Ernst

(1871)

1.

Mit Kränzen, wie kein Bräutigam, geschmückt,
Mit Feierkleidern angetan aufs beste,
Doch deine großen Augen zugedrückt,
So fuhrst du weg zu deinem letzten Feste,
Langsam, im Schritt. Warum dich übereilen?
Gern wartet jener Wirt auf seine Gäste.
[203]
Dort hinter langen, stillen Hügelzeilen –
Siehst du das Haus? Es brennen viele Lichter,
Doch denen nicht zur Lust, die dort verweilen.
Seltsam! Die hagern, bräunlichen Gesichter,
Wie sie bekümmert in die Kerzen starren.
Manch einer grinst, doch nicht das Schweigen bricht er.
Es scheint, es finden's all die armen Narren
Gar unbequem, hier aufgeputzt der Stunde,
Da man zur Ruh' sie bringen wird, zu harren.
Die alte Dame dort, mit gutem Grunde
Verstimmt es sie, daß man sie hergebracht
So ungeschminkt, mit zahnlos offnem Munde.
Und dort das Fräulein, das so gern gelacht,
Getänzelt und das süße Kind gespielt,
Was hat auf einmal sie so ernst gemacht?
Der alte Dandy zwar, der nach ihr schielt
Und ihren Kranz und Schleier scheint zu loben,
Ist ein Galan, der sich nur schlecht empfiehlt.
Die blonde Haartour hat sich ihm verschoben;
Sein Kammerdiener hielt der Müh' vielleicht,
Obwohl er ihn beerbt, sich überhoben.
Und dort, zum Alabasterbild gebleicht,
Die junge Mutter, hier zum Fest geladen,
Eh sie dem Säugling noch die Brust gereicht.
Ihr Nachbar auch scheint trüb und grambeladen,
Nicht dreißig alt, ein schmucker Offizier,
Und schon getrennt von allen Kameraden!
Fürwahr, es ist nicht eben lustig hier;
Ein jeder Gast hat nur mit sich zu tun,
Die Kerzen knistern wie geängstet schier.
O kommst auch du, mein lieber Knabe, nun
Und suchst dir bei den stillen fremden Leuten
Bescheiden einen Platz, um auszuruhn?
Hier spielt man nicht die Spiele, die dich freuten.
Soll Jugend, die den Ernst des Lebens kaum
Von fern geahnt, den ernsten Tod sich deuten?
Es geht ein heimlich Regen durch den Raum,
Als wollten sie den Ankömmling beschauen
Durch eingesunkner Wimpern schmalen Saum.
[204]
Er aber achtet nicht der Herrn und Frauen.
Er ruht wie über Lieb' und Graun erhaben
Mt leidsam ernst gespannten Augenbrauen.
Jawohl, ihr Späher dort, in diesem Knaben
Ward eurem Fest beschert ein holder Gast,
An dem ihr könntet eure Freude haben.
Doch jeden drückt zu schwer die eigne Last,
Als daß er lange dächt' an andre Dinge.
Still ist's im Saal. Man hört das Flattern fast
Des weißen Falters, der mit hast'ger Schwinge
In bangen Kreisen durch die Lüfte zieht,
Als sei's ihm nicht geheu'r im Totenringe.
Und wie er jetzt den stillen Knaben sieht,
Läßt er sich rasch auf seine Stirne nieder,
Wie auf ein heilig blühendes Gebiet;
Als hab' auf diese sanften Augenlider
Der Tod kein Recht, als kehre, statt zur Gruft,
Die blasse Lilie zu den Blumen wieder
Hinaus in Sonne, Lenz und Lebensluft! –

2.

