Mein Schicksal

1770.


Meines Lebens verworrene
Schattenfabel! o frühe, frühe begann sie schon
Dunkel. Bebte den kommenden
Lebensflüchtling ein Schau'r hier auf die Wüste der
Erde, daß er in Wüste sich
[278]
Unterm Klange der Nacht inne ward, daß ihm Schau'r
Mächtig ewig ins Innre klang;
Daß ihm Leben und Tod, Schlummer und Auferstehn,
Freud' und Wonne des Lebens ihm,
Hoher Göttergedank' und der zerfließenden
Seele Fülle wie Wandeltraum
Hindurchschwebet; daß ihm seine Erlesenen
Stets im Wetter vorübergehn,
Stets, aus dunkelm Gewölk Blitze, die weckenden
Väterstimmen ihm Mitternachts
Kommen, reden und hinwandeln in Mitternachts-
Dunkel, und er wandelt allein! –
Schicksalsschwestern, warum? die Ihr sein Tageloos
Warfet, warfet Ihr's unhold stets
Irrhinüber, wohin nimmer das Götterbild
Seines leitenden Dämons wies?
Irrhinüber, wohin aller erstrebenden
Ahnung Kräfte nicht ahneten? –
Ach, da weben sie nun meiner erzogenen
Hoffnung Blüthe! da weben sie
Einsam, Waisen, wie Wurf nächtlich erstarreter
Frühlingsblätter! da flatterst Du,
Schattenfabel, zerstückt, scenezerrissen! Wurf
Dort und hinnen verlorner Zeit!
Schicksalsschwestern! o wie? Sammeln sich, sammeln sich
Dem ermatteten Lebensblick
Einst die Scenen? ersieht er in den wehenden
Blättern je der Vorsehung Buch?
Je einst Ernte der Saat? jener verflogenen
Erdbegrabnen, gemoderten
Keime Frühling? und rauscht Aehrengefild hinab,
Rauscht durch früchtebelastete
Zweige? siehet erstaunt sich die verworrene
Schattenfabel zum Prachttriumph
Sammeln? siehet erstaunt Krümmen und Mißgestalt
Sich zur Schöne des Ganzen ziehn? –
Schicksalsschwestern, o sprecht! Wie oder liegen mir
In der nächtlichen Zukunft Schooß
Dort noch immer das Heer wartender Schauer? harrt
Meinem Gange noch bis ans Ziel
Ungewitter? – Ich hör', höre sie fernher schon
Flügel schwingen: »Wir werden sein,
[279]
Wie wir waren! o Sohn schaudernder Mitternacht,
Wie wir waren!« Ihr brauset mir
Meinen Wandrergesang, Stürme! Du, feuriger
Zeuchst Du, Wettergebärerin,
Haupthinüber mir schon! rauschet des Ungestüms
Fittig, sterneberaubt, mich schon
Neue Wüsten hinan! drohendes Waldgebirg
Unbetretner, verwebeter
Dorngefilde durchan! Ach, des Ermüdenden
Lebenswege! »Wir werden sein,
Wie wir waren!« – Wolan, Wandrer, sie waren nie
Feige Krümmen des Schlangengangs!
Wandrer, höre Triumph! siehe, sie werden sein,
Wie sie waren! Des Frommen Gang,
Der den kriechenden Gleis unter dem Fuß vertrat,
Nicht für Götter und Tempel log,
Nicht für Purpur und Gold heuchelt', und ungestüm
Nur der Wahrheit, und ungestüm,
Biedermenschheit, nur Dir, würdige Tugend, Dir
Sich im Leben ermattet hat. –
Matter Wandrer, wolan! wie die verworrene
Schattenfabel auch enden mag!

Notizen
Entstanden 1770.
Lizenz
Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).
Link zur Lizenz

Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2012). Herder, Johann Gottfried. Mein Schicksal. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-5DE0-0