Verzeihen Sie, sagte Lockmann, daß ich jetzt öfter komme; ich suche Ihrem göttlichen Gesange noch einige Reize abzulauern zur Ausbildung eines Werkes, das ich Ihnen bald zu Füßen legen werde.«
[338] »Mein angenehmstes Vergnügen, antwortete sie gefällig, sind immer die Stunden Ihres vortreflichen Unterrichts; und mein eifrigstes Studium wird Ihre neue Musik seyn.«
Sie setzten sich an das Klavier, und fingen an, dieIphigénie en Aulide durchzugehen. Lockmann sagte dabey:
»Die Französische Musik und die Italiänische kämpften in Paris mit einander; und es war zweifelhaft, welche den Sieg davon tragen würde. Gluck hatte mit seinem Orfeo und seiner Alceste für Italien und Deutschland schon den Versuch gemacht, die Musik, seiner Meinung nach, zu ihrer wahren Bestimmung zurückzubringen, und in beyden Ländern bittre und hämische Widersacher an neidischen Kunstverwandten gefunden; mit richtigem Blick sah er in Frankreich gerade jetzt den besten Zeitpunkt für seine neue Art.«
»Bailli de Roulet, der sich eben in Wien aufhielt, richtete Racine'ns berühmte Tragödie, Iphigenia in Aulis, für die lyrische Bühne ein; undGlucks Genie, ganz Herz und Ohr für die Pariser Menschenwelt, fühlte alsdann wachend und in Träumen die Musik dazu aus.«
»Der Stoff gewährt das ergreifendste Schauspiel.«
»Die Armee der Griechen ist bereit nach Troja hinüber zu schiffen, um die Schmach des Vaterlandes zu rächen, wird aber von ungünstigen Winden unerhört lange zurückgehalten. Kalchas, der Oberpriester, muß das Orakel befragen; und es antwortet schrecklich: Diana sey erzürnt, und könne nur durch das Blut einer reinen Jungfrau, der Tochter des Königs der Könige, der Iphigenia, versöhnt werden.«
»Heldenruhm, Königsehre und Vaterliebe kämpfen in Agamemnons Herzen, als Klytämnestra mit der jungen und göttlich schönen Tochter [339] in das Lager kommt, um sie mit dem größten aller Helden, Achilles, zu vermählen. Das Heer, grausam ungeduldig, und barbarisch fromm, verlangt das Opfer. Held und Mutter und selbst der Heerführer streiten dagegen; die Unschuld ergiebt sich heroisch in ihr Schicksal, um an der Spitze der Griechischen Glorie zu stehen: sie nimmt rührend Abschied von dem Geliebten, der über alles wüthet und sie retten will; von der zärtlichen trostlosen Mutter. Schon kniet sie vor dem Altare, von dem geschliffenen Dolch den Todesstoß ins Herz zu empfangen: als die Göttin dem Priester das Zeichen giebt, daß sie versöhnt sey, erwachende Weste plötzlich die Luft in Bewegung setzen, durch die Wipfel rauschen, und Achilles seine Braut vom Tode wegführt.«
»Das Drama gehört unter die schönen des Euripides, und er hat die vier Charakter als großer Meister aufgestellt, besonders aber den Charakter der Iphigenia. Die Franzosen haben der Erhabenheit des letztern großen Abbruch gethan. Ueberhaupt durchwässern sie ihre Werke mit moderner Liebe, und stehen an Natur und Darstellung weit unter dem Griechen.«
»Man muß Glucks Musik aufführen hören, wenn man nicht selbst etwas von seiner Phantasie und seinem dichterischen Gefühl hat, um ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen; es kommt hier immer darauf an, daß der Nagel auf den Kopf getroffen wird, wenn es auch an und für sich hart lautet, und nicht auf hübsche Phrasen und Artigkeit darum her.«
»So hält jedermann von Sinn, Gefühl und Verstand, der die Ouvertüre vor dem Schauspiel gehört hat, sie für die Königin aller Ouvertüren; und sie ist in der That ein gewaltiger Polyphem, der sich bäumt und schüttelt, und voll Zorn zum Kampfe rüstet. Der reizende neue [340] Eingang, der die Gefühle Agamemnons ankündigt, alsdann die Einheit des Ausdrucks vom wilden Charakter des tobenden Volks, und die rührenden zärtlichen und tragischen Accente dazwischen, erheben sie über jede andre; alles in ihr bedeutet. Der Satz, wo sich die Instrumente in den Einklang stürzen und darin und in Oktaven furchtbar aufsteigen, stellt gerade das sich empörende Volk vortreflich dar, das sich wie ein wildes Roß bäumt und nicht mehr leiten und bändigen läßt. Die Griechen würden diese Ouvertüre in ihrer Art vielleicht noch über jenes berühmte Gemählde setzen, welches das Volk von Athen vorstellte.«
»Komisch fühlte die Wahrheit dieses Ausdrucks so gar ein Kunstrichter, der, bloß die Noten vor Augen, nicht die geringste Ahndung von dem Gegenstand in der Natur dazu hatte, als er das Urtheil niederschrieb, welches ich unter andern zu Ihrem Zeitvertreib mitbringe: ›Die abgestoßnen acht Achttheile gegen die folgende sforzando gehaltne Dreyviertheilnote, plumpen so ungeschickt auf einander, daß man glauben muß, der Herr Ritter habe uns ein Beyspiel eines musikalischen Satzes geben wollen, durch den man jedermann stutzig machen könne. Auch haben wir die Probe damit gemacht, und befunden, daß er seine vollkommne Wirkung thut und richtig jedermann zum Erstaunen bringt. Diese Wirkung äußert sich gewöhnlich zuerst durch die mit einem verwunderungsvollen Ton ausgesprochne Frage: Was? ist das möglich?‹«
»Man braucht nur hinzuzufügen: können Griechen so barbarisch seyn, und eine reizende junge Königstochter abschlachten wollen? sich empören gegen ihren Heerführer, den Vater, und gegen ihren größten Helden, den Verlobten derselben, weil ihnen zur Abfahrt der Wind ausbleibt?«
[341] »Diese Symphonie kündigt mit erstaunlicher tragischer Majestät erst in der Wehmuth der bittersten Dissonanzen, und dann in der größten Fülle und Stärke von breiten Tonmassen, durch Geigen und Bässe, Hoboen, Flöten, Hörner, Trompeten und Pauken, das Ganze an. Sie ist viel ausgebildeter und leidenschaftlicher, als die vor der Alceste. Der Anfang ist traurig in C moll, neunzehn Takte lang. Darauf kommt C dur in wilder Stärke und der größten Masse, dreyßig Takte nach einander; dann G dur, G moll, A moll mit den kläglichen Accenten der Hoboe dazwischen, bis durch die Tiefen der Harmonie von neuem mächtig C dur herrscht; und so fort G dur, C moll wie anfangs, und endlich noch einmal C dur, und durch G dur 44 der Uebergang zu den Worten Agamemnons: Diane impitoyable, gerade wie der Anfang der Ouverture; welches die große Masse vortreflich zusammenhält und rundet. Das Arioso geht dann gleich in das Recitativ.«
»In der ersten Scene tritt Agamemnon allein auf, und bereut, daß er seine Tochter, unter dem Vorwand, noch vor der Abfahrt der Flotte ihre Vermählung zu feyern, hat kommen lassen, um der Diana geopfert zu werden. Er will nun einen Getreuen absenden, welcher der Mutter und ihr noch vor der Ankunft den Befehl überbringen soll, wieder zurückzukehren, weil Achill in eine Andre verliebt sey; und bittet den Apollo, sein Vorhaben zu begünstigen.«
»Die Musik hat durchaus wahren Ausdruck, und edlen tragischen Ton.«
»Die zweyte Scene aber ist das Meisterstück des ersten Akts. Ein [342] Chor der Griechen kommt mit dem Oberpriester Kalchas, und zwingt diesen, das Orakel zu offenbaren, welches er bis jetzt nur dem Agamemnon und seinem Bruder bekannt gemacht hatte.«
»C'est trop faire de résistance; il faut des Dieux irrités nous révéler les volontés, o Calchas, rompez le silence.«
»Melodie, Harmonie und Rhythmus drücken in der höchsten Vortreflichkeit den Ungestüm junger rascher Helden aus: es ist eine reizende Behendigkeit darin; die Worte werden meisterhaft wiederhohlt und in die Stimmen vertheilt.«
»Kalchas muß das Orakel entdecken; doch verschweigt er noch den Namen des Opfers.«
»D'une sainte terreur tous mes sens sont saisis,« u.s.w.