Ich fühlt' in meinen hellsten Lebenstagen
Den Mut, auf diese Sonne zu verzichten
Und der Vernichtung Schauer zu ertragen.
Im Jetzt und Hier lernt' ich mich einzurichten,
Und selbst die Neugier nach dem letzten Wort
Des bunten Rätsels lockte mich mit nichten.
Wohl riß die Brandung manchen vor mir fort,
Der, während ich noch trieb auf hoher See,
Still Anker warf im ew'gen Ruheport.
Nach Sturm und Not und namenlosem Weh,
Oft an ein letztes morsches Brett gebunden
Und fühlend, daß auch das in Trümmer geh',
Wie sahn sie gern der Irrfahrt sich entbunden,
Die wenig Freude bot und viele Last;
Wie gönnt' ich's ihnen, daß sie »Land« gefunden!
Sie hofften nichts mehr, als zu ruhn, und fast
Mit Ingrimm hörten sie die Tröster sagen,
Man wecke sie dereinst nach kurzer Rast.
[205]
Doch du, mein Knabe, dem noch offen lagen
Die Meer' und Länder, Mut die Segel schwellt',
Ein Inselland der Sel'gen zu erjagen,
Wie ward dein leichter Nachen früh zerschellt,
Und was die Sonne dir an Blüten gab,
Verschlungen von der dunklen Wasserwelt!
Und sollte nicht an deinem jungen Grab
Das alte Märchen sehnlich mich beschleichen:
Einst dring' ein Weckruf in die Nacht hinab,
Ein Hahnenschrei aus ew'gen Lebensreichen,
Den Tag verkündend, dem die Macht verliehn,
Des Erdentages Unbill auszugleichen?
Dann dürft' ich wieder an mein Herz dich ziehn,
Den frischen Mund dir, den geliebten, küssen.
(Nun dünkt mich's, ach, zu selten küßt' ich ihn!)
Die hier entblättert sank zu meinen Füßen,
Die Knospe säh' ich dort sich rein entfalten,
Mit Duft mein neues Leben zu versüßen! –
Hinweg den Schleier, den ich fern gehalten
Vom hellen Aug! Er soll das trübe mir
Auch jetzt nicht trocknen mit den weichen Falten.
Kein Einst und Drüben, nur ein Jetzt und Hier.
Erbetteln will ich nicht vom Selbstbetrug
Den feigen Trost. Das eine wissen wir:
Auch wir vergehn; und das ist Trost genug.

3.

Ich will mir meinen Freund nicht schelten lassen,
Den einz'gen, der mich schmeichelnd nie betrog,
Und den ich liebe, mag die Welt ihn hassen.
O Schmerz, du weiser, treuster Pädagog,
Noch nicht entwuchs ich deiner Zucht und Lehre,
Die mich mit rauher Hand zum Mann erzog.
Mich, der ich gern im Traum geblieben wäre,
Hast du erweckt, unsanft nach deiner Art:
Steh auf, und diesen Morgenbecher leere!
Ich trank. Da schüttelte mich Frost. Doch ward
Mein Auge wacker, diese Welt zu schauen,
So wie sie ist. Auf Wegen steil und hart
[206]
Der Kraft, die du mir gabst, lernt' ich vertrauen
Und wünschte mir kein Märchenflügelpaar,
Zu schwanken wahngewiegt im Ätherblauen.
Durch schwarze Gläser lehrtest du mich klar
Den Quell des Lichtes prüfen und erkennen,
Daß er so herzlos wie die andre Schar,
Die wir mit liebevollen Namen nennen,
Daß die erhabnen Sterne sonder Lust
Und Mitleid über unsern Qualen brennen.
Das aber trägt nur eine tapfre Brust,
Und darum haßt die Menge dein Ermahnen,
Den strengen Weckruf: Wolle, denn du mußt!
Du lässest sie den dunklen Urgrund ahnen,
Aus dem des All und Eins Grundwasser quellen,
Geheimnis allen tändelnden Profanen.
Und dennoch: wenn das Licht uns soll erhellen,
So müssen wir des Brennens Angst und Pein
Erdulden, ohn' uns weibisch anzustellen.
Nichts, was wir nicht erkämpft, wird unser sein;
Mit Lebensschätzen aus dem eignen Mark
Bezahlen wir des Wissens Dämmerschein.
Doch so sich läuternd wird die Seele stark,
Den Glanz der höchsten Wonnen auch zu tragen,
Daran fürwahr kein Heldenleben karg.
Ahnt ihr den Tiefsinn nicht der alten Sagen,
Wie jener Heros erntet' Himmelsruh',
Der durch Lernäas Sümpfe sich geschlagen?
O mein Befreier, Freund und Meister du,
Der mir vom Auge nahm des Wahnes Binden,
Ich jauchze dir in düstern Nächten zu.
Du, wenn mir alle Taggenossen schwinden,
Hältst bei mir aus, in Schlummer singst du mich,
Und selbst im Traum muß ich dich wiederfinden.
Und wenn die letzte Sonne mir erblich,
Die letzte Nacht die Flügel um mich breitet,
Dann neben meinem Lager find' ich dich,
Der mich an treuer Hand zum Frieden leitet.

