Der Säugling

Wer ist der kleine Sklave, der in Banden
Aus diesem frühen Sarge Klagen weint?
Ein Mensch? O löset ihn, macht frei ihn von den Banden!
Wer Seufzer hemmet, ist ein Menschenfeind.
Der Wurm darf sich im Staube winden,
Das Lamm hüpft um die Mutter her;
Und ihn umhüllen Binden,
Zwangfesseln, eng und schwer.
Du Weltankömmling, Deinen zarten Händen
Prägt dies Geschenk Dein Glück des Lebens ein;
Um einen Pilgrimsweg von Sarg zu Sarg zu enden,
Sollst Du der Sklaven ew'ger Sklave sein.
[46]
So hört' ich es und singe bebend
Das Lied, das Dir die Parze sang,
Als sie den Faden webend
Zur Kette um Dich schlang.
Sie sang: »O Du im Chaos von Ideen
Geborner, wenn Du einst mit Fesseln ringst,
Und wie im Schiffbruch dann, um Sonn' und Tag zu sehen,
Vom Abgrund auf, doch schwer beladen dringst;
Du hörst das Chor der Sterne droben
Auf ewig unverrückter Bahn
Den Weltgebieter loben
Und schaust sie liebend an.
Dich weckt ihr Hochgesang, und aus der Seele
Stürmt in die Flügel Dir des Adlers Muth;
Du wägst den schweren Leib, entschwingst den Staub der Höhle
Und trinkst im Geiste schon der Sonne Gluth.
Ach, nicht vom ersten Morgensterne,
Vom Felsen blickst Du bald hinab,
Und schaust in naher Ferne
Den Erdenball, Dein Grab.
Dann klagt Dein Herz, daß, die im Staube wohnen,
Das Erdenvolk sich lab' an Finsterniß.
O, Dir zu eigner Ruh, Dein bestes Selbst zu schonen,
War's, daß ich größerm Lichte Dich entriß,
Bis bald der sanfte Schwung der Wiege
Mit Lethe's Welle Dich besprengt
Und Dir zum Thorenkriege
Ein weises Phlegma schenkt.«
Die Parze sprach's. Da trat zu seiner Wiege
Ein lichter, leichter Lebensgenius
Und gab, daß er im Kampf der Thoren nicht erliege,
Mit seinem Segen ihm den Friedenskuß,
Gab ihn der Unschuld Mutterhänden
Und, sehet! hat sein zartes Haupt,
Den Dämon abzuwenden,
Mit einem Kranz umlaubt.
Ein Kranz der Blume, die verborgen blühet
Und schmückt ihr schönes Thal auch ungesehn,
Erfreut, wenn sie den Blick der Liebe zu sich ziehet,
Vergnügt, wenn keine Blicke sie erspähn.
[47]
O Knabe mit dem Veilchenkranze,
Sei wie die Blume, die im Gruß
Des Friedens Dir mit stillem Glanze
Umwand Dein Genius.
Und wenn ein rauher Fuß Dich niederdrücket,
Mißgönnt die Sonne Dir Dein Tröpfchen Thau,
Du senkest müde Dich, vom scharfen Ost zerknicket,
Und suchest Schatten in der dürren Au,
Dann sei, wenn, sanft Dich wegzumähen,
Der Sonne letzter Schimmer traf,
Im leisen Frühlingswehen
Dein Tod der Blume Schlaf!

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Herder, Johann Gottfried. Gedichte. Gedichte. Erstes Buch. Der Säugling. Der Säugling. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-5AB1-0