Als ich an einer Archäologie des Morgenlandes arbeitete

Im Hain der hohen Göttergesichte (Nacht
Umhüllte rings mit Traume den wachen Geist),
Da ging ich in den Labyrinthen
Ferner Aeonen und stand am Abgrund
Des Anfangs. »Welten, Völker und Zeiten, wann
Begannen sie? wann riß nach unendlichen
Ruh-Ewigkeiten sich ihr Rad nun
Feurigen Schwungs in den wüsten Aether?
Du Erd' und Du, o kleinere Erdenwelt,
Du Mensch, ein Thier und Engel, ein Sonnenstrahl
Im Staubgewebe, welche Sonne
Troff Dich zusammen, in welchem Thale?
Und standst und dachtest! sahest die junge Welt
Mit Königsblicke, fühletest Harmonie
Der Wesen um Dich, fühltest in Dir
Kräfte der Gottheit, der Schöpfung Kräfte!
Die ihn erzogen, Mütter-Aeonen, ihn
Vom trägen Staube, Sonnen und Pol vorbei,
Durch Empyreums und des Abgrunds
Goldne verschlossene Thore führten:
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An Eurem Busen, sprechet, wie lange lag
Der Säugling, Weisheit lallend? wie lange ging
Der Menschengeist durch Regionen,
Völkerumwälzungen, Licht und Dunkel
Von Schritt zu Schritte? Sprechet in Bildern mir!
Sind Geistesschätze, Werke der Götter! sind
Gedankenwelten nicht im Taumel
Stürzender Zeiten oft mit versunken?
Wie oder klagt Ihr, Mütter-Aeonen? klagt
Verloren Eure Tochter, die schöne Braut
Des Paradieses, süße Unschuld,
Holde, gesellige, sel'ge Liebe?
Und stürmt in Saiten: ›Wehe der blendenden
Abgöttin! weh Dir, blätterverhüllte Scham,
Scheintugenden, Ihr Sodomsfrüchte
Reizender Schöne, von innen Dampf nur!‹
Allwisserinnen! Schweigt Ihr, Jahrhunderte?
Wie oder nenn' ich Musen? wie oder war
Der reizenden Gedächtnißtöchter
Singender Reihen noch nicht geboren?
Deckt ew'ge Nacht die Wiege der Menschheit? Geht
Das weise Volk der Erde, wie Fische gehn
Im Meer, wie dort des Himmels Vögel
Ewig in Wüsten der Lüfte schweifen?«
So sprach ich! Sieh, da wehte mich Gottes Hauch
Zum ersten Morgen. Siehe, da trafen mich
Gesichte. Der Elohim Chöre
Sangen ein ewiges Lied der Schöpfung:
»Wie Gott, als lange schaudernde, kalte Nacht
Auf Erd' und Meeren fluthete, Gott sein Licht
Urplötzlich aufrief, und sich Himmel
Droben und unten Gebirge wölbten –
Er sprach zur Sonne: ›Siehe, da gehe Du
Den Königsgang, o Sonne! Du Trösterin
Der Nächte, komm! Und alle Sterne,
Stimmet in hohen Accord zusammen!‹
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Und Allem gab er seine Bewohner, gab
Sie Meer und Erden. Siehe, da stand der Mensch,
Das Götterbild, und alle Wesen
Stimmten in hohen Accord zusammen.«
Die sieben Chöre schwiegen. Da sprach ein Ton,
Wie unter Kindern fabelnd, ein Vaterton,
Sprach unter Bäumen, wie ein Baum einst
Lockende Weisheit und Tod gefruchtet;
Und Gott dem Weibe Schmerzen und Lebensmüh,
Und Gott dem Manne Kummer und theuren Schweiß
Verkündiget, und bald die Erde
Ströme des Bruders mit Angst getrunken;
Und ein Geschlecht bald Waffen und Schwert erfand,
Und ein Geschlecht bald Riesen und Mord gebar,
Und Gott die frevelnden Geschlechte
Unter die Wasser des Abgrunds senkte;
Und neue Welt vom Schlamme des Abgrunds hob,
Und neue Welt ihm frohe Gelübde fand,
Dem Rächer! und des Rächers Bogen
Gnade vom Himmel der Welt gelobte.
Drauf sah ich Himmelsstürmer; ich sah, wie schnell
Sich ihre Schaaren trennten, wie Sprachen hier
Und Sprachen dort hinzogen. Alle
Flohen dem Auge, nur blieb da vor mir –
Ich fuhr empor und wachte. Was ich gesehn,
Saht Ihr es, Dichter, Weise, Propheten? Wer,
Des Aufgangs Söhne, wessen Blick kam
Näher ans heilige Dunkel Gottes?

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TextGrid Repository (2012). Herder, Johann Gottfried. Gedichte. Gedichte. Fünftes Buch. Als ich an einer Archäologie des Morgenlandes arbeitete. Als ich an einer Archäologie des Morgenlandes arbeitete. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-5E1C-D