[207] 4.

Und deine finstre Schwester, deren Bild
Ein Graun den Toren, die sich sicher wähnen,
Auch sie hat mir das Herz mit Trost gestillt.
Ihr großes Aug ist dürr und leer von Tränen.
Ein seltsam Lächeln irrt um ihren Mund;
Die fahle Lippe bebt an bleichen Zähnen.
Sie rauft ihr Haar nicht, schlägt die Brust nicht wun
Sie gleicht dem Bruder; aber kalt und fremd
Bohrt sich ihr Blick bis in der Seele Grund.
Die Linke steinern in das Kinn gestemmt,
Die Rechte starr am Dolch, sitzt sie und brütet
Und harrt der Zeit, da nichts den Willen hemmt.
Sie stiert so scheu, wie wer Vergrabnes hütet.
Sie weiß, man würde sie an Ketten legen,
Erriete man, was heimlich in ihr wütet.
Doch was sie immer sinnt, es ist zum Segen.
Mag sie die Torenwelt »Verzweiflung« taufen
Und fürchten, wie wir Nachtunholde pflegen:
Sie trachtet nur, Gefangne loszukaufen
Aus Lebenshaft und Seelen zu befrein,
Die voll von Jammer sind zum Überlaufen.
Drum sollte »letzter Trost« ihr Name sein,
Denn wo mit Schmach und heillos bittrer Not
Geschlagen wird ein zitterndes Gebein,
Und weder Gott noch Teufel Hilfe bot,
Da tritt sie zu dem hoffnungslos Gequälten
Und raunt ihm zu: Erwähle selbst den Tod!
Ich hauchte nur dich an, und dich Gestählten
Durchschauert Kraft, die schwere Kerkertür
Zu sprengen, eh' die Henker dich entseelten.
Willst du dich beugen jeder Ungebühr,
Auch noch die rechte Wange leihn dem Streiche,
Ein Büßender und weißt doch nicht wofür? –
So stillt den Ächzenden die stille Bleiche,
Und wenn ihm fremd ward jeder Rat der Welt,
O sie berät ihn gut, die Listenreiche.
[208]
Auch mir, du Mitleidvolle, bleib gesellt,
Ich flehe dich, wenn mir ein Los beschieden,
Das jeden Lebensbecher mir vergällt.
Die Bande, die uns an das Dasein schmieden,
Hilf mir sie sprengen, Freundin, führe du
Die stolze Seele, die das Glück gemieden,
Den sanften Sternen ew'ger Nächte zu!

5.