»Die Musik geht ins hohe Tragische über, und hat an den gehörigen Stellen Schwung des Erhabnen. Die Begleitung der Geigen und Hörner verstärkt den Ausdruck gewaltig. Der Schluß, wo Agamemnon in die Worte des Kalchas einfällt: O divinité redoutable, adoucis tes rigueurs! ist erschütternd.«
»Der Chor darauf: Nommez nous la victime, et prompts à l'immoler sur les autels des dieux tout son sang va couler, wird feuriger.«
»O Diane sois nous propice, conduis nous au bord Phrigien, que notre fureur s'assouvisse dans le sang du dernier Troyen; beschließt voll Inbrunst und Eifer. Die verkleinerte Septime macht den Accent der Leidenschaft.«
»Kalchas verspricht ihnen, daß noch heute das Opfer geschlachtet werden soll.«
»In der dritten Scene ist die Arie des Agamemnon:Peuvent-ils ordonner, qu'un père présente à l'autel u.s.w., ein heftiger [343] Ausguß des Vaterherzens, ganz gediegen und rein in Melodie und Harmonie. Die Worte: et si tendre – à cet, ordre inhumain – sind meisterhaft ausgedrückt; und j'entends retentir dans mon sein le cri plaintif de la nature, ist wahre leidenschaftliche Beredtsamkeit: die Hoboe und der Fagott machen mit ihren abwechselnd einfallenden Accenten und Tönen den Ausdruck sehr sinnlich und rührend.«
»In der vierten Scene läuft das Volk schon, und jubelt, aus der Natur im Fluge dargestellt, über die Ankunft der Mutter und Tochter, zu Agamemnons Entsetzen. Kalchas bringt dabey eine gute Moral an.«
»Der Chor darauf: Que d'attraits! que de majesté! que de grace! que de beauté! macht mit dem vorigen einen entzückenden Kontrast, und das rührendste und reizendste Schauspiel. Klytämnestra und Iphigenia erscheinen, und das Ballet beginnt unter dem Gesange. Die Mutter fühlt sich dabey höchst glücklich, läßt ihre Tochter allein unter den Freudenbezeugungen, und eilt zum Gemahl.«
»Die Musik zu den Balleten ist für die Komponisten der Französischen Opern sehr beschwerlich; sie macht eine eigne Gattung aus, zerstreut die Aufmerksamkeit auf das Ganze, und muß die Formen streng beobachten. Glucks hoher tragischer Genius hat sich ziemlich glücklich durchgeholfen, und es finden sich schöne Melodien voll Rhythmus – unter seinen Tänzen, als z.B. die meisterhaft ausgearbeitete Passecaille im Ballet des zweyten Akts. Er nahm manches dazu aus seinen ältern Werken. Sie sind heitrer Himmel zwischen den Wetterwolken.«
»Bey einem Ruhepunkt des Ballets vernimmt man zuerst die Stimme der Iphigenia in Accenten voll Grazie zu der natürlichen Empfindung: [344] Les voeux, dont ce peuple m'honore, peuvent-ils flatter mes souhaits! Achille à mes yeux inquiets ne s'offre point encore.«
»Die Mutter kommt am Ende desselben wieder, und bringt die verhaßte Nachricht, daß Achill in eine Andre verliebt sey, ermuntert Iphigenien zur Standhaftigkeit, und sucht sie in einer Arie voll Heftigkeit zum Zorn anzufeuern.«
»Klytämnestra läßt die Tochter allein, und diese hat darüber eine Scene voll schöner Weiblichkeit.«
»Achilles trift sie darauf von ungefähr an, und verwundert sich über ihre Ankunft. Sie empfängt ihn kalt und bitter. Er erstaunt. Die Nachricht der Mutter klärt sich bald als falsch auf. Iphigenia entschuldigt sich voll Zärtlichkeit über seine leidenschaftlichen Vorwürfe; und der seelenvolle Accent ihres schönen Charakters herrscht in ihren Melodien. Sie versöhnen sich dann in einem Duett, wo ihre Liebe in hellern Flammen auflodert; welches den ersten Akt schließt.«
Zweyter Akt.
»Iphigenia drückt in einer schönen Arie ihre Furcht aus, daß Achill wegen der erdichteten Nachricht sich mit ihrem Vater entzweyen möchte. Die Mutter kommt dann, und verkündigt, daß die Vermählung sogleich gefeyert werden soll. Achill erscheint mit dem Patroklos; und alles ist voll Freude und Jubel darüber in Chören und Tänzen.«
»Bey diesem allen ist nichts Außerordentliches in der Poesie, und folglich auch nicht in der Musik. Es dient zur Ausfüllung des Ganzen. So wie der Mensch nur Ein Herz hat, und Eine Seele, Ein Paar Augen und Einen Mund, u.s.w.: so hat Gluck auch seine[345] Hauptkraft nur in das Wesentliche gelegt, und es in der höchsten Vortreflichkeit darzustellen gesucht.«
»Die Katastrophe beginnt in der vierten Scene, wo Arkas, Agamemnons Getreuer, Iphigenien, dem Achill und der Mutter entdeckt, daß die Tochter des Heerführers Dianen geopfert werden soll, und daß die Vermählung nur ein Vorwand war und ist.«
»Erstaunen und Entsetzen darüber. Die Truppen des Achilles wollen eher sterben, als es geschehen lassen. Die Mutter fleht den Helden um Rettung an. Dieser geräth in Wuth. Iphigenia sucht beyde zu besänftigen. Dieß giebt ein Terzett voll Leidenschaft, welche sie gegen das Ende, wo Worte nichts mehr sagen und helfen, durch bloßen angehaltnen Ton am stärksten von sich strömen.«
»Achill verläßt beyde mit seinen Worten im Terzett: dévoue à ma rage un inhumain sans foi, o ciel! und sagt in der Scene darauf: Suis moi, Patrocle. Dieser erwiedert: Et que voulez vous faire? voulez vous, n'écoutant qu'un aveugle transport, aussi cruel que les dieux et son père, voulez vous donner la mort? Diese Frage bestürzt ihn; er ruft aus: Qui? moi? und fährt nach kurzer Ueberlegung fort mit den Worten der Arie: Cours, et dis lui, qu'elle n'a rien à craindre, qu'outragé, furieux, mais vaincu par l'amour, quelque soit mon courroux, je saurai me contraindre, et respecter celui qui lui donna le jour; in entzückender Melodie und Harmonie, welche den Charakter des jungen Helden in seiner ganzen Liebenswürdigkeit darstellt. Sie gehört, nebst der Arie, worin Iphigenia von ihm Abschied nimmt, unter das Schönste der Oper. Schade, daß sie so kurze Dauer hat, und nur ein vorüber fliegender Reiz ist. Aber sie sollte ihrer Natur nach nichts Anders seyn.«
[346] »Achilles stößt auf den Agamemnon; sie gerathen beyde gleich heftig an einander, und werden noch heftiger in einem Duett, alles nach der Natur ausgedrückt. Agamemnon will sich nicht drohen und nichts vorschreiben lassen; und Achilles sagt ihm beym Weggehn, daß er ihm erst das Herz durchbohren müsse, bevor er rasend seine Geliebte opfern wolle.«
»Die siebente Scene darauf ist das wichtigste Stück des zweyten Akts; Vater und Heerführer wird darin am rührendsten dargestellt. Im Zorn über den Achill will er die Tochter aufopfern, und ruft Soldaten; besinnt sich aber bald anders: o Dieux, que vais-je faire! c'est ta fille, cruel, que tu leur vas livrer! u.s.w. Doch regen sich, bey der stürmischen Abwechselung von Gefühlen, Stolz und Zorn wieder: faut-il sacrifier l'interêt de la Grèce, faut-il d'Achille endurer le mépris? Der Kampf wird stärker; aber endlich siegt die Natur. Er stellt sich die grausame Handlung recht lebhaft vor, fühlt schon die Gewissensbisse darüber in ihrer ganzen Schrecklichkeit, und schickt seinen Getreuen ab, Mutter und Tochter sogleich aus dem Lager heimlich fortzubringen. Recitativ und Arie machen ein vollendetes Meisterstück.«
»O toi l'objet le plus aimable
que tant de vertus font chérir,
pardonne à ton père coupable
en faveur de son repentir! –
ist Kern und Herz der Oper; und der Rhythmus äußerst sinnlich nach der Situazion.«
Dritter Akt.
