[452] Reisebriefe

Nach Hause
1.

Liebste, da ich heut im Regenzwielicht
Von dir ging, noch unsern Buben herzte,
Und die großen Mädchen sehr verschlafen
Mir zum Abschied Mund und Wange boten,
Dann der Morgenwind mit frost'gem Schauer,
Gar nicht lenzhaft, mein Gesicht umsprühte –
Sinnlos schien ich mir und aberwitzig,
Daß ich fortging, weil der Arzt geraten,
Alten Gram in neuer Luft zu heilen.
Der Gesundheit, ach, des Friedens Quelle,
Fließt sie einzig nicht im Bann des Hauses?
Auch der schönsten Ferne fremdes Treiben,
Farbenbunt geschäftig Weltgewimmel –
Was dem wunden Herzen kann es bieten,
Das ihm besser nicht daheim erblühte?
Und so drückt' ich, trutzend und verdrossen,
Fest mich in den dumpfen Fensterwinkel,
Scheinbar schlafend. Doch den Schein benutzte
Ein vergnüglich Flitterwochenpärchen,
Das der Kellner im Hotel vermutlich
Allzufrüh geweckt aus Liebesträumen.
Denn sie hatten viel geheime Dinge
Sich ins Ohr zu flüstern, sich die Hände
Zu zerdrücken, und im Tunnel vollends
Hört' ich's wie verstohlne Küsse zwitschern.
Ich zwar, über solche Menschlichkeiten
Milde denkend, drückte gern ein Auge
Drüber zu, und blinzelnd mit dem andern
Sah ich in die glimmende Morgenröte.
Doch mein Zartsinn half nicht lang. Ein zweites
[453]
Pärchen stieg mit Kind und Kinderwärtrin
Zu uns ein, die Frucht der Honigwochen
Zappelnd auf dem Schoß, und nicht zum Kosen,
Nicht mehr aufgelegt zum Händedrücken,
Da das Äffchen steter Wartung brauchte.
Es dem guten Großpapa zu zeigen,
Willig litten sie die Reiseplage,
Mit unendlichem Gerät beladen,
Fläschchen, Töpfchen, Klapper, Müschenpfanne,
Übersorglich stets, doch überselig,
Weil der goldne Liebling sehr manierlich
Sich betrug und jedermann ihn lobte.
Wieder Halt, und neue Menschen. Trällernd
Steigt ein muntrer junger Mann, in flottem
Großkarriertem Anzug, in den Wagen,
Bald mit seinem ältern Gegenüber
In Gespräch vertieft und rascher Freundschaft.
Beide handelten mit gemischten Waren,
Und nachdem der Jüngre stolz berichtet,
Heut in Koburg harre sein das Bräutchen,
Da er morgen dort die Hochzeit feire,
(Seligmann und Löwes einz'ge Tochter)
Fand er Muße, einen Zentner echten
Schweizerkäse – unter zweiundzwanzig
Gulden könn' er ihn bei Gott! nicht lassen –
Zu verhandeln. – Doch im Winkel nickte
Eine alte Judenfrau aus Bamberg,
Neben ihr ein Enkelkind. Der Frühling
Hatte sie verlockt zum großen Wagnis,
Ihren Sohn in Kulmbach heimzusuchen
Auf der Bahn. Die weißen Haubenbänder
Glänzten spukhaft über der schwarzen Haartour,
Und sie nickt' und murmelte und horchte
Zwischendurch auch nach dem Käsehandel.
Leben! dacht' ich. Alle diese leben,
Freuen sich des Tags und seiner Lasten,
Seiner Lieb' und Lust. Warum, ihr Götter,
Schuft ihr mir ins Herz dies Ungenügen,
Das im Schoß so reichen Guts nur immer
Des Verlornen denkt!
[454]
Und selben Abend
Stieg ich, angelangt im schönen Koburg,
Das so reinlich wie ein frischlackiertes
Teebrett mit geblümten Meißner Tassen
Zwischen Hügeln liegt, hinauf zur Feste.
Faulbaum, Flieder, Apfelbäume blühten,
Amseln sangen, und geputzte Menschen
Gingen satt und selig durch die stillen
Parkgebüsche. Doch, als aus den leichten
Regenwolken, die der Westwind jagte,
Einzle Strahlen äugelten – gewissen
Liebesblicken gleich, die in Italien
Man Occhiaten nennt – da sprach ich also:
Ja, dies Leben – viel ist nicht dahinter.
Aber daß der Mensch das abgespielte
Bürgerliche Rührstück stets von neuem
Sich gefallen läßt, hat seine Gründe.
Erstlich: die Kulissen sind bezaubernd.
Berg' und Auen, Sonn' und Maienblüte,
Dann der Vogelbrut und Kinderstimmen
Helle Symphonie – sie täuschen drüber,
Daß die Handlung platt, das Ende kläglich
Und der Autor, ob man nun ihn loben
Oder meistern mag, sich hüllt in Dunkel.
Zweitens: Niemand hat bis jetzt ein andres
Mittel noch entdeckt, der Liebeswunder
Eines Menschenherzens, auch in Trübsal,
Auch an Gräbern sich bewußt zu werden,
Als: es mit dem Leben frisch zu wagen.
Und so laß auch uns, Geliebte, leben,
Eins im andern, gut' und böse Tage
Und auch diese Trennungsnöte segnen,
Da sie unsrer Herzen, der untrennbar
Eins gewordnen, fester uns versichern.

2.

Sehr nachdenklich meinen Tag begann ich.
Nach der Wartburg, unter mißgelauntem,
Weinerlichem Himmel, dem zuweilen
Tropft' ein Tränlein aus der Wolkenwimper,
[455]
Schritt ich aufwärts durch die Frühlingswälder,
Dachte, wie vor fünfundzwanzig Jahren
Singend ich denselben Weg gewandelt,
Wieviel Wasser wohl seitdem zum Meere,
Wieviel Blut vom Herzen mir geflossen,
Wie – mit einem Wort – ich alt geworden.
Könnt' ich heut nicht meine Silberhochzeit
Feiern mit der alten Lutherfeste?
Sie zwar hat sich sehr verjüngt. Der Neubau
Mit den Fresken Meister Schwinds – die gute,
Dicke, kluge, feine Märchenseele
Schläft nun auch schon ihren letzten Schlummer –
Dann das reinlich aufgeräumte traute
Lutherstübchen – der berühmte Teufels-
Tintenfleck erst kürzlich frisch gefirnißt –,
In dem Kasten auf dem Tisch, an dem die
Bibel übersetzt ward, eine Sammlung
Photographischer Karten (auch Fritz Reuters
Eisenacher Villa) – Neuerungen,
Die mich seltsam mahnten, wie die liebe
Zeit vergeht und wir mit ihr, und wenig
Nur besteht, vom Guten kaum das Beste.
Und nachdenklich nach dem neuerbauten,
Gotisch aufgeputzten kleinen Wirtshaus
Ging ich, meiner Silberhochzeitsstimmung
Einsam auf dem Söller nachzuhängen.
Zart im Duft verschleiert lag die Landschaft,
Und erblauend überm Tannendunkel
Sah das kahle Rhöngebirg herüber.
Aber neben mir im Schenkenstübchen
Lärmt' ein Kleeblatt Eisenacher Schüler,
Rauchend, Karten spielend und die Schenkin
Mit vorzeitigen Studentenwitzen
Um die Hüfte fassend.
Süße Jugend!
Dacht' ich. Hast auch du vielleicht vorzeiten
Hier dich aufgeführt im gleichem Stile,
So den Genius des Orts verleugnend?
Nein, wie sehr du warst ein grüner Junge,
[456]
Voller Schulwitz noch und Schülerpossen –
Erste Liebe schwellte dir die Seele,
Vor dir lag die Welt in Märchensonne,
Scheu verstummtest du vor großen Namen.
Und das Spiel des Lebens, das du wagtest,
Nicht um Pfennige ging's. –
Da trat die Sonne
Durchs Gewölk. Noch immer sehr nachdenklich
Brach ich auf und wandte mich zu Tale,
Kühle, liebliche Pfade, nach dem tiefen
Anna-Tal, wo in der feuchten Felswand
Riesengroß ein A den Wandrer anblickt.
Plötzlich fiel mir ein, wie sinnig-seltsam
Mein Geschick gespielt mit teuren Namen:
Damals, meiner ersten Liebe denkend,
Rief ich Annas Namen in die Talschlucht,
Wie ich heut, der letzten Liebe denkend,
Mit dem gleichen Ruf das Echo weckte!
Und nun rastet' ich im feuchten Grunde,
Während über mir die Mittagssonne
Brütend schlich und hier mich nicht versengte.
Kühl und stille war's umher. Es brannte
Nur die Flamme mir im Busen, hoch und
Höher lodernd. Himmel, ist es möglich?
Hat sie herrlicher entlodern können
Damals mir, vor fünfundzwanzig Jahren?
Und so wär' ich doch nicht alt geworden,
Wäre doch noch lieb- und jugendfroher,
Als die Herrlein in der Schenke droben,
Die mit Kartenspiel im schönsten Frühling
Ihren Festtag heiligen und beim Dünnbier
Helena in jeder Schürze finden,
Während ich, empfindsam wie ein Schüler,
Hier im Schatten sitz' und ein Gewimmel
Holder Liebesgötter sich herandrängt?
So nachdenklich meinen Tag begann ich,
Und nun, da ich diesen Brief geschrieben,
Lacht so fröhlich mir das Herz im Leibe,
Wie mir's nur gelacht in jüngster Jugend.