Zu bitter wär' ich? Doch wer hat's verschuldet,
Wenn meine Zunge trieft von Bitterkeiten?
Ein feiger Knecht, wer ohne Murren duldet!
Ward nicht, was Süßes ich genoß vorzeiten,
Mir über Nacht vergiftet und vergällt,
Entwertet meine liebsten Kostbarkeiten,
Da, die ich über jeden Schatz gestellt,
Die goldne Freiheit, nun als schlimmste Bürde
Mir unerträglich auf die Seele fällt?
Es wog mir kein Gewinn, noch Ehr' und Würde
Den Adel auf: mir selber zu gehören,
Nicht eingeschränkt in eines Dienstes Hürde;
Nicht mit banausischem Geschäft zu stören
Die stille Bildkraft, all die Schmerzenslust,
In ernstem Ringen Geister zu beschwören.
Wie war ich mir so streng und froh bewußt,
Daß meines Wirkens Maß und meiner Pflichten
Mir einzig ruht' im Grund der eignen Brust!
Und nun – wie möcht' ich gern auf mich verzichten
Und, fremdem Willen dienstbar untertan,
Ein dumpfes Werk gedankenlos verrichten!
Den Bauer neid' ich, der in grader Bahn
Die Furche zieht, den Kärrner, der im Staube
Des Heerwegs seinen Rossen geht voran.
Und jener dort in niedrer Reisiglaube,
Der Steine klopft, gebückt am heißen Wege,
Nicht ödem Müßiggang ist er zum Raube.
Sein Tagwerk fördert jeder seiner Schläge,
Und, wacker bis zum Feierabend, letzt
Ihn seine Flasche, wird der Arm ihm träge.
[209]
Und ich – dem selbst der Quell der Musen jetzt,
Der Himmelstrank, wie schaler Spülicht mundet,
Wo ist ein Werk, ein Ziel, das mich ergötzt?
Denn die Gestalt, die sich dem Dichter rundet,
Soll er beleben mit dem eignen Blut.
Wie? wenn er selbst nun ward zu Tod verwundet,
Daß Lebensüberfluß und -übermut
Versiegen und die Liebe geht verloren,
Die auch an seinem Werk das Beste tut?
So hab' ich selbst mich wider mich verschworen.
Mir selbst gehör' ich? Keinen schlimmern Herrn
Und keinen ärmern hätt' ich je erkoren.
Sein schnödes Joch abschütteln möcht' ich gern,
Der mich mißhandelt, der mich darben läßt,
Und kann nur knirschend an der Kette zerrn.
So wird der Freiheit jammervoller Rest
Mir noch zum Fluch. Wenn unser Wille schwankt,
Gleich einem Vogel, dem zerstört das Nest,
Dann strebt das Ich, das an sich selber krankt,
Sich loszuwerden, von des Sehnens Not
Zu ruhn in einem Ziel, das nimmer wankt, –
Und was ist hier gewiß, als nur der Tod?

6.

Noch eh' der Hügel grünt auf deinem Grab,
Eh' jener Kränze bleicher Schmuck vermodert,
Die man dir mitgab in die Nacht hinab,
Wie? all die Glut der Schmerzen schon verlodert?
Die Augen trocken, kühl der Herzen Schlag,
Als wäre nichts geschehn, was Tränen fordert?
O ihr, da er noch auf der Bahre lag,
An Jammer unersättlich, wie so eilig
Verleidet' euch das Leid der lust'ge Tag!
Im Wechsel euch betäuben müßt ihr freilich,
Denn an die eigne Flachheit mahnt euch bald
Ein jedes Wehgefühl, das tief und heilig.
Drum habt ihr eure Sprüchlein maunigfalt,
Daraus ihr lernt: ein Tor, wer nicht genieße
Des Augenblicks buntgaukelnde Gestalt,
[210]
Vom Strom nicht trinke, der so rasch verfließe,
Versäumend eines Sonnenblickes Gunst,
Fruchtlosen Gram fest an den Busen schließe.
Carpe diem! – das sei die Lebenskunst;
Memento vivere! und nicht zum Heile
Dem lebenden Geschlecht sei Gräberdunst.
So geht denn hin und kehrt in schnöder Eile
Zu nicht'gem Tagwerk, das euch wichtig scheint,
Indes ich still bei meinem Toten weile.
Ich habe meinen Gram nicht ausgeweint,
Wie ihr, nicht aus den Augen ihn verschüttet;
Zu tief mit meinem Blut ist er vereint.
Nichts hab' ich mehr, das noch zur Not verkittet
Die Stücke des zerbrochnen Seins, als ihn,
Der ganz die Seele füllt, obschon zerrüttet.
Nicht will ich feige mir und ihm entfliehn,
Will heil'gen meines Schmerzes Feiertage,
Da mir der Andacht hohe Kraft verliehn.
Denn Frevel dünkt mich, daß man sich entschlage
Der Pflicht des Danks, mit Schmerzen die zu missen,
Die man geliebt mit innigem Herzensschlage.
Die frommen Alten lehrt' es ihr Gewissen,
Dem Gram sein Recht zu geben, wie der Freude,
Und das Volk Gottes hat sein Kleid zerrissen.
Nur ihr, die ihr der Selbstsucht Wahngebäude
Auftürmt, ihr nennt zu kostbar die Sekunde,
Die man an hoffnungsloses Weh vergeude.
O nun versteh ich, was mit stummem Munde
Du mir gesagt, mein Liebling, als mit Stöhnen
Und Schluchzen dich umgab die dichte Runde.
Dein Schweigen schien ihr Klaggeheul zu höhnen,
Als wüßtest du, der kärglichste Gewinn
Wird morgen sie mit dem Verlust versöhnen.
Die Augen, dunkel starrend vor sich hin,
Bekannten: Wohl mir, daß ich dieser Erde,
Die keine Treue kennt, entnommen bin!
So streng weltabgewandt war die Gebärde,
So kühl und stolz, es bangte mir fürwahr,
Als ob ich selbst von dir verachtet werde.
[211]
Nein, Liebling, mich nur aus der dumpfen Schar
Sollst du getreu und deiner wert erfinden;
Denn was dein Lächeln meinem Leben war,
Wird mit dem letzten Hauch nur mir entschwinden!