»Die Griechen halten den Arkas an mit der Iphigenia:
[347]Non, non, nous ne souffrirons pas,
qu'on enlève aux Dieux leur victime;
ils ont ordonné son trépas,
notre fureur est légitime.
Nun folgen die schönen Scenen der jungen Heldin.«
»Sie bittet den Getreuen des Vaters, nicht länger vergebens sie zu vertheidigen.«
»Achilles kommt dazu, und will sie durch das Geschrey und die Wuth des Volks führen. Sie weigert sich, und sagt: ihr Schicksal sey entschieden; die zärtlichste Liebe habe zwar ihr Leben ihm gewidmet gehabt, und es sey ihr deßwegen theuer. Aber, Il faut de mon destin subir la loi suprème, ist dann die erste Arie voll heroischen tragischen Seelenklanges, gleichsam Einleitung zu der nach einem kurzen Recitative darauf folgenden, worin sie mit höchst rührender wehmüthiger Zärtlichkeit von ihm Abschied nimmt.«
»Es ist Musik aus den lebendigsten Quellen der Natur geschöpft in ihrer reinsten Göttlichkeit, ewig schön und entzückend; die Töne sind aus dem Innersten der Situazion hervorgezaubert, und die Worte glänzen darin wie Perlen; Adel des Charakters und Gefühl der bittern Trennung wunderbar mit einander vereinigt.«
»Von der lyrischen Erhabenheit der Iphigenia des Griechen wird nur Folgendes in den Recitativen beybehalten: Partez, la gloire vous appelle; elle offre à vos regards la carrière immortelle, où vous devez courir: ma mort seule peut vous l'ouvrir.«
»Avez vous cru, qu' Iphigénie pût oublier sa gloire et son devoir? ils lui sont plus chers, que la vie.«
»Gluck hat dieß ganz trocken und flüchtig behandelt, weil es nicht wohl zur höhern Kultur der Französischen Iphigenia paßte, bey der, [348] so wie bey der Mutter und dem jungen Helden, man zu deutlich merkt, daß sie nicht an die Gottheit der Diana glauben.«
»Das unschuldige, so tief eindringende: N' oubliez pas, qu' Iphigénie, digne d'un moins funeste sort, pour seul chérissoit la vie, in der Arie, treibt den Achill zur Wuth. Er verläßt sie mit den Worten: Calcas d'un trait mortel percé sera ma première victime; l'autel preparé pour le crime par ma main sera renversé. Et si dans ce désordre extrème votre père offert à mes coups frappé tombe et périt lui même, de sa mort n'accusez que vous.«
»Die Melodie dazu hat Flug und Feuer des Blitzes; und die Harmonie von Trompeten und Pauken, Hörnern, Flöten, Hoboen und Geigen die fürchterlichste Grausamkeit und Stärke der Schlacht zu Mord und Verderben.«
»Diese Arie entzückte und riß alle Offiziere undChevaliers hin, und entschied Glucks Sieg.«
»Das Schauspiel wird dann immer ergreifender. Man bringt Iphigenien, unter den Chören von Abtheilungen der Armee, zum Altar am Meere; und als sie geopfert werden soll, erscheint Achill mit seiner Schaar. Diana und ihr Priester besinnen sich eines Bessern, und alles geht glücklich aus. Nach einem erfreulichen mit Chören abgewechselten Ballet, krönt das Ganze ein wilder Kriegsgesang in der heroischen Stärke von lauter Oktaven; und Hörner und Trompeten schmettern in Rache schnaubenden Anapästen den Beschluß.«
»Gehemmte Gewalt, und dadurch leidende Unschuld, mit zärtlichen Klagen und wilden Ausbrüchen heroischen Feuers sind das Wesentliche dieser Oper. Das Treffendste, was Musik für solchen Ausdruck[349] vermag, hat Gluck in verschiednen Meisterstücken geleistet. Das minder Wesentliche und Gewöhnliche ist zuweilen sehr trocken und nachlässig; aber man muß wenig Opern kennen, wenn man ihm allein dieß so hoch anrechnen will. Ueberhaupt brechen die Italiänischen Formen hier und da wieder hervor.«
Hildegard hatte das Ganze noch nie so sinnlich vor sich gehabt, und gab Lockmannen ihr Wohlgefallen mit Blicken zu erkennen. Der Mutter selbst war es die angenehmste Unterhaltung; sie hörte aufmerksam zu, und ward tief gerührt von beyder Gesange. Nur meinte sie, daß die Rolle der Klytämnestra so wohl vom Dichter als vom Tonkünstler vernachlässigt sey; und jene hielten ihr Urtheil für gegründet.
Lockmann fuhr alsdann fort und sagte:
»Worin sich Gluck noch von Andern unterscheidet, ist die innere Form seines Takts, die einen ganz eignen Reiz hat.«
»Diese zarte, aber höchst wichtige Materie hat man bey uns noch gar wenig untersucht. Sie ist auch so verwickelt, daß ich befürchte, langweilig, pedantisch zu werden, und Ihnen beschwerlich zu fallen, wenn ich nur das Wesentlichste auseinander setze.«
Hildegard faßte ihn bey der Hand mit sanftem Druck, der ihm süß durch alle Nerven fuhr, und bat inständigst, ihr dieß Vergnügen nicht zu versagen.
»Sie werden die Geduld verlieren,« erwiederte er, und hohlte Bleystift und Papier aus seiner Brieftasche. »Um die Sache Ihrem Gedächtnisse zu erleichtern, will ich Ihnen die fremden Wörter dabey aufschreiben.«
»Poesie, auf den ersten Anblick, ist die Kunst, mit Worten in abgemeßnen Sylben ein Ganzes für die Einbildungskraft darzustellen. [350] Und so ist Musik die Kunst, mit abgemeßnen Tönen, durch Kehlen und Instrumente dasselbe zu bewirken.«
»Maaß haben also beyde gemeinschaftlich: durch die Verschiedenheit desselben entstehen bey jener verschiedne Sylben, Füße und Versarten; bey dieser Töne, die an Höhe, Tiefe und Dauer verschieden sind.«
»Takt ist ein bestimmtes fortgehendes Maaß der Bewegung, die vom feyerlichen Schritt hoher Priester und Könige, bis zur Eile des Blitzes, alle Grade haben kann.«
»Rhythmus ist Verhältniß derselben nach der Natur der Gegenstände, Empfindungen und Gefühle durch die Theile des Ganzen; und gleichsam Flügelschlag und Schweben. Obschon der Mensch keine körperliche Flügel hat, so scheint doch seine Seele sie zu haben, um von einer Idee, einer Empfindung, einem Gedanken auf andre zu kommen: ein schönes sinnliches Bild, das Platon eingeführt hat. Nach seiner Lust frey fortfliegen; angreifen, jagen und fangen; fliehen und sich retten: dieß alles hat seinen besondern Rhythmus in Tönen, in Prosa und in Versen. Musik, und schon Poesie für sich, verlangt kürzere Absätze, als Prose, weil man darin in stärkern Tönen spricht, und öfter Athem schöpfen muß.«
»Zwey, drey, oder vier gleiche Theile machen wieder den Takt aus; alle Arten desselben sind aus zwey, drey, oder vier zusammengesetzt.«
»Die Musik unterscheidet sich von der gewöhnlichen Aussprache durch bestimmt abgemessene Töne; und darin liegt bereits die Nothwendigkeit des Takts.«
»Mit dessen Theilen verhält es sich, wie mit den Sylben der Füße bey Versen. In der Poesie der Griechen müssen wir dessen Mannigfaltigkeit [351] und Vollkommenheit aufspüren, da alle andern Sprachen, besonders die neuern, selbst die Italiänische, von der Vollkommenheit der ihrigen so weit abstehen.«
»Ihr schnellster und kürzester Fuß besteht aus zwey kurzen Sylben.«
∪ ∪ Pyrrichios.