[457] An Joseph Viktor v. Scheffel in Karlsruhe

Lieber alter Freund, gedenkst du
Unsrer Sorrentiner Tage,
Da wir in der Rosa magra,
Jener billigen, bescheidnen
Künstlerherberg' alten Stiles,
Traulich hausten Tür an Tür?
Du, von Capri erst gelandet,
Da wir kaum in rotem Landwein
Uns den Willkomm zugetrunken,
Gabst des Säckinger Trompeters
Erst Kapitel mir zum besten,
Frischgedichtet in Paganos
Palmenschatten; ich dagegen
Ließ dich sehn die Arrabbiata,
Kaum noch von der Tinte trocken.
(Lest Ihr eine Predigt? fragt' uns
Die Luisa, die von anderm
Mündlich feierlichem Vortrag,
Von Gedichten und Novellen
Nie ein Sterbenswort gehört.
Und wir lachten.) Sacht inzwischen
Hatte sich Laurellas Urbild,
Jener braune, fünfzehnjähr'ge
Wildfang, bei uns eingeschlichen.
Einen Rosenstrauß in Händen
Raste sie um Tisch und Stühle,
Keines heft'gen Zurufs achtend,
Bis ich bei den schwarzen Flechten
Sie ergriff; da fletschte wild sie
Ihre blanken Katzenzähne,
Mich mit scharfem Biß bedrohend,
Wenn ich etwa hinterm Gitter
Des Balkons sie zähmen wollte;
Aber plötzlich sich besinnend
Warf sie ins Gesicht den Strauß mir
Und entsprang mit hellem Schrei.
[458]
Draußen war indes der Vollmond
Rot am Horizont erglommen,
Hatte bald um Strand und Gärten
Ausgespannt sein weiches Goldnetz,
Das die Seelen magisch einfängt,
Und hinaus zum offnen Söller
Lockt' uns seine Zauberpracht.
Welche Nächte! Welche Wonnen!
Über allen Zauber Jugend!
Weit hinaus im Glanz verduftend
Schwamm das Meer; die eigne Zukunft
Schien uns wie ein Wundereiland
Fern emporgetaucht zu grüßen,
Und wir standen, starrten, staunten,
Bis vom Wind gewiegt das letzte
Ritornell am Strand verstummte
Und der Schlaf, der Freund der Jugend,
Uns auf hartem Bett umfing.
Hart wohl in der Rosa magra
War das Lager, hart zuweilen
Das arrosto oder fritto,
Doch die Herzen weichgeschaffen
(Sempr' allegra, ma onesta!
Klang Luisas biedrer Wahlspruch),
Und wir lebten so vergnüglich,
Wie ich dies in den Idyllen
Von Sorrent hernach des Breitern,
Nur vielleicht zu offenherzig,
Beichtet' einem günst'gen Leser,
Einer strengen Leserin.
Kürzlich nun, nach fünfundzwanzig
Langen süß' und bittren Jahren,
Da im Zauberland der Jugend
Ich gesucht ein Leidasyl, –
Gleich des herzlichen Genossen
Jener Tage mußt' ich denken,
Wie auch er aus andern Augen
[459]
Heut in Meeresweite blicken,
Wie auch er mit anderm Herzen
Grüßen würde diesen Strand.
Zwar den groß' und kleinen Hafen,
Die gewundne Treppensteile,
Grau und schlüpfrig, fändst du wieder,
Fändst die wohlbekannten schmalen,
Mauerschluchtig dunklen Gassen
Noch wie damals von Gerüchen –
Stockfisch, Öl, Johannisbrotfrucht –
Hexenküchenhaft durchduftet;
Noch wie damals auf den Schwellen,
Loggien, Mäuerchen, Balkonen
Braune Weiber, wockenschwingend,
Ihre nackten, funkeläugigen
Kinder säugend oder kämmend,
Mit dem Ruf: Muojo di fame!
Nur die großen Fremdenfallen,
Die Hotels, an allen Ecken
Sind sie mächtig aufgeschossen,
Daß die schmächt'ge Rosa magra
Vollends schamhaft sich verkriecht.
Dann die Piazza – traun, du kenntest
Einzig an der Schlucht sie wieder,
Die von Brücken überwölbet
Schauerkühl zum Meer hinabsinkt.
Ringsumher stehn neue Häuser;
Auf dem Ehrenplatz inmitten,
Unter Kutschern, Eseltreibern,
Müßig lungerndem Gesindel,
Tassos weißes Marmorstandbild,
Halb ein Landsknecht, halb ein Geck.
Armer Dichter! Noch im Tode
Spürt' er seines Unsterns Walten,
Und von allen Marmorstümpern
Fiel dem Gröbsten er anheim!
[460]
Doch genug von toten Steinen!
Unser Herz gehört Beseeltem,
Menschen unser Angedenken.
Zwar, die Menschen, wenn nicht zeitig
Von der Bühne sie verschwinden,
Tauschen seltsam oft die Rollen.
Aus dem Helden wird zuweilen
Ein Philister, feig und schäbig,
Aus Naiven tragische Mütter,
Aus dem Primo amoroso
Ein moroser alter Narr.
Besser fand ich's hier im ganzen.
Freilich, aus der Rosa magra
War die Mutter weggestorben,
Weggezogen alle Kinder,
Nur Gennaro, der als Jüngster
Damals noch im Hemd herumlief,
Hält mit seinem jungen Weibe
Aufrecht ihres Hauses Ruhm.
Doch Luisa heimzusuchen,
Mußten wir nach Meta wandern,
Wo sie, eines Stubenmalers
Ehweib, mit der einz'gen Tochter
