Die Wassernymphe

Flattre, flattr' um Deine Quelle,
Kleine farbige Libelle,
Zarter Faden, leichtbeschwingt!
Flieg auf Deinen hellen Flügeln,
Auf der Sonne blauen Spiegeln,
Bis Dein Flug auch niedersinkt.
Deine längsten Lebenstage,
Fern der Freude, frei von Plage,
Hast Du, Gute, schon verlebt;
Als Dich Wellen noch umflossen,
Als Dich Hüllen noch umschlossen,
War ein Traum um Dich gewebt.
Jetzt, nach jenem Nymphenleben,
Darfst Du als Sylphide schweben,
Wie weit Dich der Zephyr trug.
Und Du eilst mit muntern Kräften
Nur zu fröhlichen Geschäften;
Deine Liebe selbst ist Flug.
Flattre, flattr' um Deine Quelle,
Kleine sterbliche Libelle,
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Um Dein Grab und Mutterland.
Eben in dem frohsten Stande
Fliegst Du an des Lebens Rande;
Ist das meine mehr als Rand?
Einst, wie Dir, wird Deinen Kleinen
Auch die Sommersonne scheinen;
Gieb der Quelle sie als Zoll
Und erstirb! die matten Glieder,
Seh' ich, welken Dir danieder.
Schöne Nymphe, lebe wohl!

Notes
Erstdruck in: Die dritte Sammlung der zerstreuten Blätter 1787.
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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Herder, Johann Gottfried. Die Wassernymphe. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-5CAB-0