»Ein Waffentanz hatte den Namen davon. Dieser Takt fehlt uns; er müßte der Zweysechzehnteltakt seyn. In Balleten findet man jedoch zuweilen dessen Charakter, in den fortlaufenden vier Achteln des Zweyvierteltakts.«
»Nach diesem kommt der Fuß von drey kurzen Sylben:
∪ ∪ Tribrachys.«
»Der Dreysechzehnteltakt. Händel setzte noch Tänze darin. Bey uns ist er abgekommen; doch hat unser Dreyachteltakt bey raschen Walzern denselben Charakter.«
»Die Griechen nahmen an: eine lange Sylbe ist immer gerade zwey kurzen gleich, und zwey kurze Sylben sind gleich einer langen. Folglich waren demTribrachys an Dauer der Zeit gleich:
∪ – der Jambos;
– ∪ der Trochaios.«
»Die Griechischen Dichter und unsre Tonkünstler vermischen sie mit dem vorigen; die letztern nur nicht nach so bestimmten, dem Ohr abgelauschten Regeln. Jambos und Trochaios sind in ihrem Charakter einander entgegen.«
»Da man bey diesem geschwinden Takt nur Eine Zeit fühlt: so drückt auch Eine Note schon alle drey Kürzen aus; welches bey Versen auch der allerlängsten Sylbe nicht gestattet wurde. Hierin weicht die Musik von der Poesie völlig ab; ein ganzer Schlag kann sogar zwey und dreyßig Kürzen ausdrücken.«
[352] »Dann folgt
– – der Spondeios.«
»Unser Zweyvierteltakt.«
»Bey diesem entsteht schon mehr Mannigfaltigkeit von Sylben und Füßen. Ihm gleich an Dauer der Zeit sind:
∪ ∪ ∪ ∪ der Prokeleusmatikos.
– ∪ ∪ der Daktylos.
∪ ∪ – der Anapaistos.
∪ – ∪ der Amphibrachys.«
»Die Tonkünstler verwechseln diese wieder nach Belieben. Den Amphibrachys nahmen die Griechen in ihre anapaistische Versart nicht auf; und äußerst selten den Prokeleusmatikos.«
»Darauf kommen fünf kurze Sylben.«
∪ ∪ ∪ ∪ ∪
»Dieser Fuß besteht aus dem Pyrrichios undTribrachys, wird von den Griechen nicht gebraucht, und hat keinen besondern Namen. Ihm gleich sind:
- ∪ – – der Bakchios;
- – ∪ – der Amphimakros, auch Kretikos genannt;
- – – ∪ der Antibakchios;
- – ∪ ∪ ∪ der erste Paion;
- ∪ – ∪ ∪ der zweyte Paion;
- ∪ ∪ – ∪ der dritte Paion;
- ∪ ∪ ∪ – der vierte Paion.«
»Diese Füße geben für unsre Musik keinen besondern Takt. Bey den Griechen war die paionische Versart daraus zusammengesetzt. Unser verwöhntes Ohr kann den Fünfschlag nicht fassen.«
»Dann folgt unser Dreyvierteltakt:
- [353] – – – der Molossos. Diesem gleich sind:
- – – ∪ ∪ der Jonikos, welcher mit zwey langen
- ∪ ∪ – – der Jonikos, welcher mit zwey kurzen Sylben anfängt;
- – ∪ ∪ – der Choriambos;
- ∪ – – ∪ der Antispastikos;
- ∪ – ∪ – der Diiambos;
- – ∪ – ∪ der Ditrochaios.«
»Aus diesen Füßen setzten die Griechen ihre antispastischen und Jonischen Versarten zusammen. Unsre Tonkünstler brauchen sie nach Willkühr in den Takten, die aus drey Theilen bestehen.«
»Alsdann kamen Füße von sieben Kürzen:
∪ – – – der erste Epitritos;
– ∪ – – der zweyte Epitritos;
– – ∪ – der dritte Epitritos;
– – – ∪ der vierte Epitritos;
die zum Theil in der antispastischen Versart gebraucht wurden.«
»Und endlich schließt:
– – – – der Dispondeios, unser Vierviertelakt; in welchem alle Füße vorkommen können.«
»Wenn man alle diese Füße wieder unter sich zusammensetzt, welche erstaunliche Mannigfaltigkeit gegen unsre neuern Reimereyen!«
»Hätten wir nur noch die Melodien zu einigen Tänzen der Griechen! besonders der Jonier und Jonierinnen, die in jeder Rücksicht wegen der Gelenkigkeit ihrer Körper berühmt waren.«
»Wer den Charakter dieser Füße nicht in den Schauspielen des Sophokles, Euripides und Aristophanes, oder den Oden des Pindar studiren kann, muß ihn mit seinem eignen Gefühl für sich [354] zu fassen suchen. Daß der Jamb ∪ – eine andre Art von Bewegung ausdrückt, als der Trochaios – ∪, wird auch einem Ungebildeten auffallen; und so der Anapaistos ∪ ∪ – gegen den Daktylos – ∪ ∪; und so der vierte Paion ∪ ∪ ∪ – gegen den ersten – ∪ ∪ ∪; so der Choriambos – ∪ ∪ – gegen den Antispastikos ∪ – – ∪; und so der Jonier ∪ ∪ – – gegen die Jonierin – – ∪ ∪.«
»Wie ein Praxiteles die Formen, ein Apelles die Formen und Farben in der Natur nachbildet und zur höchsten Schönheit bringt: so lauert einGluck auf Töne und Bewegungen, auf deren Langsamkeit, Geschwindigkeit, Schwierigkeit, und Hindernisse, Verwickelungen, Verflechtungen, leichte Schwalbenwendungen, hohe Adlerflüge, und die Stöße des Falken, der seine Beute fängt. Er hat von Kindheit an seine Lust am Spiel und den Balgereyen der Knaben, an dem zarten Gange und dem Freudentanz der Jungfrau, an dem leichten Laufe des Jünglings, und dem kühnen unaufhaltbaren Tritt der Männer zum Kampf und zur Schlacht. Sein Entzücken ist das Säuseln der Weste in heiligen Haynen, der Orkan, der auf Wasserkolossen im Meere reitet, und die gebrochne Woge, die wieder zur Ruhe wallt.«
»Aus seiner Phantasie und seinem Herzen schöpft er alsdann, wie ein Gott, das Spiel der zwey und dreyßig Winde aller Leidenschaften, und stellt, gleich einem Hannibal und Cäsar, die Faustinen und Gabrieli, die Farinelli und Pacchiarotti, die Lolli, Kramer, Lebrün undPunto in Schlachtordnung: ein Zevs, allgegenwärtig bey dem furchtbaren Gewitter; und der Donner rollt erschütternd mit vollem warmen Sommerregen über die schmachtenden Saaten seiner Welt.«
[355] »Unsre heutige Musik hat einen unendlich größern Reichthum an Sylben zu ihren Takten, als die Griechische Sprache; und diese selbst wäre für ihren lustigen Genius nicht gelenk genug.«
»In unserm Viervierteltakt zum Beyspiel sind doppelte Längen: Viertel, Achtel; und doppelte Kürzen: Sechzehntheile, Zwey- und Dreyßigtheile. Die letztern sind bey mäßiger Bewegung schon wahrer Flug gegen den Atalantalauf des Griechischen Prokeleusmatikos. Auch keuchen, stöhnen und hinken die terrestrischen Nordischen Sprachen dem luftigen Wesen oft erbärmlich nach. Wie muß sich Achilles zum Beyspiel plagen, die Worte, selbst der Französischen, die im gewöhnlichen Leben so geschmeidig ist, Calcas d'un trait mortel percé, mit dem flammenden Strahl der Gluckischen Melodie zu gatten∪– ∪ ∪ ∪ ∪ ∪ –!«
»Man sollte glauben, die Geschwindigkeit wäre übertrieben; aber sie hat wirklich Grund in den Verhältnissen unsers Fünf- oder Sechsoktavensystems. Das tiefste C auf unsern Kontrebässen verhält sich schon gegen das dreygestrichne der Geigen gerade wie Eins zu Zwey und dreyßig. Wenn also die Bässe ein Paar Polyphemsschritte thun, laufen oder stiegen vielmehr die Geigen, Flöten und Hoboen, und auch die Stimmen der Marchesi und Todi, ganz natürlich deren zwey und dreyßig.«