(Ganz ihr Abbild! non è bella,
Ma simpatica, sapete!)
Haust in mäßigem Behagen
Und ein Farbenlädchen hält.
Sempr' allegra, ma onesta
Gab sie den Besuch uns wieder,
Kam mit Mann und Kind und Schwester,
(Die in feurig süßem Wein sich
Einen Spitz trank, poverella!)
Und viel tausend Grüße soll ich
Dir bestellen, Don Pepino,
Und sie wußten noch den kleinsten
Umstand jener alten Zeit.
Auch die Arrabbiata fand ich,
Da sie just im Hof am Ziehbrunn
[461]
Wasser schöpfte. Näher tretend
Bat ich: Reicht mir auch zu trinken!
Und so übern Krug hinüber:
Kennt Ihr mich nicht mehr, Laurella?
(Selbst erkannt' ich kaum die alten
Übermüt'gen Züg' im breiten,
Ruhigen Matronenantlitz.)
Doch sie wiegt' ihr Haupt verneinend,
Noch im Schmuck der schwarzen Flechten,
Dran ich damals sie gezügelt,
Und erzählte mir, wie vieles
Unterdes sich zugetragen,
Wie sie ihren Mann gefunden
Und verloren, sieben Kinder
Ihm geboren, vier begraben,
Nur zwei Mädchen noch im Hause
Und der Sohn ein rüst'ger Schiffer.
Wahrlich, sieben Kinder löschen
Wohl der eignen Kinderpossen
Angedenken in dem Herzen
Eines schlichten Weibes aus.
Und wir reichten uns die Hände;
Auch die beiden Mädchen kamen,
Schön und schlank herangesprossen,
Zahmer als die Mutter damals,
Und mit stillem Segenswunsche
Schritt ich aus dem stillen Haus.
Doch auf deinen Lippen lang schon
Seh' ich eine Frage schweben
Nach der Lieblichen, der Liebsten,
Jener stillen, schöngeäugten
Jungen Nachbarin, die damals
Schwesterlich das Herz mir rührte,
Ihres auch mir freundlich neigte,
Sehr unschuldig. Waren beide
Herzen doch in festen Händen,
Beide, wie in Ferienlaune,
[462]
Wärmten sich an fremdem Feuer,
Bis die Scheidestunde schlug.
Wohl! auch Mariuccia fand ich,
Noch im alten finstren Häuschen,
Täglich am Balkone sitzend,
Träumrisch, ihr Gestrick in Händen
Und beträchtlich stark geworden,
Um sie her ein schwirrend, gurrend,
Glucksend Volk von Hühnern, Tauben,
Auch ein Kätzchen im gebräunten
Lehnstuhl kauernd; rings die Wände
Rauch- und staubgeschwärzt; die alten
Möbel dürftig, blind das Spieglein
An der Wand, vergilbt die bunten
Heil'genbilder überm Bette,
Daß beklommen, da ich eintrat,
Sich das Herz zusammenzog.
Und ich saß ihr gegenüber,
Und wir suchten eins im andern
Die entschwundne Jugend wieder.
Sag mir, Mariuccia, fragt' ich,
Warum bist du einsam blieben?
Angiolinas Onkel, weißt du,
Jener schlanke Apotheker,
Warst du nicht mit ihm versprochen?
Und er liebte dich, und du auch
Liebtest ihn
Im nächsten Jahre,
Sprach sie still, ist er gestorben,
Und seitdem Ihr weggegangen,
Ist kein andrer mehr gekommen,
Mariuccia schön zu finden.
Seht, ich bin's auch nicht geblieben;
Wer betrübt ist, altert frühe.
Und nun führ' ich meinem Bruder
Hier das Haus seit manchem Jahre.
An Gesellschaft ist kein Mangel,
[463]
Wie ihr seht; ich bin genügsam.
Immer seh' ich vom Balkone
Einen Tag dem andern folgen,
Bis zuletzt der letzte kommt.
Fünfundzwanzig lange Jahre,
Nicht voll süß' und bittrer Stunden,
Liebeleer, in ödem Gleichmaß,
Statt von holden Kinderlauten,
Nur umschwirrt von Vogelstimmen,
Ach, und das ein Menschenleben?
O Mariuccia, armes Herz!
Und wir reichten uns die Hände,
Und ich sah auf mir die schönen
Junggebliebnen Augen ruhen
Ohne Wunsch und ohne Klage,
Und mit tiefbewegter Seele
Schritt ich aus dem stillen Haus.
Abends, da mit meiner Liebsten
Ich im Dante las – dem kleinen
Exemplar, das du mir scheidend
In Sorrent zurückgelassen,
Noch am Rand die Spuren deines
Hermeneutischen Bemühens –
Und der Mond durch der Oliven
Zartes Silberlaub hereinsah,
Und wir an die Stelle kamen,
Wo Francesca seufzt: Es ist kein
Größrer Schmerz, als sich im Leid auf
Altes Glück zurückbesinnen! –
Plötzlich aus den Händen gleiten
Ließ ich stumm das Buch; im Sessel
Lehnte sich mein Weib zurücke,
Und ich sah, wie große Tropfen
Schwer ihr aus den Wimpern quollen.
Woran dachten wir? O Teurer,
Still davon! Es soll der Wehmut
Dunkler Kelch nicht überfließen.
[464]
Birgt doch auch geheime Süße
Alten Glückes treu Erinnern.
Des zum Zeichen, von der Küste
Napolis, der lebensfrohen,
Trag' im Winter dieses Blatt dir
Einen Hauch des Südens zu!
Neapel, November 1877

