Die Raupe und der Schmetterling

Freund, der Unterschied der Erdendinge
Scheinet groß und ist so oft geringe;
Alter und Gestalt und Raum und Zeit
Sind ein Traumbild nur der Wirklichkeit.
Träg und matt auf abgezehrten Sträuchen
Sah ein Schmetterling die Raupe schleichen,
Und erhob sich fröhlich, argwohnfrei,
Daß er Raupe selbst gewesen sei.
Traurig schlich die Alternde zum Grabe:
»Ach, daß ich umsonst gelebet habe!
Sterbe kinderlos und wie gering!
Und da fliegt der schöne Schmetterling.«
Aengstig spann sie sich in ihre Hülle,
Schlief, und als der Mutter Lebensfülle
Sie erweckte, wähnte sie sich neu,
Wußte nicht, was sie gewesen sei.
Freund, ein Traumreich ist das Reich der Erden.
Was wir waren, was wir einst noch werden,
Niemand weiß es; glücklich sind wir blind;
Laß uns Eins nur wissen: was wir sind.

Notizen
Erstdruck in: Die dritte Sammlung der zerstreuten Blätter 1787.
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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2012). Herder, Johann Gottfried. Die Raupe und der Schmetterling. TextGrid Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-561D-F