Der Heiland der Welt

Tod und Auferstehung Jesu.

Ein Gesang.

Als des Erblaßten Leib in die stille Höhle gesenkt war,
Mehr getödtet als er, irrt' der Verlassenen Schaar;
Wie zerknickte Blumen, wie Halme, zerschmettert vom Hagel,
Wilde zerschmettert, war niedergesunken ihr Muth.
Siehe, da hörte ihr Ohr unfern dem heiligen Grabe
Stimmen; es dünkte sie lieblicher Hirten Gesang;
Genien sangen, der Menschheit Wächter und ihre Begleiter.
In der Unsterblichen Chor hob sich der Trauernden Herz,
In der Trauernden Herz gossen sie himmlischen Trost.
Die Genien.

Unser Führer erblich! seinen Geliebteren
Freund und Vater, ein Hirt jedem verirrten Lamm
(Seht, die schmachtende Heerde
Drunten schmachten im Todesthal!),
Führt die irrende Schaar, leitet zu Quellen sie,
Quellen himmlischen Tranks, süßer Erwartungen;
Denn der Bote des Lebens
Ist nicht todt! o, er schlummert nur.
Wiederkommen wird er seinen Verlassenen,
Wiederkommen ein Stern aus der umwölkten Nacht;
Bald erscheinet die schönste
Morgenröthe den Träumenden.
Und sie werden ihn sehn (wecket den zartesten
Ton, den ihnen ins Herz, scheidend, der Edle goß!)
Wiederkommen. Ich will Euch
Zu mir nehmen, Ihr sollt mich sehn
Und Euch freuen, wie sich ihres gebornen Sohns
Eine Mutter erfreut, wie den gestorbenen
[474]
Sohn der liebende Vater
Lebend neu in die Arme schließt.
Und sie werden der Welt werden, was er ihr war,
Jedes irrenden Lamms Hüter, in tiefer Nacht
Segnend leuchtende Sterne,
Er, der strahlende Morgenstern.
Labend goß, wie erfrischender Thau auf schmachtende Blumen,
Sich der Himmlischen Lied in der Erstorbenen Herz.
Und sie wagten es, nachzusingen dem Liede der Wächter;
Zweifelnd lösete sich ihre beklommene Brust.
Die Jünger.

Wiederkommen wird er, den sie verschmäheten,
Wiederkommen auch uns, den wir verleugnend flohn;
War die Heerde des Hirten,
War die Aue des Sternes werth?
Frieden gab er der Welt; aber sie kannt' ihn nicht!
Wahrheit; und sie verschloß lästernd die Augen ihr.
Welchen Sklaven die Kette
Freut, genießet die Freiheit nie.
Und der Gesang der Genien tönt' in volleren Chören;
Von der heiligen Gruft tönte das Echo darein.
Die Genien.

So hoch der Himmel über der Erde, sind
Gedanken Gottes über der Menschen Sinn.
Der Morgensonne Thau befeuchtet
Rosen und Lilien, Stepp' und Dornen.
Was nicht geschehn ist (Alles hat seine Zeit),
Wird werden; rüstet Herzen und Geist und Hand!
Die Ernt' ist groß; erhebt das Auge!
Schauet die Fluren, die Euch erwarten
Im goldnen Kleide! Retter und Wächter sein
Der Menschenseelen, lebend und sterbend sich
Der Wahrheit weihen, macht unsterblich;
Denn sie ersteht, die begrabne Wahrheit!
Da ging die Morgenröth' empor; ein Sturm
(Der Herr war nicht im Sturm) erschütterte
Das Felsengrab; die Erde bebt'; es sprang
Des Grabes Siegel, und der Fels entwich.
[475]
Ein Feuer rings umstrahlete das Grab
(Der Herr war nicht im Feuer), und ein Hauch
Vom Munde Gottes weht' im sanften Kuß
Dem Todten zu: »Erwache!« Da erstand
Der Erstling Gottes; alle Genien
Der Menschenvölker flossen hin zu ihm,
Dem ersten großen Genius, zu ihm,
Dem Schutz und Retter und Beseliger
Und Fördrer seines Volks Aeonen hin.
Doch er, aus ihrer Mitt' enteilend, sucht
Die Seinen auf und ruft mit Liebelaut:
»Maria!«

Notes
Entstanden zwischen 1780 und 1800.
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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Herder, Johann Gottfried. Der Heiland der Welt. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-5E50-6