An Arnold Böcklin in Florenz

Als ich in Rom nur eine Nacht geschlafen,
An die Ripetta zog es mich hinab,
Zu jenem Hause, wo wir oft uns trafen.
Heut sahn die Fenster fremd auf mich herab.
Stumm schlichen hin des alten Stromes Wellen,
Und niemand war, der mir Willkommen gab.
Wo sind sie nun, die fröhlichen Gesellen,
Die Bienen gleich hier schwärmten aus und ein,
Der Künste Honig tragend in die Zellen?
Ich überwand mich nicht und trat hinein.
Ich stand in alter Tage Traum verloren
Und glaubte wieder jung und froh zu sein.
Von neuem klang der Lärm vor meinen Ohren,
Wie jenen Morgen, da an diesem Haus
Der Wagen hielt, den wir zur Fahrt erkoren
Zum Haine der Egeria hinaus,
Wo Jahr um Jahr das lustige Gelichter
Zu halten pflegte den Oktoberschmaus.
Nun stiegen ein sechs lachende Gesichter,
Bildhauer drei, zwei Maler außer dir
Und auf den Bock ein grüner junger Dichter.
Den großen Korb zu hüten gab man mir
Mit unserm Vorrat, dem gewalt'gen Braten
Und allem, was gehört zur Tafelzier;
Dazu die Aschenurne voll Pataten,
Ein Fläschchen goldnen Öls war auch zur Hand
Und was an Früchten ließ der Herbst geraten.
So sausten wir durch Rom. Die Sonne stand
Klar am Oktoberhimmel; jede Linie
Des Horizontes scharf und rein gespannt.
[465]
Und wo dem Tore nah die alte Pinie
Herüberwinkend ihren Wipfel hob,
Hielt das Gefährt vor einer schlichten Vigne.
Der Vignerol, ein zottiger Cyklop,
Lud uns ein Fäßlein Roten auf den Wagen,
Der mit der neuen Last von dannen stob.
So auf der Gräberstraße hingetragen,
Sah ich die Wüste Roms zum erstenmal
Und bald auch der Oase Wäldchen ragen.
Du sagumklungen quellenkühles Tal,
Dem zwei Jahrtausende vorübergingen,
Seit Numa sich zu seiner Nymphe stahl,
Nie sahst du schönre Glut zum Himmel dringen,
Als wir entfacht im Eichenschatten dort,
Wo wir uns lagernd unser Fest begingen.
Du aber zogst, o Freund, den Neuling fort,
Ihm erst der Grotte Heiligtum zu zeigen,
Versteckt im Hochgras, sommerlich verdorrt.
Rings die Campagna lag im Mittagsschweigen,
Und wie wir traten aus der feuchten Nacht,
Sahn wir den Rauch in stiller Wolke steigen
Aus immergrünen Wipfeln, wie gemacht
Zum Tempel, drin ein Opfer zu entflammen
Den alten Göttern, deren ew'ge Macht
Die klugen Nachgebornen kühl verdammen.
Wir aber schlangen wucherndes Gerank
Des Efeulaubs zu Kränzen leicht zusammen.
Die fanden bei den andern lauten Dank,
Und so bekränzt nun überm stillen Tale
Erhoben wir die Hand zu Speis' und Trank.
Gedenkst du noch, wie Franz mit voller Schale
In Priesterandacht unsres Herdes Glut
Umschritt, den Göttern spendend vor dem Mahle?
Und hoch und höher stieg der Übermut.
Bacchantisch überschwoll die Festeslaune,
Genährt von des Velletri dunkler Flut;
Bis unser Däne dann, der Bärt'ge, Braune,
Die Kleider abwarf und ums Feuer nackt
Mit Jauchzen sprang gleich einem ries'gen Faune.
[466]
Drei taten's nach von gleichem Rausch gepackt,
Und an den Schultern festlich sich umschlingend,
Den Boden stampften sie im Reigentakt,
Im Vierklang eine nordische Weise singend,
Die hell und wild die Wipfel überflog,
Mit dunklem Heimweh uns das Herz bezwingend.
Da rauscht's im Busch, und auseinanderbog
Die Zweige scheu ein strupp'ger Campagnuole,
Den der Gesang aus seiner Hütte zog.
Er fuhr zurück und floh mit hast'ger Sohle,
Als er den nackten Satyrntanz erschaut,
In blinder Angst, daß ihn der Teufel hole.
Wir aber eilten nach und lachten laut,
Ihm Mut einsprechend, und ein voller Becher
Aus unserm Fäßchen macht' ihn bald vertraut.
Dann wieder ehrbar lagerten die Zecher
Und brieten plaudernd der Kastanie Frucht;
Der Abend sank, die Flamme brannte schwächer.
Doch meine Augen hatten Franz gesucht,
Der von den andern still sich weggeschlichen,
Und bald entdeckt' ich ihn am Rand der Schlucht.
Ich dacht', er sei des Weines Macht gewichen
Und schlummre nun, in sel'gen Traum versenkt.
Doch er, das Blondhaar von der Stirn gestrichen,
Die Hand zum Willkomm überm Haupt geschwenkt,
Rief mich heran, daß ich sein Lager teile,
Den Blick ins stille Land hinausgelenkt.
So ruhten wir und schwiegen eine Weile
Und sahn im Abendduft die Berge glühn
Und rot des Aquäduktes Bogenzeile
Auftauchen aus der Wiesen tiefem Grün.
Er aber blickt' empor, wo eben leise
Des Mondes Silberlilie wollt' erblühn.
Und plötzlich fing er wunderlicherweise
Zu reden an, wie mit dem eignen Ich
Ein Träumer spricht, einfältiglich und weise.
Es klang so tief und rein und feierlich,
Daß Worte kaum die Flut der Stimmung faßten
Und atemloses Staunen mich beschlich.
[467]
Wie wenn ein Meister auf den elfen Tasten
Die Finger gleiten läßt, daß unbewußt
Die Seele sich in Tönen kann entlasten:
So drang hervor aus dieser jungen Brust
In regem Spiel geheimste Lebensfülle,
Die Rätsel dieser Welt in Leid und Lust,
Der Schmerz, der in der Tollheit bunter Hülle
Die Stacheln birgt, wenn uns das Wort der Kunst
Zweideutig klingt wie Sprüche der Sibylle.
Denn ach, wie launisch gönnt sie ihre Gunst!
Wie läßt sie oft den Lechzenden versiechen
Und kühlt mit keinem Tropfen seine Brunst!
Bis er, empört, am Boden hinzukriechen,
Zum eignen Flug sich aufschwingt frech und froh
Und dünkt sich gleich den Göttern oder Griechen.
Was soll's? Was mühet sich die Seele so?
Ist denn Natur nicht aus sich selbst vollkommen?
Harrt sie auf uns, daß irgendwie und wo
Der blinden Schöpfung wir zu Hilfe kommen?
Kann dort die Abendglut erst selig sein,
Wenn von der Leinwand sie zurückerglommen? – –
Genug! Laß mich Erinnrung nicht entweihn,
Nachstammelnd jene gottverworrnen Worte,
Die mir das Blut erregt wie heißer Wein.
Ihm lauschend lag ich am geweihten Orte
Wohl eine Stunde lang, indessen er
Stets neues Gold mir bot von seinem Horte.
Wie war er reich! Wie schien er die Gewähr
Des höchsten Kranzes in der Brust zu tragen!
Und dennoch gab er seiner Zeit nicht mehr.
Natur, die weich auf Händen ihn getragen,
Ihm Aug' und Seele mütterlich gefeit,
Was mußte sie dem Liebling eins versagen,
Wodurch allein sie Herrschgewalt verleiht:
Die süße Dumpfheit, jedes Höchsten Quelle,
Die seine Wurzeln tränkt mit Lauterkeit!
Sein Auge war zu scharf, sein Geist zu schnelle;
Er ward zu klug aus allem, was er schuf;
Der Baum erkrankt bei steter Lampenhelle.
[468]
Zu willig folgte Weisheit seinem Ruf
Und lehrte sinnend ihn das All umfassen,
Da Schranken heischt des Schaffenden Beruf.
So hat er manch ein Werk zurückgelassen,
Beseelt von seines Wesens edlem Hauch,
Doch nicht erklingt sein Namen auf den Gassen.
Und damals, wie er schwieg und endlich auch
Zurück sich wandte nach der Feuerstätte,
Erblickt' ich dich bei einem Ginsterstrauch.
Du hattest mit den andern um die Wette
Kastanien in der Asche dir geglüht,
Als ob die Welt nicht höh're Freuden hätte.
Kein schwärmend Wort war deinem Mund entsprüht,
Doch tief im Innern sammelnd alle Gluten
Des schönsten Abends, brannte dein Gemüt.
Indes auf Farb' und Form die Augen ruhten,
Sog still der Geist das Mark der Schöpfung ein
Und stählte sich im Bad der Schönheitsfluten.
Kunst ist ein Schatz, und Geister hüten sein.
Wer glaubt und schweigt, kann ihn heraufbeschwören;
Wer spricht, dem wird der Zauber nicht gedeihn.
Und ob sie deine Zirkel wollten stören,
Dich meisternd locken aus dir selbst heraus,
Du lerntest früh dir schweigend angehören.
So wuchsest du in stolzer Kraft dich aus,
Da unser Freund so früh dahingegangen;
Ich aber dachte beim Ripettahaus
Des Herrlichen, was wir von dir empfangen.