»Wir können, besonders in der Instrumentalmusik, aus ganzen und halben Schlägen, Vierteln, Achteln, Sechzehntheilen und Zwey- und Dreyßigtheilen eine solche Menge verschiedner Füße oder Takte zusammensetzen, daß die zwey Dutzend Griechischen weit zurückbleiben müssen. Man sollte sie wohl einmal zählen und ordnen, und die verschiednen schönsten Formen nach vortreflichen Mustern in Klassen bringen. Bis jetzt sind sie bloß dem Instinkt überlassen[356] worden. Die Kunst der Musik erhebt sich schon dadurch allein über den Ausdruck der Sprachen in allem, was Bewegung, Leben und Leidenschaft betrift; und kann in der Folge zu einer weit höhern Vollkommenheit gelangen.«
»O, wie wünscht' ich,« fiel Hildegard ein, »daß der gute alte Reinhold hierbey zugegen wäre!«
»Wollen wir tiefer philosophiren,« fuhr Lockmann ferner fort, »so giebt uns die Musik in ihrer Mannigfaltigkeit gleichsam die allerfeinsten Elemente der Zeit. Die Sekunde, womit wir die Minute, und die Minute, womit wir die Stunde messen, passen so ziemlich für die gewöhnlichen Pulsschläge unsers Lebens. Die Vocale der Töne und Sprachen aber können wie Blitze nach der Schnelligkeit unsrer Gedanken, Gefühle und Handlungen entstehen und verschwinden.«
»Die Füße insgesamt sind die mannigfaltigen Formen der Bewegung in ihrer Reinheit von der Materie abgesondert. Die Mittel, wodurch sie sich dem Gehör äußern, sind Töne und Worte; und durch Töne und Worte stellt die Kunst die Wirklichkeit in der Natur selbst dar.«
»Wir wollen also zum Beyspiel nur die Wirklichkeit aufsuchen, die der allgemeinste Fuß in allen Sprachen, der Jambos, darstellt∪ –; und dieß am Menschen. Er bewegt sich am öftesten mit Händen, Armen, Füßen und Beinen. Wir finden gleich die Form, wenn er mit der Rechten aushohlt und zuschlägt. Die kurze Sylbe drückt die Bewegung aus, und die lange die auffallende Kraft. An den Beinen ist sie ein Sprung, ein rasch fortgesetzter Doppelschritt. Wollen wir noch andre Theile des Körpers nehmen? Ein zum Kusse gehaschter Mädchenkopf. Nun die Worte, welche diese Handlung ausdrücken: ich schlug, ich sprang, ich schritt, ich küßte sie. Die Form kommt ganz mit der Bewegung überein.«
[357] »Dem Jamb folgt der Anapäst ∪ ∪ –, und dervierte Paion ∪ ∪ ∪ –. Die Kraft wird mächtiger bewegt: von dem Gebirg' in das Thal herab zu der vertilgenden Schlacht.«
»Gluck geht mit seiner lebendigen Kunst in der Arie des Achilles noch viel weiter, bey
∪ – ∪ ∪ ∪ ∪ ∪ –
Calcas d'un trait mortel percé;
man hört und sieht den Wurfpfeil fliegen, und mit fürchterlicher Gewalt durchbohren.«
»Die diesen entgegen gesetzten Füße haben nichts Angreifendes, und sind furchtsam, schüchtern, zärtlich, weichlich, freudig, oder auch sicher und majestätisch; Kraft im Genuß ihrer selbst und des Lebens; und so weiter.«
»Die Sylben und Wörter der Sprachen sind wahrscheinlich erst nach bloßen Tönen entstanden und erfunden worden; und so scheint auch der Vers seinen Ursprung der Melodie zu verdanken zu haben. Für das epische Gedicht hat ihn hernach schon die verstärkte Aussprache eingeführt. Eine gewisse Harmonie des Zeitmaaßes erleichterte nicht allein die Anstrengung der Stimme, sondern machte auch den Vortrag faßlicher und gefälliger.«
»Der Vers richtet sich nach der Verschiedenheit der Sprachen, und nach dem Inhalt und Umfang des Ganzen.«
»Die Stammsylbe, das Wesentliche des Worts, erfordert zwar an und für sich längere Dauer, als die Nebensylben; doch kann die Natur des Dinges, die Beschaffenheit und das Verhältniß desselben zu andern, in der Verbindung sie äußerst kurz machen.«
»Der Reim in den neuern Sprachen ist meistens nur ein sinnliches Zeichen des vollendeten Zeitmaaßes.«
»Eben weil der Vers ein größeres Zeitmaaß als ein Fuß seyn soll, muß er aus mehreren Füßen bestehen; und so eine Strophe aus mehreren Versen.«
[358] »Die Theile der längsten Taktarten, und die Sylben aller Füße, lassen sich, wie jede Zahl, auf gleich oder ungleich zurück bringen; jedoch nicht auf ein Maaß von zwey oder drey. Es giebt so erhabene Gefühle und Gegenstände, für die ein solches zu kleinlich wäre, wenn man es merkte. Sogar die längsten Taktarten sollten bey hohen lyrischen Scenen nur hörbar seyn, wie Geripp in lebendiger Schönheit erscheint.«
»Obgleich die Worte der Opern im Italiänischen und Französischen fast durchaus Jamben sind, so kommen doch alle Füße der Griechischen Poesie darin vor: aber nur wild und von ungefähr, nicht durch die Kunst für sichre Wirkung gebildet; welche höherer Genuß und Verstand mit der Zeit doch wieder einführen wird 45.«
»Der Jambische Vers der Griechischen Schauspiele bestand aus sechs Füßen. Im zweyten, vierten und sechsten Fuße mußte der Schwung des Jambos immer rein herrschen; nur im vierten durfte derTribrachys bey der Majestät der Tragödie sich noch blicken, lassen, äußerst selten im zweyten und letzten. Die Komödienschreiber hatten größere Freiheit. Im ersten, dritten und fünften Fuße nahmen zwar zur Abwechselung noch der Spondeios, Anapaistos und Daktylos ihre Stelle ein; aber nie erschien der Trochaios. So zart war das Ohr der Athenienser!«
»Die Italiäner sind schon zufrieden, wenn in ihren fünffüßigen Jambischen Versen nur zwey erträgliche Jamben vorkommen, und sie nehmen darin alle andern Füße auf Sie haben weiter keine [359] Regel, als den Wohlklang. Eben so die Franzosen. Daraus entsteht bey ihren Versen, Arien und Stanzen eine unendliche Mannigfaltigkeit; die entgegen gesetztesten Füße vereinigen sich da zusammen. Zuweilen findet sich nach der gewöhnlichen Aussprache, selbst bey den besten Dichtern, nicht Ein Jamb. Man nehme den Ariost in einer Menge Verse.«
»Si perfetto destrier, donna si degna,
A un ladron non mi par che si convegna;
ruft Rinald dem Sacripant in vortreflichem Rhythmus zu. Es sollen Jamben seyn, sind aber
∪ ∪ – ∪ ∪ – – ∪ ∪ – ∪
∪ ∪ – ∪ ∪ – – ∪ ∪ – ∪
Anapaisten, Daktylen, undTrochaien.«
»Die Deutschen Dichter gestatten in ihren Jambischen Versen keinem andern Fuße den Zutritt, und foltern in längern Gedichten Natur und Sprache, so daß das Ohr bey ihren besten Werken sich nach einer guten Prose und den göttlichen Knittelversen desHans Sachs zurücksehnt.«
»Bey Opern, die in ihren Jamben geschrieben sind, muß der Tonkünstler für die Menschenstimme, das Wesentliche, seinem unendlichen Reichthum entsagen, und sich mit einer ekelhaften Armuth gatten. Wahrscheinlich flickten die ältern deßwegen in der Verzweiflung Italiänische Arien ein, da die Dichter hartnäckig taub waren und von ihrer Gewohnheit nicht lassen wollten.«
»Es ist eine Lust anzuhören, wie Gluck die Jamben der Französischen Dichter in alle möglichen Füße der Griechischen Poesie verwandelt; nicht an einzelnen Stellen, sondern überall. Wir wollen bey dieser Oper gleich von vorn anfangen.«
[360]»Diane impitoyable, envain vous l'ordonez
Cet affreux sacrifice!
