Geschichte und Fabeln

1.

»Die liebe lange Nacht,«
Sprach Petrus einst, »hab' ich mit saurem Schweiß durchwacht
Und leider nichts gefangen.«
»Nicht Alles läßt sich auch durch sauern Schweiß erlangen,«
Sprach unser Herr; »fahr auf die Höh
Mit gutem Muth
Und thu noch einen Zug!«
Er that's und rief: »Ach, Herr, genug!
Das Netz zerriß; wir können mehr nicht fangen.«
Kleingläubiger, heg' immer guten Muth!
Noch wird das Ende gut.
Kein Wunder der Natur gelang durch Schweiß und Müh;
Auf Gottes Wink gelingen sie.

2.

»Lieber Tod, was soll das Leben?
Ist doch nur ein Bürdetragen!
Ist doch nur ein ängstlich Streben!
Lieber, hörst Du nicht mein Klagen?
Komm, o Tod, und nimm mich hin!«
Es kam der Tod und stellete sich hin;
Der Greis, erschrocken, änderte
Der Worte Sinn:
»Ach, so hörtest Du mein Klagen?
Sieh, die Bürde muß ich tragen;
[351]
Lieber Tod, drum hilf mir heben!
Hilf mir! süß ist doch das Leben!
Nimmst mich früh genug doch hin!«
Es half ihm auf der Tod und ging
Still seines Weges hin.
Und rufet man nur so den Tod?
Ruft man nicht täglich also Gott?
Itzt will man dies, itzt das im lieben Lebenslauf,
Und Er hilft immer auf.

3.

Du holest, liebe Nachtigall,
So tief aus Herzens Grunde
Den süßen Lieb- und Lobesschall;
Und ich mit Herz und Munde
Bin früh und spät und weit und breit
Stumm allezeit.
Du schwingest, liebe Lerche, Dich
So fröhlich
Hin in die kalte Morgenluft,
Verlierest Dich
In Weihrauchduft
Und schwebst, ein unsichtbarer Schall,
Und singst Natur
Und grüne Flur –
Und ich bin ohne Hall!
So will ich denn mit wehmuthvollem Schweigen,
O Vater der Natur,
Auf jeder Deiner Spur
Zum stummen Danke mich auf Deinem Fußtritt neigen.

4.

Wind und Sonne machten Wette,
Wer die meisten Kräfte hätte,
Einen armen Wandersmann
Seiner Kleider zu berauben.
Wind begann;
Doch sein Schnauben
[352]
That ihm nichts; der Wandersmann
Zog den Mantel dichter an.
Wind verzweifelt nun und ruht;
Und ein lieber Sonnenschein
Füllt mit holder, sanfter Gluth
Wanderers Gebein.
Hüllt er nun sich tiefer ein?
Nein!
Ab wirft er nun sein Gewand,
Und die Sonne überwand.
Uebermacht, Vernunftgewalt
Macht und läßt uns kalt;
Warme Christusliebe –
Wer, der kalt ihr bliebe?

5.

Ein Bleicher hatt' ein weites, großes Haus.
»Was soll das leer denn stehn? Hier mach' ich Geld mir draus;
Mein Vetter Köhler soll hier wohnen.«
Der Vetter Köhler thät ihn lohnen.
Der Bleicher machte weiß; der Köhler macht's voll Graus
Mit seinem Kohlendampf; der Köhler mußt' hinaus.
Christus und Belial,
Was sollen sie in diesem großen Saal?
Freund, Deine Kohlendampfphilosophie
Hier am Altar – o Freund, was soll sie hie?

6.

Gejagter Hirsch, Du dünkst Dich frei
Und fleuchst zu jener Höhle!
Weh Deiner armen Seele!
Da wohnt ein Leu.
Entflohn mit Grauen
Dem Kirchenbann,
Hast Du uns in den Klauen,
Weltgeist, Tyrann!

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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Herder, Johann Gottfried. Geschichte und Fabeln. TextGrid Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-5A98-A