Rom, 20. Dezember 1877

An Otto Ribbeck in Leipzig

Neulich, Teuerster, hab' ich lachen müssen,
Da ein schöner Essay mir in die Hand kam,
Drin ein trefflicher Gönner deines Freundes
Leben, Taten und Romfahrt abgeschildert,
Mit pragmatischer Kunst die Fäden knüpfend
[469]
Eines schlichten Poetenlebensläufleins.
So erzählt er die Mähr, wie Martinucci
Aus der Bibliothek der Vaticana
Mich harmlosesten Fremdling weggewiesen,
Der ich fröhlichen Mutes hingepilgert,
Als romanischer Philolog in herba
In handschriftlichen Staub mich einzuwühlen.
Denn so stand es in meinem Paß geschrieben,
Da zu diesem Behuf ein wohlgeneigtes
Ministerium einen Reisepfennig
Mir bewilligt. Ich dacht' ihn heimzuzahlen
Mit sehr löblichen Troubadourexzerpten.
Doch verdächtig erschien's dem heil'gen Vater,
Und so sandt' er den Engel, in Gestalt des
Monsignore Custode, mich aus seinem
Pergamentenen Paradies zu bannen.
Nur ein winziges Blatt aus Edens Garten
– Nicht zu stehlen, behüte! – nachzuzeichnen
Hatt' ich Tor mich erkühnt, durch so verwegnen
Sündenfall des Permesses Heil verscherzend.
Wohl ihm! ruft der verehrte Freund; durch diesen
Sehr verstimmenden Zwischenfall entschied sich's,
Daß er ganz sich der Dichtung zugewendet.
Uns entging ein gelehrter Handschriftkenner
Mehr, wie Mätzner und Mahn und Bartsch und Tobler,
Doch statt dessen erhielten wir – das weitre
Lies du selber am angeführten Orte.
Lachen mußt' ich fürwahr. Ich sah im Geist mich,
Nicht unwürdig des Vaters, Ahns und Oheims,
Auf erhabnem Katheder, einer Handvoll
Guter Jünglinge den Petrarc erklären,
Altfranzösisches Epos oder Lopes
Dramen oder Cervantes in zweistünd'gem
Schwachbesuchtem Kolleg zum besten geben
Und alljährlich die Zahl der Texte mehren,
Dran Velduo Velnemo, jenes treue
Paar romanischer Leser, sich ergötzen.
War's das bessere Teil? Wer weiß! der Tropfen
Philologischen Bluts in meinen Adern
[470]
Wär' zum Strome vielleicht noch angeschwollen,
Und »Erkanntes erkennen«, wie einst Vater
Boeckh der Philologie das Ziel gewiesen,
Hätte mehr mich getröstet, als im Irrsal
Armer menschlicher Schuld und Schicksalsnöte
Tastend mich zu ergehn voll Furcht und Mitleid,
Um des Lebens Geheimnis nachzustammeln.
Doch was frommt es, verlornen Möglichkeiten
Nachzugrübeln? Es denkt der Mensch, der heil'ge
Vater lenkt, und ein deutsches Dichterlos wird
An der Schwelle des Vatikans entschieden.
Nein, im Ernste: von dir, vor dessen Augen
Jener geistliche Bann an mir vollstreckt ward,
Wünscht' ich heut mir ein unverdächtig Zeugnis,
Ob mich wirklich so tief des Interdiktes
Blitz getroffen, ob wirklich unter Seufzen
In die Pforte des Vatikans ich einschlug
Jenen Nagel, daran den Philologen
Ich auf ewige Zeiten hing, verzichtend
Auf der Mätzner und Mahn und Tobler Lorbeern.
Noch des ferculum primum wohl gedenkst du
»Vom Refrain bei den Provenzalen« (cuius
Tu pars magni fuisti, da mit meinem
Eignen bißchen Latein ich schier zu Ende);
Noch, wie seelenvergnügt, indes du selber
Dich an würdigen Pergamenen mühtest,
Ich in Villen, Museen und Kirchenhallen
Als ein fröhlicher Ignorant herumstrich,
Sonn' und Lieder und Orvieto schlürfend,
Die du freilich denn auch zu schätzen wußtest.
Ach, schon lange geheim im Busen warnte
Mich mein Genius: Eitle Müh' und Arbeit,
In den Spuren des großen Diez zu wandeln!
An historischem Sinn gebricht dir's leider,
Der Gewesenes schätzt, dieweil es da war,
Und was lange vermoderter Geschlechter
Herz nur mäßig bewegt, mit öder Andacht
Aus papierenen Grüften neu ans Licht zieht.
Wohl! unsterbliches Werk vom Unkraut säubern,
[471]
Den ihm Toren und Klügler angeheftet,
Aus erblichener Spur des Geistes Wandeln,
Aus zerstückeltem Trümmerwerk der Dichtung
Und des Lebens Gestalt herauszudeuten,
Ist des Schweißes der Edlen wert; doch dazu
Braucht's bewährterer Hand, berufnen Auges,
Und nicht pfusche des Dilettanten Fürwitz
Hoher kritischer Meisterschaft ins Handwerk.
Dir ward andres verhängt: ein unverfälschter
Sohn des Heute zu sein, des gegenwärt'gen
Weltlaufs buntes Gebilde zu verew'gen
Mit nachdenklichem Wort. Darum ins Leben
Lenke rüstig den Schritt vom Dunst des Bücher-
Saals und blick in die Welt und in dich selber,
Und dann sage der Welt, was du erschautest.
So mein eigener Dämon, der in simplem
Deutsch mich immer berät und von Romanisch
Wenig weiß. Und ich tat nach seinen Winken,
Und so hab' ich in fünfundzwanzig Jahren
Oft ein Heimweh gespürt nach Ponte Molle,
Nach den Villen, Museen und Kirchenhallen,
Nach dem Hause der Dame Rubicondi,
Wo beim strohernen Fiasco wir so manche
Nacht verplauderten in Lucians Gesellschaft:
Nie nach jenem verbotnen Paradiese,
Wo vom Baum der Erkenntnis des Erkannten
Noch manch seltene Frucht sich pflücken ließe.
Ja, gesteh' ich es frei – und mag voll Mitleid
Auch ein Archäoman die Nase rümpfen –:
Nicht unwillig betracht' ich heut der neuen
Ära Spuren, so flach und breit sie manchmal
Zwischen hehre Vergangenheit sich hinpflanzt.
Traun, noch übergenug des unvergänglich
Hohen Alten verblieb, das Herz zu stillen
Und den Geist des Betrachters einzuwiegen
In elegischen Traum vom Fluß der Dinge!
Doch dem Wachen gehört die Welt. Erwacht ist
Heut Italiens Volk und hat des Reiches
Thron im Herzen des Landes aufgerichtet,
[472]
Mag darüber des Vatikanes Zwingherr
In ohnmächtigem Grimm als ein entthronter
Erdengötze sich tief in Wolken hüllen.
Ja, heut ließe sich hier vom Erdenirrsal
Nicht nur friedlich mit andern Toten ausruhn
In der Cestiuspyramide Schatten, –
Nein, auch leben, von hochgeschwellter Woge
Des lebendigen Zeitenstroms getragen.
Wie ergreifend erklang sein tiefes Brausen,
Als er neulich entlang dem alten Korso
Eines trefflichen Herrschers ird'sche Hülle
Trug in düsterem Pomp, und mit dem Zuge
Schritt der Erbe der deutschen Kaiserkrone,
Dessen ragendes Haupt noch lang die Sonne
Tatenfreudiger Kraft umleuchten möge.
Und nach wenigen Tagen wieder strömt' es
Über Piazza Colonna, und ein ganzes
Volk, um Monte Citorio sich scharend,
Horcht' in glühender Stille, wie sein junger
Fürst ihm schwor, an Gesetz und Recht zu halten,
Jenes teuerste Gut der Volkesfreiheit
Gleich dem Vater ihm unversehrt zu hüten.
Laut vom Pincio erdröhnten Böllerschüsse,
Laut nachdonnerte Jauchzen tausendstimmig,
Als der trauernde Sohn vom Sarg des Vaters
Aufnahm eines Regenten Dornenkrone
Samt dem schneidigen Kriegsschwert der Savoyer.
Und ich fühlte den Puls des Heute kraftvoll
Durch die menschengeschwellten Gassenadern
Der ergreiseten Weltenherrin pochen,
Höher wahrlich als einst, da Pio nono,
Auf dem Sessel herumgetragen, schläfrig
Übers knieende Volk den Segen nickte,
Weihrauchwolkenumqualmt, von Pfauenwedeln,
Einem Dalai-Lama gleich, umfächelt.
Abends, als sich der Mond im Blau verkündet,
Mit dem Strome des Volkes übers Forum
Am zerklüfteten Palatin vorüber
Langsam wandelten wir zum Coliseo.
[473]
Sonst die schweigende Stätte dunkler Schwermut,
Nur durchschwirrt von der Brut des Nachtgevögels,
Ein entseeltes Geripp, ein wundersamer
Quadernplesiosaurus; heut von fern schon
Klang's und wimmelt' es von lebend'gem Regen.
Genuesische Lanzenreiter, ihrem
Toten König ein letzt Geleit zu geben,
Hatten jagend die ungeheure Strecke
In drei Tagen zurückgelegt und Obdach
Hier gefunden im alten Riesenrundbau.
Rings in hochüberwölbten Trümmerhöhlen,
Kaum sich selber die dürftige Streu vergönnend,
Daß nur ja sie den Tieren nicht ermangle,
Lagernd, schlendernd, die blanken Gäule striegelnd
Trieb die reisige Schar sich hin und wieder.
In Kavernen, wo einst gedungne Fechter –
Morituri! – geharrt des grausen Kampfspiels,
Oder bebenden Märtyrern von ferne
Dumpfes Löwengebrüll herüberdrohte,
Dann durch manches Jahrhundert blöde Mönche
Vor den hölzernen Kruzifixen näselnd
Litaneien gesummt, erscholl von neuem
Die Parole lebend'ger Volksgeschichte,
Zwar gedämpft in der frischen Grabestrauer,
Herzbeweglicher doch, als selbst der dunkle
Weltschmerzselige Laut von Byrons Klage.
Sacht aufglühte der Mond, die schöne Cella
Dort am Tempel der Venus und der Roma
Leicht vergoldend, und still im Mondlicht wallte
Aus Feldkesseln der Rauch, darin die karge
Nachtkost rüsteten die bescheidnen Gäste.
Doch im bleichen Gewölk erblickt' ich träumend
Wundersames Gesicht, Italiens Zukunft
Mir vordeutend – genug! Dich seh' ich lächeln,
Daß nun gar der Poet sich des Propheten-
Amts zu walten erkühnt. So laß uns leben,
Wir erleben's vielleicht. – Vale faveque!

