An die Geliebte

Deine Thräne zu entküssen,
Holdes Mädchen, flieh' ich hin zu Dir,
Bin durch Lüfte hergeflogen
Dir zur Seite. Sieh, es zogen
Deine Seufzer mich zu Dir.
Laß, o laß mit diesem Kusse
Deine bittre Thräne mir!
Deine bittre Thräne schmähet
Liebe, Tugend, Vorsicht, Dich und Gott,
Sieht mit Murren in die Höhe,
Thut dem besten Herzen wehe
Und macht dieses Weh zu Spott.
Ach, ergieb mit zarter Thräne
Dich der Lieb' und Deinem Gott!
Deine Lieb' und Herz und Seele
Ist ja unschuldschön wie die Natur.
Mädchen, Deine sanften Wangen
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Sind zur Thräne nicht; es hangen
Keine Wolken auf der Rosenflur
Deiner Lippen; Deine Augenlider,
Holdes Mädchen, lächeln Freundschaft nur!
Und drohn nicht mit Düsternissen
Und sind nicht zur Nebelnacht
Hergeschaffen. Ach, o Blume
In der Unschuld Heiligthume,
Die, wohin sie blicket, Freude lacht,
Heb' Dich aus den Düsternissen,
Wie die Lilie nach Regen lacht!

Notizen
Entstanden 1771.
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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2012). Herder, Johann Gottfried. An die Geliebte. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-56E0-8