Envain vous promettez
De nous être propice;
De nous rendre les vents, par votre ordre enchainés.
Non, la Grèce outragée
Des Troyens à ce prix ne sera pas vengée!
Je renonce aux honneurs, qui m'étoient destinés;
Et dût-il m'en couter la vie!
On n'immolera point ma fille Iphigénie.«
»Die mehrsten Jamben sind in der Musik in Anapaisten verwandelt:
∪ ∪ – ∪ ∪ – ∪
cet affreux sacrifice,
∪ ∪ – ∪ ∪ – ∪
de nous être propice,
∪ ∪ – ∪ ∪ – ∪ ∪ – ∪ ∪
de nous rendre les vents par votre ordre enchainés.
∪ ∪ – ∪ ∪ – – ∪ ∪ – ∪ – ∪
Des Troyens à ce prix ne sera pas vengée.
∪ ∪ – ∪ ∪ – ∪ ∪ – ∪ ∪
Je renonce aux honneurs, qui m'etoient destinés.
∪ ∪ – ∪ ∪ – ∪ – ∪
Et dût il m'en couter la vie,
∪ ∪ – ∪ ∪ –
On n'immolera point.«
»Beym Sophokles selbst findet man nirgends in so wenig Zeilen der anapaistischen Versart deren so viele.«
»Im Chor der Griechischen Soldaten werden die schnellsten andern Füße damit vermischt.«
∪ ∪ ∪ – ∪ ∪ –
Il faut des Dieux irrités
∪ ∪ ∪ – ∪ ∪ ∪ –
Nous révéler les volontés.
»Dreymal nach einander der vierte Paion. Die Generale fallen eben so in die Stimmen des Heers ein:
[361] ∪ ∪ – ∪ ∪ –
Pour calmer leur courroux
∪ ∪ ∪ – ∪ – ∪ ∪ ∪ –
Quel sacrifice exigent ils de nous?«
»Man muß weder Ohr noch Herz haben, wenn man die furchtbare Gewalt des Rhythmus hier nicht fühlen will, und sich einbildet, er habe bey dem Reichthum der neuern Musik nicht viel zu bedeuten.«
»Kalchas antwortet gleichfalls darin:
∪ – ∪ – ∪ ∪ ∪ – ∪
Pourquoi me faire violence?
und so weiter dann in Anapaisten:
∪ ∪ – ∪ ∪ – ∪ ∪ – ∪ ∪ –
D'une sainte terreur tous mes sens sont saisis, u.s.w.
und das Volk darauf immer in Musik in derselben Versart:
∪ ∪ – ∪ ∪ – ∪
Nommez nous la victime
∪ – ∪ ∪ ∪ –
Et prompts a l'immoler
∪ – ∪ ∪ ∪ –
Sur les autels des dieux
∪ ∪ – ∪ ∪ –
Tout son sang va couler –
∪ – ∪ ∪ – ∪ ∪ – ∪
Que notre fureur s'assouvisse
∪ ∪ – ∪ ∪ – ∪ –
Dans le sang du dernier Troyen.«
»Nun auf einmal ganz andre Griechische Füße im Chor des Volks bey dem reizenden Aufzug der Iphigenia mit der Mutter:
– ∪ – ∪ ∪ – – –
Que d'attraits! que de majesté!
– ∪ – ∪ – – – –
Que de grace! que de beauté!
– – – ∪ – – – ∪ – – ∪ – ∪
Qu'aux auteurs de ses jours elle doit être chère!
– ∪ – – – ∪ – –
Agamemnon est à la fois
∪ – – ∪ – – ∪
Le plus fortuné père
∪ – ∪ – ∪ – – – – – 7 –
Le plus heureux époux et le plus grand des Rois.«
[362] »Der am öftesten gebrauchte Kretische Fuß macht hier den Ausdruck süßer Bewunderung; und der Jonische bey que de majesté, geht in Erstaunen über. Der Molossos zeigt recht die Fülle beyque de beauté, und Gewalt und Stärke bey et le plus.«
»Man sieht wohl, daß Gluck, um Einheit des musikalischen Ausdrucks zu erhalten, einigen Sylben mit dem Kretischen Fuße Gewalt anthat, als bey Agamemnon est à la fois – 46.«
»Und eben so hernach bey den frohen Daktylen der Mutter:
∪ – ∪ – ∪ ∪ – ∪ ∪ –
Que j'aime à voir ces hommages flatteurs –
– ∪ ∪ – ∪ – ∪
Pour une mère tendre
– ∪ ∪ – ∪ – ∪ –
Que ce spectacle a des douceurs.«
»Gerade bey den leidenschaftlichsten Scenen brauchtGluck den Griechischen Accent am häufigsten; und er hat gewiß zur starken Wirkung derselben nicht wenig beygetragen.«
»Zum Beyspiel noch die berühmte Scene der Reue Agamemnons:
∪ – ∪ – ∪ ∪ ∪ – ∪
O toi l'objet le plus aimable,
∪ – ∪ – – – – –
Que | tant de ver|tus font chérir,
∪ – ∪ – – ∪ – – ∪
Par|donne à ton | père cou|pable
∪ ∪ – ∪ – ∪ – –
En faveur de | son repen|tir.«
»Man muß die Melodie hören, um zu fühlen, wie der Kretische Fuß hier das Herz angreift! einmal, wo der gewaltige Molossos darauf folgt; und dann, wie er doppelt hinter einander gleichsam schluchzt.«
»Und den eben so berühmten Abschied der Iphigenia:
[363] ∪ – ∪ ∪ – – ∪ ∪ ∪
Adieu! conservez dans votre ame
∪ ∪ ∪ – ∪ ∪ ∪ –
Le souvenir de notre ardeur;
∪ – ∪ ∪ ∪ – ∪ – ∪
Et qu'une si parfaite flamme
– ∪ ∪ – ∪ – ∪ ∪
Vive du moins dans votre coeur.