Rom, 23. Januar 1878

[474] An Wilhelm Hertz in Berlin

Dilettant heißt der kuriose Mann,

Der findet sein Vergnügen dran,

Etwas zu machen, was er nicht kann

So hab' ich selbst einmal gesprochen,
Aller Pfuscherei den Stab gebrochen,
Und war doch selber unter der Hand
Ein gottvergnügter Dilettant,
Den's höchlich auferbaut, zuzeiten
Sein Steckenpferdlein frisch zu reiten.
Noch denkst du wohl der Tage, Freund,
Da wir selbander umhergestreunt
In Thürings Berg- und Waldgeheg,
Allwo dir kund sind Weg und Steg,
Und wie wir oft im Grünen saßen,
Überm Kritzeln Speis' und Trank vergaßen,
Ein Bröckchen Fels, ein alt Gemäuer
Hinstrichelten mit heil'gem Feuer
In jenes Büchlein schlank und schmächtig,
Das du erstanden wohlbedächtig
In Jena neben Frommanns Haus,
(Sah wie ein Schülerschreibheft aus,
Blau der Umschlag und dünn die Blätter).
Doch wir in gut' und schlechtem Wetter
Erprobten darin mit Leidenschaft
Unsre verstohlne Künstlerkraft,
Fanden auch nichts Kurioses dran,
Daß einer macht, was er nicht kann.
Ach, wenn in Ferien dann und wann,
Wer einer Kunst sich zugeschworen,
Oder sonst ein schwer Geschäft erkoren,
In andern freien Künsten pfuscht,
Flöte bläst oder Bildlein tuscht,
Niemand zur Last, sich zum Vergnügen,
Zumal auf einsamen Wanderzügen,
Soll man nicht gleich so hitzig lästern.
Sind doch die Musen liebe Schwestern:
Führt man die eine heim als Frau,
Sie nimmt's wohl einmal nicht genau,
[475]
Wird lächelnd durch die Finger sehn,
Tut man mit einer Schwägerin schön,
Da es ja in der Familie bleibt;
Dafern man's nur in Züchten treibt,
Mit seinem stillen Dilettieren
Nicht vor den Leuten will renommieren.
So hab' ich's all mein' Tag' getrieben,
Ist mir darum auch fern geblieben
Das Naserümpfen und höhnisch Lachen,
Wenn's andre eben nicht anders machen.
Ja, oft empfand ich einen Neid,
Sah ich die Himmelsseligkeit,
Womit ein unbefugt Talent
Von hoher Schöpferlust entbrennt,
Skizzenbücher zusammenschichtet,
Dicke Hefte voll Lieder dichtet
Und wie ein Geiziger, wenn es nachtet,
Den angehäuften Schatz betrachtet.
Blieb's nur dabei! Doch leider reißt
Die Guten hin ein böser Geist,
Dem Licht auch endlich zu offenbaren,
Wie vergnügt sie im Dunkeln waren,
Da dann am kalten Blick der Welt
Ihr Reichtum nicht die Probe hält.
Dann wird der Segen schönster Stunden
Gezählt, gewogen, zu leicht erfunden.
So hat in Rom mich ungescheut
Mein bißchen Pfuscherei erfreut,
Und wo sich hinlenkt unser Schritt,
Wandert das Zeichenbüchlein mit,
(Nicht wie in junger Zeit fürwahr,
Wo's manchmal ein Galeotto war
Und etwa mir bei schönen Augen
Mußte die Tür zu öffnen taugen,
Da ein pittore in Dorf und Stadt
Stets unverdächtigen Zutritt hat.)
Heut ging's hinunter nach dem Tore
Vorüber an Marie Maggiore
[476]
Da wächst empor eine neue Stadt,
Sechs Stock hoch, weißgetüncht und glatt,
Gemütlos widerwärtige Kasten,
Die baß zum Köpnickerfelde paßten.
Dazwischen schaut ein Ruinentrumm
Verlegen und betrübt sich um
Und scheint von naher Zeit zu träumen,
Wo es denn auch den Platz soll räumen.
Wir sahn das braune Gemäuer winken,
Einen hohlen Zahn mit schartigen Zinken;
Unweit dahinter herübersah
Die alte Minerva medica,
Auch ein Stück eines Aquädukts,
Und gleich mir in den Fingern zuckt's,
Als ob hier was zu holen sei.
Nun lag ein Hüttlein nebenbei,
Dem Altertum just gegenüber;
Giuoco di bocce las man über
Der niedren Tür, und aus der Küche
Kamen Zwiebel- und Weingerüche,
Wie man's wohl kennt in römischen Schenken.
Dahin wir flugs die Schritte lenken
Und bitten, daß man vor die Tür
Uns ein paar Sitze trüg' herfür,
Mein Pfuschwerk eilig zu beginnen.
Ein junges Ehpaar hauste drinnen,
Das eben sein pranzo mit Salat
Und Brot und Wein vollendet hat.
Die trugen zwei Sessel vor das Haus,
Saßen dann selbst zu uns hinaus,
Und während flink mein Stift sich rührte,
Man eine Zwiesprach zusammen führte.
Ein Jahr erst waren sie vermählt,
Hatten dies arme Nest erwählt,
Weil niemand sonst dazu sich fand,
Da es längst auf dem Abbruch stand.
Die Frau, ein harmlos muntres Wesen,
Wär' gar so übel nicht gewesen,
Hätt' nur ein wenig Waschen gebraucht,
So war sie staubig und angeraucht.
[477]
Ihr Gatte grüßte mich als Kollegen:
Er tät' einst selber der Malkunst pflegen.
Nach Solferino hab' er einmal
Wund müssen liegen im Spital
Viel öde Wochen und Monden lang,
Da hab' er so aus Herzensdrang
Mit Zeichnen sich die Zeit vertrieben,
Nun sei ihm nur die Lust geblieben.
Er könn' an Berg' und Mauern dort
Sich nimmer satt sehn fort und fort.
Ich sollt' auch fein die zwei Zypressen
Dort auf dem Hügel nicht vergessen,
Auf daß doch immer ein Abbild bliebe,
Wenn hier der Neubau sie vertriebe.
Er selber hab's versucht; doch sei
Es ihm zu schwer, er sag' es frei.
So plauderten ein Stündlein wir
In guter Freundschaft alle vier.
So still und lieblich war der Ort,
So lenzhaft schien die Sonne dort
Schon in des Februars Beginne –
Es ward uns wunderwohl zu Sinne.
Und als mein Skizzchen nun vollbracht –
Eilfertig, wie's ein Stümper macht –
Mußt' ich mit meiner lieben Frauen
Das Hüttlein auch von innen schauen.
Da war nun alles nach Landesbrauch
Gar dürftig, kahl, voll Ruß und Rauch,
Der Tisch am Herde schlecht und recht,
Ein Riesenfiasko in Strohgeflecht,
Nur wenig Hausrat ringsumher,
Als stammt' er noch von den Tagen her,
Da Hannibal vor den Toren stand.
Doch hinter der schwarzen Bretterwand
Tat sich noch auf ein Kämmerlein,
Da führt das Paar uns stolz hinein.
War zwar nichts Köstlichs dran zu sehn,
Kaum Platz, sich eben umzudrehn,
Ein Bett mit Strohsack, vielgeflickt,
[478]
Doch wie wir forschend umgeblickt,
Sahn wir die niedren Wände rings,
Die schiefe Decke rechts und links
Tapeziert mit Bildern allerhand,
Sämtlich von einer schweren Hand
Mit bunten Stiften übermalt.
Unseres Wirtes Auge strahlt,
Da er uns seine Werke wies.
»Ecco! Das Kapitol ist dies,
Und dies der Hafen von Triest;
Auch dies sich wohl erkennen läßt;
Die spanische Treppe stellt es vor,
Und dies den Lateran, Signor,
Und dies – und dies – – sind arme Sachen,
Und war doch lustig, sie zu machen.«
Wir aber standen und staunten mächtig,
Belobten alles gar andächtig
Und sprachen unter uns: Es heißt
In Wahrheit »Selig, die arm an Geist«.
Der biedre Künstler hier, ich wette,
Erwacht er früh in seinem Bette
Und sieht ringsum an Deck' und Wand
Die bunte Schöpfung seiner Hand,
Nicht Raffael war so selig, da
Ihm vorgeschwebt die Disputa.
Und also schieden wir. Der Gute
Wünscht' meinem Weib buona salute.
Seitdem, seh' ich mein Büchlein an,
Hab' ich auch meine Freude dran
Und spreche getrost: sind arme Sachen,
Und war doch lustig, sie zu machen.

Rom, 11. Februar 1878.

