[365] Natur und Schrift. Gleichnisse

1.

Des Wunderkönigs Jesu Rath
Sollst Du verschweigen,
Des großen Gottes laute That,
Die zeigen!
Des großen Gottes laute That
Kann Wild und Vogel finden,
Des Wunders Jesu stillen Rath
Ließ Gnade Dir verkünden.
Natur ist heller Zeitungsstaat
Fürs Volk auf allen Gassen;
Das Wort ist Freund- und Vaterrath,
Nur Kinder können's fassen.

2.

Dem Herrn sieht jeder Sklave nach,
Sieht seinen Palast stehen;
Ins Rath- und Lieb- und Brautgemach
Kann Lieb' und Freund nur gehen.

3.

Die Welt ist Gottes Kleid;
Lobt sich ein edler Mann vom Kleide?
Zu Seel' und Herz und Freundlichkeit,
Wie ist's noch weit, noch weit
Vom Kleide!
Er zog sein Kleid, die Himmel, aus,
Kam arm wie wir auf Erden,
Kam Unsersgleichen in sein Haus,
Nur unser Freund zu werden,
Nur uns sein Herz anzuvertraun,
O Gottesherz zu lernen!
Sein Blick, ein Wörtlein sagt mir mehr
Als Laut von allen Sternen.

4.

Natur ist Gottes Wunderuhr;
Und was kann sie nun zeigen?
Sie zeiget Dir die Stunden nur;
Ist ihr der Künstler eigen?

[366] 5.

O Evangelium vom Reich,
Du Perle aller Welten!
Die Schal', ob sie Dich träget gleich,
Kann sie darum Dich gelten?
Nur ist die Perle Jedermann
Darum nicht anvertraut;
Die Magd starrt das Gehäuse an,
Die Perl' ist für die Braut!

6.

Weß Auge blind ist, ärgert sich
Und kann es doch nicht sehen;
Weß Seele taub ist, höret es
Und kann es nicht verstehen.
Wo aber Gott spricht: »Licht!«
Sieh, da ist Licht!
Nun kannst Du Wüst' und Leer'
Und Sturm auf dunklem Meer,
Nun kannst Du Alles sehen.

7.

Die Sonne weicht, und alle Farben
Erlöschen unterm Schwamm der Nacht;
Was war den Lieben, daß sie starben,
Erblichen unter Todesmacht?
Ach, Kinder, die der Lichtstrahl macht –
Der Lichtstrahl wich, und sie verdarben;
Und, Sonne, hab' ich nicht im Dunkeln doch
Zwei Augen noch?
So wenn mir Gottes Licht, die Wahrheit, wich,
Wo bin ich? was seh' ich?
Vernunft ist da; nur Welt und Farben
Erstarben.

8.

Unendlicher, von welcher tiefen Ruh
Bist Du! bist Du!
[367]
Fast gleich dem Nichts. Sie dichten Spott:
»Es ist kein Gott! Wo ist denn Gott?«
Unendlicher, in Deiner tiefen Ruh
Schlummerst Du?
Und doch, Allmächtiger, von welcher Füll' und Kraft
Und Näh' und Gegenwart, die All in Allem schafft,
Bist Du! wo soll ich hin?
Du dringest mich! Durch Dich bin, was ich bin!
Und Deine Füll' und Kraft
Ist, die mir Alles schafft.
Unendlicher, von welcher Kraft und Ruh,
Und Füll' und Nichts, Unendlicher, bist Du!

9.

Gott sprach durch seine Welt; ich kann ihn sehn!
Er sprach durchs Wort; nun kann ich ihn verstehn.

10.

Natur eröffnet Dir den Blick,
Die Schrift das Ohr.
Wer giebt nun einen Sinn zurück?
Verbinde beide, Thor!

11.

Willst Du, o Mensch, in der Natur
Der Gottheit Abglanz finden:
Such in Dir, seinem Bilde, nur,
Und Funke wird Dir zünden!
Und werden alle Funken Dir
Dann lohe Gottesflammen:
Sieh Jesum Christum hier!
Da flammen sie zusammen.

12.

Herr, Seligkeit und Himmel liegt
In jeder Deiner Gaben;
Wer neidet und verscharret sie,
Verdient er sie zu haben?
Und wer sie hat, was hat er schon,
Daß er sich ewig freue!
O Geber, gieb statt Allem mir
Nur im Geringsten Treue!

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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Herder, Johann Gottfried. Natur und Schrift. Gleichnisse. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-5BF6-0