∪ ∪ ∪ – ∪ ∪ ∪ – ∪
N'oubliez pas, qu Iphigénie,
– ∪ ∪ – ∪ ∪ ∪ –
Digne d'un moins funeste sort,
∪ ∪ ∪ – ∪ ∪ ∪ – ∪
Pour vous seul chérissoit la vie
∪ ∪ ∪ – ∪ ∪ ∪ –
Et vous aima jusqu' à la mort.«
»Der vierte Paion ∪ ∪ ∪ –, der Fuß heftiger Leidenschaft, herrscht hier durchaus; er kommt nicht weniger als zehnmal vor, und nach der gewöhnlichen Aussprache kaum ein einziges mal, bey Qu'une si parfaite. Die sogenannte gute Taktzeit mildert die Kürzen, daß das Fremde nicht auffällt. Am mehrsten greift der Choriambos mit dem vierten Paion vereinigt das Herz an bey
– ∪ ∪ – ∪ ∪ ∪ –
digne d'un moins funeste sort,
Gluck verstärkt ihren Ausdruck noch durch die Begleitung der Melodie in Oktaven.«
»In der dann folgenden Arie des wüthenden Achilles braucht er den heftigsten unter allen, den Prokeleusmatikos,∪ ∪ ∪ ∪, bey, den Worten
– ∪ ∪ ∪ ∪ – ∪ – ∪
Et | si dans ce dés|ordre extrême
∪ ∪ – ∪ – ∪ ∪ –
Votre père offert à mes coups
∪ – – – ∪ ∪ – ∪ – ∪
Frappé tomb|e et périt lui même, u. so weiter.«
»Der Bakchios Frappé tombe schlägt ein, recht wie ein Wetterstrahl.«
»Gluck hat schwerlich den Rhythmus der Griechischen Dichter in ihren Werken studirt, und dieser war also bloßer Instinkt seines [364] göttlichen Genies. Man kann wohl sagen, daß er der Französischen Sprache zuerst eigentlichen lyrischen Accent, Tanz und Beine gegeben hat. Die reizende Neuheit entzückte; kein Mensch beschwerte sich darüber; man konnte nicht müde werden, das Wunder anzustaunen.«
Hildegard sagte Lockmannen warmen herzlichen Dank für seinen neuen Unterricht; und gestand ihm mit der lebhaftesten Freude, daß sie den eigenthümlichen Reiz Gluckischer Musik nie so klar erkannt habe. Sie fügte hinzu:
»Warum vereinigte sich statt Bailli's de Roulet nicht einer von unsern Deutschen klassischen dramatischen Dichtern mit dem großen Meister! und warum trieb und lockte und reizte nicht beydeJoseph oder Friederich, Karl Theodor, oder ein Nachkömmling von dem Augustus der Hassischen Muse, ein unsterbliches vaterländisches Werk der höchsten Kunst hervorzubringen, weßwegen uns die drey stolzen Nazionen, bey denenHasse, Gluck und Händel Epoche machten, beneiden würden!«
Lockmann antwortete:
»Gluck trägt lange diesen Gedanken mit sich herum, und es ist seine liebste Beschäftigung, auf die treffendsten Melodien und Harmonien zu Klopstocks Hermanns Schlacht zu sinnen. In seiner Phantasie sind die mehrsten Gesänge schon ausgearbeitet, und er singt sie zuweilen am Klavier, obgleich noch keine Note davon aufgeschrieben ist.Millico, der ihn, wie Salieri, und mancher berühmte Meister, mit dem ich mich über ihn unterhalten habe, für das größte musikalische dramatische Genie hält, das je gelebt hat, und über alle seine Neapolitaner setzt, sprach mit mir darüber noch voll Entzücken; und sagte, die Italiänische Nazion würde nichts, [365] weder in lyrischer Poesie noch Musik, aufzuzeigen haben, was damit in Vergleichung gesetzt werden könnte.«
»Nur ist zu befürchten, daß verschiednes seinen Eifer erkältet habe 47.«
Sie sprachen mehr hierüber; und gingen dabey im Saal auf und nieder. Es fing schon an dunkel zu werden; um so weniger wich die Mutter von der Stelle.Lockmann zögerte, und zögerte; mußte aber endlich fort gehn. O, wie so ungern verließ er Hildegarden! Wie setzte der süße Blick ihrer schönen Augen, das holdselige Lächeln ihres schönen Mundes alles bey ihm in Wallung! O wie sehr schmachtete er nur nach einem Kuß, einer Umarmung! Aber auch nicht ein Augenblick war dafür zu erhaschen.
Er stand auf der Treppe, und unten im Hofe, wo er den Schlüssel an der Gartenthür erblickte, noch einigemal still. Niemand ließ sich sehen; nun konnte er sich nicht bändigen, und schlich sich hinein.
Er taumelte vor Begierde, wie ein lüsternes Kind, nach der Wasservertiefung, und lauschte zwischen den Lindenstämmen, ob Jemand käme. Es wurde völlig dunkel, und noch kam Niemand. Der Tag war wieder warm gewesen, und jede Fiber in ihm verlangte und hoffte voll Entzücken und Bangigkeit, daß Hildegard zum Bade kommen sollte. Die Sterne schwebten am Himmel funkelnd im ewigen Freudenfeuer ihre Straße fort; Lyra, Kassiopeja, Andromeda blickten freundlich in sein Wesen. Hildegard, schöner als sie alle, die Zierde der Schöpfung, erschien nicht. Die Glocken schlugen Viertel und Stunden in sein hochlebendiges Gefühl, bis das Silberlicht vom Aufgang des Mondes in Osten sich zeigte, er selbst dann [366] groß und hehr am Wald empordrang, und Blumen und Gesträuch, Zweig' und Wipfel des Gartens überglänzte. Wie ein Nimrod stand Lockmann auf der Lauer; aber das scheue flüchtige Reh erschien nicht.
Er trat im Schatten leise auf und ab, und wagte sich wieder bis vor den Eingang. Mitternacht war vorbey; nichts regte sich mehr im Hause. Er fand die Thür noch unverschlossen. Kaum könnt' er so viel Besinnung fassen, daß er dem Versuch widerstand, sich wie ein Dieb die Treppe hinauf bis in ihr Heiligthum zu stehlen. Lärm – das fühlte er – dürfte sie doch nicht machen, wenn er einmal bey ihr wäre. Bewunderung und Anbetung ihres hohen Wesens, die Charitinnen der Venus Urania, hielten ihn wie sichtbar selbst an der Rechten zurück, und Amor schwebte mit raschen Fittichen voran, und zog ihn mächtig bey der Linken: als ein Wind sich regte, und ein Fenster zuschlug, die Zweige rauschten, die Luftbilder verschwanden, und er sich plötzlich in Sicherheit entfernte.
Heftiger im Innern bewegt, ging er wieder zu der Wasservertiefung. O, wie die Quellenfluth ihm so lieblich in die Seele blinkte! Er sprach mit ihr, und dem Mond, dem Orion, Sirius und Stier am östlichen Himmel, mit Blumen und Gesträuch; kleidete sich gegen Morgen aus, und senkte seine Gluth in das entzückend frische reine göttliche Element, an einer Stelle, wo er bis an die Brust Boden fand, weil er nicht schwimmen gelernt hatte; tauchte dann den Kopf hinein, rauschte mit den Armen umher, und hätte sich vor schmachtender Lust ersäufen mögen, in dem Versuch, wie sie herumzuwallen. Abgekühlt trat er heraus, that einige Sätze in die Luft, wandelte kindisch, wie sie das erstemal, auf dem Rasen herum, trocknete sich dann ab, kleidete sich wieder an, und spähte nun die[367] beste Stelle aus, wo er bequem über die hohe Mauer klettern könnte; denn zu bleiben hielt er für allzu gefährlich. Am Ende des Gartens fand er eine Buche, von welcher ein paar starke Aeste sich über die Mauer streckten. Er hohlte noch eine nicht völlig glatte Stange, woran man sich festhalten konnte, um auf der andern Seite sich daran niederzulassen; schnitt dann in die zarte Rinde der Buche den Nahmen Iphigenia zum Andenken, kletterte hinauf, zog die Stange nach, und stellte sie auf der andern Seite fest. So kam er glücklich herunter, und durch die öden Straßen in das Schloß, nur von der da stehenden Wache bemerkt, die ihn erkannte, und ungestört auf seine Zimmer gehen ließ.
Er überblickte noch einmal aus dem Fenster seine Pfade, und die reizende, lieblich vom Mond beleuchtete Gegend; kleidete sich dann aus, aß noch ein nahrhaftes Stück kalten Kalbsbraten, und trank dazu eine Flasche köstlichen Burgunder; legte sich, als schon der Morgenschimmer lebendig in Osten auftrat, zu Bette, voll von Hildegarden und ihrem Zauberkreise, und wiegte sich damit in einen erquickenden Schlaf ein.
Fußnoten
1 Ich habe vernommen; sey zufrieden, wenn ich aufhöre dich zu hassen.
2 Unglückliche Sophonisbe, nun bist du auf dem Gipfel des menschlichen Elends! – Ohne Hofnung beklag' ich mich vergebens.
3 Welch ein wildes Schicksal, welch ein seltner Fall ist der meinige!
4 Sophonisbe, was wartest du?
An meinen Lippen hab' ich schon den tödtlichen Becher. Warum zittert mir die Hand? Welch eine Dunkelheit verbreitet sich rings um mich! Unter den unsichern Tritten warum wankt mir der Boden! Wo bin ich? Was ist mir geschehen? ist dieß vielleicht der natürliche Schauder vor dem furchtbaren Uebergange? Ha, ich glaubte nicht, daß der Anblick des Todes so schrecklich wäre!
