[178] XXI.
Das Wunderbild.

Zur Zeit, da Luther und Calvin,
Von Gott gerüstet, sich bestrebten,
Die armen Menschen, die in dicker Blindheit lebten,
Vom Aberglauben abzuziehn:
Da war ein Wunderbild, geschmückt wie Kaiserinnen.
Die Lahmen beteten: Frau, heile meinen Fuß!
Der Taubgewordne gab der Erde manchen Kuß,
Um sein Gehör hier wieder zu gewinnen;
Das unfruchtbare Weib verließ den alten Mann,
Und stellte große Wallfahrt an,
Mit frommen Jünglingen, die auf der Mutter Rathen
Bey diesem Gnadenbild um gute Weiber baten,
Die man so schwer erbitten kann.
An einem Festtag kniete nieder
Ein ganzes Volk um den Altar.
Sie sangen Hymnen, sangen Lieder,
Und an die Brust schlug sich, wer recht andächtig war;
Am längsten blieb zu ihrem Fuße
Ein armer bärtiger Soldat,
Der sie vielleicht im Ton der Buße
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Für seiner Jugend Schuld zur Mittlerinn erbat.
Er ganz allein hat da gelegen,
Als schon die Priester allen Segen
Und allen Ablaß ausgetheilt,
Und dann zum fetten Mahl und guten Wein geeilt.
Der Tag ward zugebracht mit Freuden,
Und an dem andern Morgen früh
Gieng, unsre liebe Frau, ein Priester, umzukleiden;
Denn mehr als fünfzig Kleider hatte sie.
Vor Schrecken fuhr der Priester ganz zusammen.
»Den frechen Dieb soll Gott verdammen!
Hier fehlet eine Perlenschnur!«
So schrie er, als sein Herz in ihm zusammenfuhr:
Es wurde nachgeforscht, und endlich ward befunden,
Daß lange nach den Andachtsstunden
Noch ein Soldat vor ihr gekniet.
Er wird geholt; er kömmt gebunden;
Und als er nun die Richter sieht,
So spricht er: »Ja, ich läugne nicht, zu haben
Die theure Perlenschnur. Doch ihre Hände gaben
Mir selber diesen Schatz. Ich bin ein armer Mann,
Der Weib und Kinder hat, und sie nicht nähren kann.
Ich hörte, daß dies Bild so viele Wunder thäte,
Drum lieg' ich lange da, und bete:
Ach! hilf mir, liebe Frau! wenn du begabet bist
Mit solcher Gotteskraft auf Erden!
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Mir hilft kein römischer, katholisch guter Christ.
Wenn du nicht hilfst, so muß ich werden
Aus Armuth heut ein Calvinist.
Ich wiederholte diese Bitte
Mit tiefgeschöpften Seufzern oft;
Klagt' ihr den Mangel, den ich litte,
Und da geschahe, was kein böser Ketzer hofft,
Das große Wunderwerk. Die Mutter Gottes langte
Mir diese Perlenschnur, die an dem Halse prangte,
Mit ihrer starken Hand herab,
Und sprach, indem sie mir sie gab:
Geh hin und kaufe Brodt für Weib und Kinder!
Nur werde kein verlorner Sünder,
Lauf niemals aus der Kirche Schooß!
Sie sprach's: Die Heiligen sind Alle meine Zeugen.«
Die Richter hörten dies, und Alle mußten schweigen.
Die Priester riefen aus: »Maria, Du bist groß!«

Frau Karschinn.


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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Heinse, Wilhelm. 21. Das Wunderbild. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-4D4F-A