Friedrich Rückert

1.

Als ich zur Winterflucht mein Bündel schnürte,
Steckt' ich, die schwerlich man im Süden fände,
Auch meines teuren Rückert Liederbände
Mit ein, dem dieser Vorzug wohl gebührte.
Wie bin ich froh, daß ich ihn mit mir führte!
Denn nie lies't diesen Reichen man zu Ende,
Dem gütig so Natur gefeit die Hände,
Daß Poesie ward, was er je berührte.
Nun liegt vor unserm Blick auf tausend Seiten
Sein Leben, sein Gemüt, sein tiefstes Denken,
All seine Freuden, Schmerzen, Traulichkeiten.
Wohl frommt's, in solchen Schatz sich zu versenken
Und nach der trüben Flut der jüngsten Zeiten
Aus diesem reinen Quell sein Herz zu tränken!

2.

Gleich einem Schiffer, der zurückgekehrt
Von mancher Fahrt, in seiner engen Hütte
Treu aufbewahrt nach guter Schiffersitte,
Was ihm die Fremde Köstliches beschert,
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So hielt auch er des Aufbewahrens wert,
Was auf des Flügelpferds weltweitem Ritte
In Welschlands und des Morgenlandes Mitte
Vielsprachig ihn der Muse Gunst gelehrt.
Doch wie nachdichtend alles er umfaßte,
Sein Herz gehörte dem nur, was entsprungen
Dem tiefen Grund der heimatlichen Scholle.
Da lud er seine Freunde gern zu Gaste
Und fragte liebevoll auch mich, den Jungen,
Ob ich an seine Tür nicht klopfen wolle.

3.

Daß ich's versäumte, weckt mir ew'ge Reue.
Nie sollt' ich in sein leuchtend Auge blicken,
Niemals versuchen, stammelnd auszudrücken,
Wie innig seines Sangs ich mich erfreue.
Nun häng' ich um so mehr mit später Treue
An seinem Bilde, dem so kalt den Rücken
Die Mode kehrt, die immer mit Entzücken
Preis't das Vergängliche, das gleißend Neue.
Mir aber ist, blättr' ich in seinen Liedern,
Als hört' ich eines Freundes Stimme tönen
Und müßte jetzt noch seinen Gruß erwidern,
Mit Lorbeer seine Dichterstirne krönen
Und sein Gemüt, verwundet durch den niedern
Undank der nachgebornen Welt, versöhnen.

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TextGrid Repository (2012). Heyse, Paul. Friedrich Rückert. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-654F-8