An Wilhelm Hemsen in Stuttgart

Hast du das Goethebildchen im Sinn? Vor neunzig und einem
Jahr entstand es in Rom, da hier mit dem wackeren Tischbein
Er sich bescheiden vertrug, wie im Storchenneste der Adler
[479]
Sich zu wohnen bequemt, weitab in die Ferne verschlagen.
Nicht die Tafel, die ihn »als Reisenden zeigt, in den weißen
Mantel gehüllt, im Freien, auf umgestürztem Getrümmer,
In die Campagna die Blicke gekehrt«; nein, jenes geringre
Blatt, mit der Feder umrissen und leicht schattiert mit dem Pinsel,
Wo er so bäuslich erscheint in der Sommerfrühe, nur eben
Aus dem Bette gesprungen und erst notdürftig bekleidet,
Wie er, den hölzernen Laden zurückgeschlagen, des schönen
Römischen Morgens genießt und bequem hemdärmlig am Simse
Lehnt und der Sonne die Brust und das atmende Antlitz zukehrt.
Nur vom Rücken belauschest du ihn, doch glaubst du in jeder
Linie den Hauch zu empfinden des Wohlseins, der aus dem Lichtquell
Sich durch Adern und Nerven des Neuerweckten ergossen.
Selbst im Nacken das Zöpfchen, der Fuß, der aus dem Pantoffel
Halb sich erhob, die Schnalle, die unterm Kniee den Strumpf hält,
Jeglicher Zug spricht aus: dem Mann ist wohl; wie ein Halbgott
Schlürft er, vom Zwange befreit, den verjüngenden Atem der Frühe.
Sieh nun, unter dem nämlichen Dach – nur wuchs es um einen
Stock seitdem noch hinauf – ward deinen Freunden zu wohnen
Vom Geschicke vergönnt. Wir wanderten neulich im Korso,
Scharf nach Täfelchen spähend, darauf uns winkte die Losung
Camere mobiliate da affittarsi. Und »gegen
Rondanini über« begrüßt' in Marmor gegraben
Uns die Notiz, »es hab' hier einst Unsterbliches dichtend
Wolfgang Goethe gewohnt (Volfango nennt ihn der Römer);
Des zum Gedächtnis sei von der Stadt die Tafel gestiftet«.
Doch wir wandten enttäuscht uns weg, wie übelbehauste
Fremdlinge tun, die selbst denkwürdigsten Stätten vorbeisehn,
Nur von der Sorge bewegt, wo nachts sie ihr Haupt hinbetten.
Just da holt' uns die Botschaft ein des Wohnungsvermittlers:
Zwei vortreffliche Zimmer am Korso könn' er empfehlen,
Casa Goethe. – Fürwahr, dir hat dein Glaube geholfen!
Rief ich. Umsonst nicht hast du ihn nun zeitlebens vergöttert.
Wie dem redlichen Priester im Heiligtume zu wohnen
Nicht als Frevel erscheint, so ziemt's auch dir, in den Mauern,
Die sein Name geweiht, dein winterlich Wesen zu treiben.
[480]
Ach, nur leider die Jahre, sie haben der teuren Erinnrung
Traulichste Spuren verwischt. Er selbst, wenn heut er der alten
Römischen Zeit Schauplätze mit Geisterschritten durchwallte,
Fände den Saal nicht mehr, darin er über den Sommer
Kühl und still sich gehalten, aus dem hinab in die Gasse
Nachts die Geigen erklangen und schöne Musik, bis drunten
Ein musikalischer Wagen, auf nächtlicher Runde begriffen,
Anhielt, Sang und Klang mit vollem Orchester erwidernd,
Während das lauschende Volk mit Händeklatschen dem schönen
Doppelkonzert Dank sagte, vorab dem reichen Milordo,
Der so treffliche Künstler in seinem Hause versammelt.
Kaum das Fenster erkennt' er vielleicht, aus welchem herüber
Ihm Angelika winkte, die Künstlerin, etwa dem Freunde
Mitzuteilen: Ich hole dich ab zu Wagen; der Tag ist
Schön. Acqu' acetosa verspricht uns herrliche Fernsicht. –
Alles ist längst verwandelt vom neuernden Geiste der Enkel;
Nur nach Süden der Blick schweift über den Garten am Hause,
Über die Nachbargärtchen, getrennt durch schwärzliche Mauern,
Zwar auch sie nicht mehr »mit einfach edeler Baukunst,
Gartensälen, Balkonen, Terrassen und offenen Logen«
Frei und lustig geschmückt; ein unansehnlich Gewinkel
Strebt vielfältig empor und dient allein dem Bedürfnis.
Doch wie damals noch erfreun Zitronen und reife
Goldorangen den Blick, »ein grünendes, blühendes Eden«,
Und zwei Brünnlein sprühn in reinliche Becken die Welle,
Die es erfrischt. Und wenn hoch über den Dächern die Sonne
Mitten im starrenden Winter den Hauch ausbreitet des Frühlings
Ist's gar lieblich dahinten, und allerlei Götter und Geister
Meinst du schweben zu sehen entlang den sonnigen Pfaden,
Ganz wie am lachenden Morgen, da droben im oberen Stockwerk
Sich ein Laden geöffnet und aus zwei strahlenden braunen
Augen ein hoher Mensch in das niedere Gärtchen hinabsah.
Wohl! Er hatte die Augen, die sonnenhaften, gewohnt ins
Helle zu schaun, und gleich den Königskindern im Märchen,
»Vor ihm Tag und hinter ihm Nacht«, durchschritt er das Leben
Leuchtenden Haupts. Wie vor des Gestirns Glutpfeilen der Nebel
Weicht, schien jegliche Trübe vor seinen siegenden Blicken
Sich zu zerstreun und sanft zum Farbenspiele der Dichtung
[481]
Selbst die Schatten des Todes versöhnt auseinanderzuklingen.
Ach, mit solcher Gabe, der köstlichsten, wähnt' ich mich selber
Einst vor vielen begnadet. Talent zur Freude zu haben,
Rühmt' ich mich oft; stets war ich bedacht, den Neid der Dämonen
Nicht durch Prahlen zu reizen, und nicht durch frostigen Undank
Mir zu verscherzen das himmlische Gut. Und sonnige Jahre
Lebt' ich fruchtbar hin. Nun aber umspann mich das Schicksal
Mit so dichtem Gewölk, daß mir die Wimper, die schwere,
Lang schon haftet am Boden, und wie ein Vogel im Regen
Unter dem Dachfirst stumm den triefenden Flügel gesenkt hält,
Sitz' ich beklommen und starr und keinem Gestirn mehr trauend,
Das noch blinzelnd zuweilen aus tiefer Umschleierung vorbricht.
Denn zu schwer im Tiefsten verwundete diesmal der Parze
Schnitt, die den goldensten Faden aus unsres Glückes Gewebe
Hart lostrennend zerriß. Nun ward das zarte Gebilde
Unbarmherzig zerrüttet. Das Händlein, das so geschäftig
Mit an dem Einschlag helfend die buntesten Blumen hineinwob,
Ruht in ewiger Nacht. Wir aber leben von Dämmrung
Schaudernd umgraut. Nichts Holdes und Sonniges kommt uns zu lichten,
Selbst hier unter dem römischen Dach, wo jener gewalt'ge
Sohn des Lichtes den Hauch der Erinnerung wärmend zurückließ.
Und ich frage mich: Hätt' auch ihn so Herbes getroffen,
Wie wohl hätt' er's getragen? mit welchem Balsam der Wunde
Fieber gekühlt? Wär' auch so seelumnachtende Trübsal
Vor dem strahlenden Auge des Welterleuchters zerronnen?
Hätt' ein Gott ihm gegeben, auch das von Herzen zu singen,
Sein verlornes Geliebtes mit dichtender Kraft zu verew'gen?
Doch was frommt es, zu grübeln, wie wohl ein Stärkrer geduldet,
Wie er bewältiget hätte sein Weh! Ich dulde das meine,
Wehrlos gegen die Übergewalt, obwohl ich in andrer
Not nicht schimpflich bestand und ein Kämpfer zu sein mir bewußt bin.
Mehr als geliebt ja hab' ich dies Kind: es war meine letzte
Leidenschaft. Nie wird so Liebliches je mir begegnen,
Nie so Liebenswürd'ges die brennende Sehnsucht kühlen.
Liebt' ich in ihm doch mit die verlorenen beiden. In ihm war
All das Holde versammelt in sprossenden Trieben und Keimen,
Was, zu frühe gewelkt am sengenden Strahle des Lebens,
[482]
Wieder dem Staub sich vermählt. Es schienen die ewigen Mächte
Vollen Ersatz zu vergönnen in diesem beglückenden Kinde,
Das, als ahnt' es, wie früh auch ihm vom Stamme gerissen
Hinzuwelken bestimmt, so süß in klammernder Inbrunst
Mit liebkosendem Wort, das sonst aus reifem Gemüt nur
Quillt, in lachender Lust all seine Geliebten umarmte.
Ach, was gilt der erhabenen Macht ein jauchzendes Lallen
Armer sterblicher Menschen! Sie selbst ist kummer- und freudlos,
Und wie ein Fremdling nur, ein geduldeter, mischt sich die Freude
In der Genien Rat, die am Werk teilhaben des Schicksals.
Uns nur ist sie die höchste von allen beseelenden Kräften,
Die aus glimmender Wärme der Menschenbrust wie ein Flämmchen
Aufschlägt, rings in frostiger Nacht des irdischen Daseins
Unsern Weg zu erleuchten und Herz am Herzen zu wärmen.
Wird auch uns noch wieder, den Schwerverzagten, der Funken
Aufglühn, der so traurig in Staub und Asche verglommen?
Uns das brennende Aug ins sonnige Leben noch einmal
Wieder zurück sich gewöhnen? – Für jetzt noch mögen die Freunde
Still im Schatten uns dulden. Es tränt zu heftig die Wimper,
Die ins Helle sich wagt. Und hier in der heiligen Roma
Sind umschatteter Stätten genug, von Menschen gemieden,
Die nichts Teures besessen und nichts verloren. Zu denen
Laß uns flüchten, sobald an jenen Fenstern vorüber,
Draus Angelika grüßt' und winkend der Freund ihr entgegnet,
Wieder der Karneval braust, den er so farbig geschildert.

Rom, 31. Januar 1878

An N.N.

Gymnasialprofessor in X.