Aber welch ein froher und zugleich wilder Schall? Woher? man sehe! macht auf!
O entsetzlicher Anblick! die Schiffe, die Gefangnen!
Vergebens erwartet ihr mich, ihr Stolzen! ich werde nicht kommen, meine Vertheidigung ist diese. – Getrunken!
O Gott! aber muß ich endlich so sterben! – Die Bande, die Ketten!
Ich Elende! Alle weichen von mir weg, und mir bleibt allein übrig – welche grausame Hülfe! – meine Standhaftigkeit.
5 Dieses ist die einzige, welche der vorige Herzog von Wirtemberg von den Opern, die Jomelli für seine Feste schrieb, hat herausgeben lassen. Durch wessen Schuld die andern zurückgeblieben seyn mögen?
Wer sie, so wie einige der folgenden, nicht kennt, kann, wenn er will, die wenigen Blätter, die sie betreffen, überschlagen. Manchem Freund der großen Künstler ist es doch wohl angenehm, daraus wenigstens ihre Existenz bestimmt zu vernehmen; auch ohne das Anerbieten im Vorbericht dieses Werks.
6 Undankbarer! so sehr hassest du mich also, und fliehst mich, daß du, wenn ich eile zu sterben, um mit dir vereinigt zu seyn, ins Leben zurückkehrst?
7 Ein Roß, das sich der Wohnung nähert, beschleunigt schneller seinen Lauf.
8 Lernt unerfahrne Mädchen! jeder nennt euch sein Liebstes – Nehmt euch vor ihnen in Acht! es ist lauter Betrug.
9 Was hab' ich vernommen, ewige Götter! welch ein unerwarteter Donnerschlag!
10 O die Gesetze der Freundschaft sind nicht bis auf diesen Punkt streng; der Prinz verzeihe!
11 Der Wille Jupiters, der Schatten meines Vaters, das Vaterland, der Himmel, das Versprechen, die Ehre, das verbreitete Gerücht ruft mich zu den Küsten Italiens.
12 Als einen schlechten Auswurf der Fluthen nehm' ich ihn vom Ufer auf.
13 Armer Vologes! ach, daß ich dich verliere! und dich verliere auf ewig! – Mein Herz aber, ha Tyrann! das wirst du nicht erhalten.
14 Du verlangst mein Herz? Das Herz will ich dir geben. (Vor sich.) Aber treulos! was red' ich! Grausamer, hoff' es nicht, nein, nein! Aber warte, aber höre, aber hemme den Zorn; ja, das Herz will ich dir geben.
Welch ein Abgrund von Qualen! überall ist Gefahr; ich habe keinen Rath, keine Vernunft mehr.
15 Welch eine düstre Zurüstung von Schrecken und Trauer! welch eine klägliche und wilde Wohnung von Finsterniß und Schatten! O weh! träum' ich, oder wach' ich? Ich höre, oder mich dünkt zu hören die Stimme, das Aechzen des sterbenden Gatten.
Und diese schwarze tiefe Dunkelheit, die da aufsteigt! – Ha, barbarischer Tyrann, du hast meinen Gemahl ermordet.
16 Blasser Schatten, der du hier dich aufhältst, blutige Gestalt, die du um mich her irrst, was rufst du mich? was willst du von mir?
17 Bey der bloßen Vorstellung vergeht mir der Athem, bricht mir der Schweiß aus, erstarr' ich.
18 Auf diesem todten Gesichte will ich mein krankes Leben aushauchen.
19 Schon im Jahre 1632 wurde eine Oper Phaeton zu Rom aufgeführt. Auch Graun mußte einen in Musik setzen.
20 Tyrannische Götter, nicht so viel Strenge! besänftigt den Kummer eines armen Herzens.
21 Verdammt mich das harte ungünstige Schicksal zu sterben: ha! so will ich wenigstens als ein Tapfrer fallen, ohn' einen Schatten von Feigheit.
Die ganze Welt rede dann zu ihrem Erstaunen von meinen Unfällen; und die Sterne mögen erröthen über ihre Grausamkeit.
22 Ich höre das Wiehern der erhitzten Rosse.
23 Der Herr sprach zu meinem Herrn: Setze dich zu meiner Rechten, bis ich deine Feinde zum Schemel deiner Füße lege; u.s.f. Ps. 110.
24 Stör' ich je deine Ruhe, so habe mein Herz keinen Frieden!
25 Porus starb also! Wenn der Himmel mich von meinem theuren Gatten trennt; u.s.f.
26 Die süße Gattin sich rauben sehn.
27 Armer Kleiner, du weißt dein Schicksal nicht.
28 Ha, du wendest den Blick anders wohin!
29 Dircea bin ich, gehe zum Tode, habe kein Verbrechen.
30 Wenn ich dir alle meine Leiden sagen könnte, so würd' ich dir vor Wehmuth das Herz zertheilen.
32 Theure Stimme meines Geliebten, ich höre dich, erkenne dich wieder.
33 Feucht und nebelicht steigt schon die dunkle Nacht herauf.
34 O, aus Barmherzigkeit, verbirg mir wenigstens die herbe Wunde dieser Brust!
O, aus Barmherzigkeit! sage mir nicht, daß der Undankbare dir das Leben nahm, der es von dir erhielt.
35 Empfange das letzte Lebewohl, laß mich nicht so! Ach, wie vielmal, o Gott, soll ich Armer an diesem Tage sterben!
36 Theurer Schatten, der du herumschwebst, weine nicht, halte mit Klagen ein.
37 Die Hofnung grünt mir wieder im Busen; meine Standhaftigkeit hat den Sieg davon getragen; ich eile zum Triumphe.
38 Wozu mich entschließen? Was kann ich thun? Ich verzehre mich in Thränen, verlange zu sterben, und der Schmerz vermag nicht mich zu tödten.
39 Du weißt die ganze bittre Geschichte einer unglücklichen Familie.
40 Hör' unsre Klage, das Aechzen, das Seufzen, o Schatten, der du hier am traurigen Scheiterhaufen schwebst! und wandle dann glücklich in den Schooß des ewigen Friedens.
41 Theurer, zärtlicher Schatten, ach, warum eilst du zu deiner Ruhe, und ich bleibe hier?
Heiter wirst du der Wonne in den seligen Wohnungen genießen, wo weder Zorn noch Schmerz hinlangt, weder Zorn noch Schmerz! wo ewige Vergessenheit jede sterbliche Sorge einhüllt. Unter den väterlichen Umarmungen wirst du weder an meine Thränen den ken, noch an diesen verhaßten Sitz des Leidens.
Theurer zärtlicher Schatten, ach! warum eilst du zu deiner Ruhe, und ich bleibe hier?
42 Ich bleibe, um immer zu weinen, wo mich das harte Schicksal von einem Grauen ins andre leitet. Ach warum erscheint, die Thränen zu enden, holdselig der Tod für mich noch nicht!
43 Mozart starb, so sehr er auch bewundert wurde, in Armuth und Dürftigkeit. Der alte Haydn, der Jubel aller Konzerte in Europa, erwirbt sich seinen Unterhalt in London.
44 Mozart hat, von dieser Ouvertüre entzückt und bezaubert, einen Schluß dazu gemacht, ganz im Geiste Glucks, und wirklich erhaben, zum Triumph über alle Symphonien in Konzerten, die Haydnischen nicht ausgenommen.
45 Man wird sogleich sehen und fühlen, was ein Sophokles, selbst im Französischen, und einGluck mit einander hätten bewirken können. Jener würde sich von der ganz unnützen eingebildeten Form der Jamben gar nicht haben stören lassen.
46 Die Franzosen lassen sich dieß leicht gefallen;dans nos chants, heißt es bey ihnen, la valeur des notes détermine la quatité des syllabes.
47 Es ist, leider! auch nichts davon zum Vorschein gekommen, und alles mit ihm begraben worden.