[7] Die Kinder in der Fremde

Ach Mutter! bleibst so lange,
Es wird uns Kindern bange,
Der Abend ist so kalt;
Die Winde schaurig wehen
Und lange Schatten gehen
Und Löwen brüllen durch den Wald.
Weit sind wir heut gegangen
Und tragen nun Verlangen
Nach unsrer Mutter Schooß;
Komm, trockne unsre Thränen,
Lös' auf dies bange Sehnen,
Mach' unsre müden Herzen los.
[8]
Du sagtest uns am Morgen:
Wir sollten ohne Sorgen
Von deiner Schwelle gehn;
Wenn wir den Berg erklommen
Und wenn die Nacht gekommen,
Dann würden wir dich wiedersehn.
Wir mußten mühsam wallen
Und viele sind gefallen
Und mancher ging voran.
Oft mußten wir auch weinen;
Durch Dornen und auf Steinen,
Durch Hitz' und Sturm ging unsre Bahn.
Nun geht der Tag zu Ende,
Drum heben wir die Hände
Und suchen deine Hand;
Thu' auf die traute Zelle!
Sind wieder an der Stelle,
Da du uns hast hinausgesandt.
[9]
Laß uns in grünen Wiegen
Im weißen Hemdlein liegen
So tief und still und dicht;
Laß Thränen uns befeuchten,
Laß auf uns niederleuchten
Dein ewig klares Mondgesicht.
Den Schleier, blau gewoben,
Den breite weit aus oben,
Drin laß uns hoffend ruhn.
Einst wird es wieder tagen,
Dann wird der Vater sagen:
»Steht auf, ihr Kindlein, alle nun!«

Berlin, 1815.


Notes
Entstanden 1815.
License
Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).
Link to license

Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Hensel, Luise. Die Kinder in der Fremde. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-531B-9