[164] Inschriften

1.

Am Hause meines Lebens steht ein Wort,
Das unverwischbar ist in Lust und Leiden,
Mag schnödes Unglück mir das Herz zerschneiden,
Mag Glück mich schaukeln, dauernd bleibt es dort.
Das Wort: »Hier ist der Unterdrückten Ort.«
Wer Unrecht trägt, an wem sich Henker weiden,
Wer »welt«-verfemt, wen die »Gerechten« meiden,
An meiner Schwelle find' er Heim und Hort.
Wer möchte sich mit diesem Worte brüsten!
Nicht als ein Lob des Wesens schreib' ich's hin,
Das ich durch solchen Sinnes Richtung bin,
Noch will's nach Tugendlorbeer mich gelüsten.
Nur zeugt es von dem eingebornen Hange,
Mit dem willkommne Wandrer ich empfange.

2.

Und noch ein andres Wort steht mir am Tor.
Das Wort: »Hier mag der Schönheitspilger rasten!«
Wen je die Schauer seliger Andacht faßten
In Höhen, wo sich Schwere fern verlor;
Wer einmal nur gelauscht dem reinern Chor,
Der ihn erlöst von rohen Lebenslasten,
Der ihn entrückt dem weihelosen Hasten
Aus grauem Dunst in Goldgewölk empor;
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Wer von der Quelle weiß, die nie versandet,
Weil ihre Tiefen unergründlich sind;
Wer, ob an Jahren Greis, an Seele Kind,
Fromm spielen kann an Bächen blumumrandet,
– Wär' er mein Widerpart – hier unschuldheiter
Willkommen sei er als ein Kunst-Geweihter!

3.

Der Inschrift dritte Tafel möge lauten:
»Ein neues Leben atme durch dies Haus!«
Hier steh ein Eckstein jenes Lebensbaus,
Wie schaffend ihn die kühnern Meister schauten.
In dieser Tage wildem Wogenbraus,
Wo reißend sich die Geisteswirbel stauten,
Steh hier auf Pfeilern, dran Giganten bauten,
Ein freier Leuchtturm fest im Sturmgesaus!
Und ob die Welt zerschellt rings, und zerrissen
Weltbild und Fühlen auseinander klafft,
Die Formel morden möchte das Gewissen,
Das neue Werte, neue Wahrheit schafft –
In dieser Wohnstatt und an diesem Feuer,
Kraftkreis der Ruhe, bann die Ungeheuer!

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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2012). Henckell, Karl. Inschriften. TextGrid Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-50D9-4