Der verlorne Sohn

Schon elf – und er noch immer nicht zu Haus! –
– Ei nun, gewiß auf Liebesabenteuer,
Wie er gewohnt ist, ging der Schlingel aus.
Doch sorge nicht; sein jugendliches Feuer
Hält ihn wohl warm, und dafür will ich stehn,
All deiner Ängste lacht das Ungeheuer.
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Wir aber sollten endlich schlafen gehn. –
– Wie? schlafen? Nein, kein Auge könnt' ich schließen,
Bevor ich sicher ihn zu Haus gesehn.
Doch daß er mich so ängstigt, soll er büßen.
Er treibt's zu toll! Dies Streunen auf den Gassen
Wird er sich endlich abgewöhnen müssen.
Nur – vor verschloßnem Haus ihn stehn zu lassen
In eis'ger Nacht, wär' allzu grausam, mehr
Als er verdient. Drum will ich auf ihn passen.
Geh du zu Bett! –
– Nun bei den Göttern, wer
Verdächte mir's, wenn ich, dein teurer Gatte,
Auf diesen Hausfreund eifersüchtig wär'?
Auf meine Tugend zwar fiel nie ein Schatte,
Drum bist du ruhig stets zu Bett gegangen,
Auch wenn ich nachts mich mal verspätet hatte. –
– Ja, aber schlief ich dann? Horcht' ich mit Bangen
Nicht stets hinaus, unruhig und beklommen,
Bis dann die wohlbekannten Schritte klangen?
Du hattst ja auch den Schlüssel mitgenommen,
Indessen er – doch still! Täuscht mich mein Ohr?
– Ich höre nichts. – Doch, doch! Ich hör' ihn kommen.
Er rüttelt, hörst du nicht? am Gartentor,
Und jetzt, o sieh, versucht er gar zu schellen
Und springt und reckt zur Klingel sich empor.
Sein schlecht Gewissen hält ihn ab zu bellen.
Nein, armer Sünder, wer bereut, dem wird
Gnade vor Recht zuteil. In solchen Fällen,
Wo unerfahrne Jugend sich verirrt,
Muß man mit Liebe sie zu bessern streben.
Ich lass' ihn ein. – – O sieh nur, wie verwirrt
[253]
Er näherschleicht und meine Knie mit Beben
Umpfotet und reumütig mir am Rock
Emporstrebt. Nun, so muß ich wohl vergeben,
Und hungrig wirst du auch sein, armer Flock!
Dein Futter steht noch da. – Was lachst du so?
Nein, wenn ich ihn erzöge mit dem Stock,
Verhärtet wurde sein Gemüt und roh. –
– Gewiß! Sei nur wie alle Pädagogen
Inkonsequent. Des aber bin ich froh,
Daß du die Kinder besser mir erzogen.

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TextGrid Repository (2012). Heyse, Paul. Der verlorne Sohn. TextGrid Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-6792-F