Flora und die Blumen

»Kinderchen des holden, süßen Frühlings,
Hört, o hört der Mutter treue Warnung:
Wenn ein lauer Winterwest Euch heuchelt,
Trauet nicht dem heuchelnd-bösen Mörder!
Wartet, bis der goldne Vater rufet,
Bis die treue Mutter Euch erscheinet,
Die Euch weckt aus Euren Winterbetten
Und Euch Kleider bringt und schöne Häubchen.«
Also sprach zu ihren Blumenkindern
Flora scheidend und ging auf zum Himmel.
Alle Blumen sagten ihr Gehorsam
Und Geduld zu, bis sie wiederkäme.
Als sie kam, der goldne Vater Frühling
Rief die Kinder aus dem Winterschlafe,
Und die Mutter brachte schöne Kleider,
Lief umher und sucht' und zählet' alle.
Ach, da fand sie manche schöne Knospe,
Früh hervorgelockt vom bösen Mörder;
Ausgetreten war sie aus der Zelle,
Hatt' hervorgeblickt mit ihren Aeuglein
Und war bald erstarret, von des bösen,
Heuchelnden Verführers Hauch vergiftet;
Denn der Winterwest war Frost geworden,
Und erstarret stand das arme Blümchen.
Traurig rief die Mutter ihrem Zephyr,
Der es brach; und sie begrub es traurig.
Seht, die ungeduldig-frühe Blume
Prangt nun nimmermehr im Lenz der Flora.

Notes
Erstdruck in: Die dritte Sammlung der zerstreuten Blätter 1787.
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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Herder, Johann Gottfried. Flora und die Blumen. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-57ED-4