7.

Die Träne quillt nicht mehr. Im dürren Staube
Gleichgült'gen Tagwerks ist ihr Quell versiegt.
Die Wunde will schon heilen, wie ich glaube.
Ich sage mir, wie still er draußen liegt,
Wo unter Blumen wir ihn hingebettet,
Dicht an sein totes Schwesterchen geschmiegt.
Und Weisheit raunt mir zu: er ist gerettet
Vor vielem Weh, von keiner Last beschwert,
Frei von dem Schmerz, der an die Schuld sich kettet.
Dies Menschendasein, ist's der Mühe wert?
Hin ging er, wie der holde Frühling scheidet,
Von schüchtern zartem Jugendglanz verklärt.
Ist das ein Ende nicht, das jeder neidet?
Ist's nicht ein frevelnd eigensücht'ger Gram
Um den, der ewig keinen Kummer leidet? –
Doch wenn die Nacht mit ihren Schatten kam,
Nichts mehr sich regt, als meines Herzens Pochen,
Und schon der Schlummer mich gefangen nahm,
Auf einmal wird des Schlafes Bann gebrochen:
Zwei Augen sehn mich an, so wohlbekannt,
Die Stimme klingt, die hold zu mir gesprochen.
Jäh fahr' ich auf, und an des Bettes Rand
Seh' ich den Knaben aus den Dämmernissen
Der Nacht mir winken mit der kleinen Hand,
Und lautaufweinend sink' ich in die Kissen.

8.

(Am 5. April)


Mit jedem neuen Kind wirst du zum Kinde.
Der Werdeschrei des jungen Lebens sprengt
Des grauen Herzens narbenvolle Rinde,
[212]
Daß es wie Frühlingsschauer dich umfängt
Und dir erblüht ein selig Mitempfinden
Der Lebenslust, die hier zum Lichte drängt.
In Tränen will das Auge dir erblinden;
Die Schatten, die den Erdentag umgraun,
Im Strahl der Hoffnung müssen sie verschwinden.
O holder Mut, o lächelndes Vertraun!
Es lebt! – und alle Sorgen sind vorbei.
Wer möchte noch zurück nach Gräbern schaun?
Nur mir hat dieser benedeite Schrei
Das Auge nicht getränkt mit Freudengüssen;
Erstarrt im dumpfen Graun stand ich dabei.
O Kind, wie harmvoll mußt' ich dich begrüßen
Und habe meines Schluchzens Kampf und Beben
Erstickt an deines Mündleins ersten Küssen.
Die Stunde war zum Eintritt in das Leben
Nicht klug gewählt, zu kurze Frist vergangen,
Seitdem dein Bruder uns Valet gegeben.
Die Hand, die eben seine blassen Wangen
Geliebkost, kühl von Todesschweiß beronnen,
Wie sollte sie dein Händlein nun umfangen?
Wie töricht schienst du mir, wie unbesonnen,
In diesem Würfelspiel dein Glück zu wagen,
Drin jener seinen Einsatz kaum gewonnen!
Da hört' ich deine Mutter nach dir fragen:
Wo ist das Kind? O gebt es mir, o gebt,
Und laßt mich fühlen seines Herzens Schlagen!
Und wie dein kleiner Mund an ihrem bebt'
Und sie mit mattem Lächeln, von Entzücken
Wie trunken, hauchte: Unser Kind! Es lebt! –
Da sprang der Reif um meine Brust in Stücken,
Und ich erkannte, daß du wohlgetan,
Da du's gewagt mit dieses Lebens Tücken.
Es leuchtet doch ein Stern auf deiner Bahn,
Der wohl des Weges Mühe kann vergüten
Und dir zu Häupten stand, dich zu empfahn:
Ein Mutterauge wird dein Leben hüten,
Ein Mutterherz dir deine Schmerzen lindern,
Ein Muttersegen reifen deine Blüten –
So wag es denn, mit andern Mutterkindern!