Meine Hexameter tadelst du mir und schüttelst bedenklich
Dein skandierendes Haupt, so oft ein schnöder Trochäus
Oder ein Daktylus dir, ein schwerhinwandelnder, aufstößt.
Ehmals hätt' ich es besser gekonnt, zu der seligen Thekla
Zeit; wie sei ich seitdem vom rechten Pfade gewichen?
Und nun hättst du das Beste gehofft und gefleht zu den Göttern,
Mir in südlichen Lüften das Band vom Ohre zu lösen.
Hätt' ich doch Capri gesehn und des felsenumgürteten Eilands
[483]
Schroffes Gestad von neuem besucht und wüßte, wie selten
Dorten ein Rettungsport für scheiternde Verse zu spähn sei,
Wo einst Platen geweilt, der Moses unsrer Prosodik,
Der in steinerne Tafeln die zehn Gebote des Wohlklangs
Grub und nicht sie grollend zerschmetterte, weil noch der Pöbel
Töricht das goldene Kalb umtanzt der gelinderen Praxis.
Sei das alles verloren an mir, dem einige Verskunst
Selbst die gestrenge Kritik, die verdammensselige, nachrühmt?
Weh des verlorenen Sohns! Es weinten um ihn auf des Pindus
Höh'n die Schwestern, die neun, und auf der Asphodeloswiese
Werd' ein Seufzen vernommen, ein einziger banger Hiatus;
Platen verhülle das Haupt und stöhn' in geflügelten Rhythmen
Über das undankbare Geschlecht nachstümpernder Enkel,
Dem umsonst er gelebt, umsonst sein ehern Gesetz gab.
Ja, nicht darf ich es leugnen, o Freund: ich fühle mich schuldig,
Doch weit anderer Sünden. Mit meinen Hexametern wär' ich
Selbst wohl besser zufrieden, – dafern sie schlechter gerieten.
Hab' ich doch einst mit saurem Bemühn die geduldige Thekla
Sanft zu befreien gesucht vom lähmenden Zwang der Korrektheit,
Froh um jeden bequemeren Fuß, auf welchem die Rede
Mit treuherzig behaglichem Gang hinschlenderte, nicht mehr
Künstlich die Zehen gespreizt und die römischen Pas nachzirkelnd.
Manches geriet mir zu Dank, doch anderes fügte sich nimmer.
Denn was Hänschen nicht lernt, – vielmehr, was Hänschen gelernt hat,
Kann mit steiferen Gliedern ein Hans nicht wieder verlernen.
Warum ward uns Knaben die Platensche Zucht auf der Schulbank
Fest in die Ohren geschmiedet und ein harmloser Trochäus,
Ein zweisilbiges Wort, als doppelte Kürze gemessen,
Ein daktylisches »Vaterland« gar mit röterer Tinte,
Als ein Ut mit dem Indikativ, am Rande gebrandmarkt!
Damals konntst du an mir viel Ehr' und Freuden erleben.
Doch mir ward auf immer im Schnürleib klassischer Hoffahrt
Meines Hexameters fröhlicher Wuchs unheilbar zerrüttet.
Sah ich doch achselzuckend herab selbst auf den gewalt'gen,
Den schon früh mit der Glut des freiauflodernden Herzens
Ich vor allen verehrt. Nur zum Hexameter, wähnt' ich,
[484]
Hab' ihm ein feindlich Geschick den gültigen Stempel verweigert,
Daß er falsch ihn geprägt und sein gediegenes Gold nun
Leider in solcher Gestalt nicht Vollwert habe dem Kenner.
O ich pfuschender Knabe! Zu spät erst fielen die Schuppen
Mir vom Aug'; ich erkannte, wie blind an ihm ich gefrevelt,
Wie sein Genius ihn auch hier weit sichrer geleitet
Mit nur tastendem Schritt, als unsern prosodischen Grafen
Seine Gelehrsamkeit und alexandrinischer Kunsttrieb.
Doch fern sei's, den Toten zu schmähn, der wahrlich vollauf schon
Leid im Leben erfuhr, Mißurteil, Hohn und des Unglücks
Lähmenden Druck. Denn arm und ein Graf, Poet und ein Deutscher,
Heimischem Ruhm nachtrachtend in selbsterwählter Verbannung,
Statt des lebendigen Lebens ein Wolkengebild umarmend,
Wandelt' er unter den Fremden dahin und lauschte begierig,
Ob ihm über die Alpen ein Laut nachfolge des Beifalls,
Dem er stolz zu entsagen sich rühmt', um nur von der Nachwelt
Späte Genugtuung zu empfahn und sühnenden Lorbeer.
Doch nie soll ein Dichter sich selbst entfremden der Heimat,
Die, wie immer gescholten und scheltenswert, mit den frühsten
Säften der Seele genährt, und der zu entwachsen so wenig
Glückt und geziemt, wie je ein Sohn von der Mutter sich losmacht.
Wer gewaltsam lös't das Band der Natur, dem rächt sich's
Nicht am Leben allein, dem freud'- und friedeberaubten,
Auch an der Kunst. Und flöh' er zu jenem seligen Eiland,
Wo ihm Schönheit winkt vom lachenden Strand, aus den Hütten,
Wie aus hohen Palästen und herrlichen Meistergebilden,
Nie doch fänd er Ersatz des Wünschenswertesten: Einklang
Mit sich selbst und dem eigenen Volk. Ja, selber die Sprache
Wird ihm ein leblos Wesen, geschickt zu manchem Gebrauch wohl,
Doch ein künstlich Phantom, nicht mehr aus Kinder- und Ammen-
Mund mit rührender Macht uns Ohr und Seele bewegend,
Wie es der Dichter bedarf, auf daß im Busen die Kraft ihm
Nicht verdorre, das Herz verbrüderter Menschen zu rühren.
[485]
Sieh im Bauer den Vogel; man lehrt ihn künstliche Weisen,
Und er flötet gelehrig sie nach; doch bleibt es ein seltsam,
Schier unheimlich Getön, und nicht wie schlichter Naturlaut
Harmlos munterer Sänger erquickt sein Trillern das Herz dir.
So entfremdet' auch er sich der echt anheimelnden Tonart,
Nicht vom warnenden Beispiel belehrt des schweifenden Helden,
Der mit Wachs sich die Ohren verwahrt, um an der Sirenen
Klippen vorüberzuschiffen. Zu Haus wohl deuchte das Grunzen
In des göttlichen Sauhirts Pferch ihm trauterer Wohlklang,
Als im purpurnen Meer der gefährlichen Jungfraun Lockruf.
Platen jedoch umstrickte die feinaufhorchende Seele
Griechischer Rhythmen Gewalt; er vergaß, daß anderen Völkern
Andere Kraft und Sitte verliehn und andres Bedürfnis.
Nicht goldwägerisch mißt nach Gran und Skrupel den Lautwert
Unser germanisches Ohr; den Sinnwert wägt es vor allem.
Wo sich der Verstakt feindlich entgegenstemmet dem Wortton,
Gönnen wir diesem den Sieg; es soll statt ruhigenAufbaus
Kein Aufbau uns begegnen und nicht Freiheit statt der Freiheit,
Ob auch, streng auf der Wage des sinnlichen Lautes gewogen,
Ein Diphthong gleich wuchtet dem anderen. Sind doch die Quellen
Noch nicht völlig versiegt, daraus vor manchem Jahrhundert
Unsere Dichtung sog ihr frisch aufsprossendes Leben.
Walthers und Wolframs Deutsch – wohl ist's verklungen; wir lernen
Fast wie Fremde den Ton des Kürenbergers. Und gleichwohl
Schlägt noch immer der Puls, der blutsverwandte, mit freier
Hebung und Senkung, mächtig im Verse des Faust und des Volkslieds.
Traun, wohl glückt' es ihm noch im leichteren epischen Versmaß,
Als er die Fischer von Capri sang. Doch in Zuckungen förmlich
Fällt ihm in Oden und Hymnen die gliederverrenkende Muse,
Daß dem geneigtesten Leser, entwöhnt seit Jahren der Schulbank,
Will er im Verstakt bleiben, der Angstschweiß strömend hervorbricht.
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Hat ein hellenisches Ohr in Pindars Klanglabyrinthen
Leicht, wie in blühenden Gärten ein Kind, zurecht sich gefunden,
Uns hilft nimmer der Faden des Schemas aus dem verschlungnen
Irrgang künstlicher Rhythmen, wo hinter verschnörkelten fremden
Redeblumen der Sinn sich verbirgt. Wir lieben den freien
Rüstigen Schritt auf ebenem Pfad und die offene Fernsicht;
Ob durch Markt und Gassen und mondlichtschimmernden Meinberg
Herrmann schreitet, am Arm die hohe Gestalt der Geliebten,
Ob uns Reineke führt die geschlängelten Pfade des Märchens,
Oder Mörikes sicherer Mann und am Ufer des Boden-
Sees der listige Fischer mit weitausgreifenden Schritten.
Doch er schläft am sizilischen Strand, und es rauscht ihm die Meerflut
Sanft in den ewigen Traum ein Grablied griechischen Wohllauts.
Mög' er sich freuen der Zweige des Lorbeers, die ihm in frommer
Ehrfurcht manch ein Jünger geweiht, der ähnlich dem Meister
Auch in der Kunst nur suchte die Kunst und jenen bestaunte,
Weil ihm ein Äußerstes glückte, wie oft auch drüber die Sprache
Außer sich kam. Und wahrlich: er tat das Seine, mit tapfer
Gläubigem Mut, auf Gold nicht bedacht und das Lob des gemeinen
Haufens. Er diente dem Gott, der ihm der wahre geschienen.
Sag, was kann ein Sterblicher mehr? Drum mag es auch mir nun,
Den zu anderem Glauben das Herz hindrängte, vergönnt sein,
Meinen Göttern getreu hinfort mein Wesen zu treiben,
Wie ich muß und vermag. Du aber vergib mir den lehrhaft
Trockenen Brief und die schlechten Hexameter, die dir ein Greul sind!

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TextGrid Repository (2012). Heyse, Paul. Reisebriefe. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-678E-C