[213] 9.

Kommt an mein Herz, kommt nah heran, ihr Lieben!
Im Jammer, welch ein Raub an mir geschehn,
Vergaß ich, welch ein Reichtum mir geblieben.
Laßt nur des Sturmes erste Wut verwehn,
Dann blickt des Himmels ausgeweinte Bläue
Gelassen durch, drin tausend Sterne stehn;
Und man gedenkt der Lebenspflicht aufs neue,
In Grüfte nicht die Seele zu vergraben,
In frevlem Unmaß sehnsuchtsvoller Treue.
Sollt' ich der Pflicht zu lang vergessen haben,
Vergebt mir's! Dieser Schlag war allzu herbe.
Zu herzlich hing mein Herz an diesem Knaben.
Nun sei die Menschheit meines Lieblings Erbe,
Auf daß der Schatz, den ich für ihn gespart,
An Liebeskraft nicht herrenlos verderbe.
Sie meinen, wer sich keiner Himmelfahrt,
Nicht froher Urständ' will getrösten lassen,
Dem müsse trostlos sein die Gegenwart.
Dies bange Erdenzwielicht müss' er hassen,
Das nicht ein Strahl der Hoffnung je verkläre,
Und in Verzweiflung werd' er einst erblassen.
Kommt! Machen wir dem eignen Credo Ehre!
Aufrechten Haupts, nicht trotzig, nicht verzagt,
Liebt, was da lieblich ist, ertragt das Schwere.
O schämt euch nicht, daß ihr in Schmerzen klagt!
Es ächzt der Baum, wenn Ungewitter toben,
Und krümmt den Wipfel, der so hoch geragt.
Dann wieder still von Sonnenglanz umwoben
Trinkt er den Äther, reift der Ernte zu,
Bis ihn die Axt zerspellt zu Scheit und Kloben.
So, Kind der Erde, füge dich auch du
Und neide nicht hoffärt'gen Himmelspächtern
Und Säulenheil'gen ihre dumpfe Ruh.
Wag es, gleich all den atmenden Geschlechtern,
Dein Herz zu hängen an dies kurze Sein,
Die Welt zu lieben trotz den Weltverächtern.
[214]
Der Augenblick und dein Gemüt sind dein,
Du Sterblicher; du sollst sie zum Gefäße
Des edelsten, des ew'gen Inhalts weihn.
Was jedem, der zu eigen es besäße,
Das Leben tröstlich macht, das schaff in dir
Und teil es mit, wo jemand sein vergäße.
So hast du Ewigkeit und Himmel hier,
So wirkst du in dir aus die echte Milde,
Die rein von Kälte bleibt, wie von Begier.
Es müssen sich erfreun an deinem Bilde,
Die dürft'ger sind, als du, und alle Schwachen
Beschirmst du treu mit deinem goldnen Schilde.
Laß dann die Stolzen deiner Armut lachen,
Die ihren Schatz im Jenseits angelegt;
Du bist doch reich, um viele reich zu machen.
Du hast ein Herz, das frei und innig schlägt,
Hast deine Sinne, voll dich zu erquicken,
Ein Flügelpaar, das dich zum Lichte trägt,
Und Mut, dem Tod ins Angesicht zu blicken.

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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2012). Heyse, Paul. Ernst. TextGrid Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-6480-F