An Otto Ribbeck in Leipzig

Neulich, Teuerster, hab' ich lachen müssen,
Da ein schöner Essay mir in die Hand kam,
Drin ein trefflicher Gönner deines Freundes
Leben, Taten und Romfahrt abgeschildert,
Mit pragmatischer Kunst die Fäden knüpfend
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Eines schlichten Poetenlebensläufleins.
So erzählt er die Mähr, wie Martinucci
Aus der Bibliothek der Vaticana
Mich harmlosesten Fremdling weggewiesen,
Der ich fröhlichen Mutes hingepilgert,
Als romanischer Philolog in herba
In handschriftlichen Staub mich einzuwühlen.
Denn so stand es in meinem Paß geschrieben,
Da zu diesem Behuf ein wohlgeneigtes
Ministerium einen Reisepfennig
Mir bewilligt. Ich dacht' ihn heimzuzahlen
Mit sehr löblichen Troubadourexzerpten.
Doch verdächtig erschien's dem heil'gen Vater,
Und so sandt' er den Engel, in Gestalt des
Monsignore Custode, mich aus seinem
Pergamentenen Paradies zu bannen.
Nur ein winziges Blatt aus Edens Garten
– Nicht zu stehlen, behüte! – nachzuzeichnen
Hatt' ich Tor mich erkühnt, durch so verwegnen
Sündenfall des Permesses Heil verscherzend.
Wohl ihm! ruft der verehrte Freund; durch diesen
Sehr verstimmenden Zwischenfall entschied sich's,
Daß er ganz sich der Dichtung zugewendet.
Uns entging ein gelehrter Handschriftkenner
Mehr, wie Mätzner und Mahn und Bartsch und Tobler,
Doch statt dessen erhielten wir – das weitre
Lies du selber am angeführten Orte.
Lachen mußt' ich fürwahr. Ich sah im Geist mich,
Nicht unwürdig des Vaters, Ahns und Oheims,
Auf erhabnem Katheder, einer Handvoll
Guter Jünglinge den Petrarc erklären,
Altfranzösisches Epos oder Lopes
Dramen oder Cervantes in zweistünd'gem
Schwachbesuchtem Kolleg zum besten geben
Und alljährlich die Zahl der Texte mehren,
Dran Velduo Velnemo, jenes treue
Paar romanischer Leser, sich ergötzen.
War's das bessere Teil? Wer weiß! der Tropfen
Philologischen Bluts in meinen Adern
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Wär' zum Strome vielleicht noch angeschwollen,
Und »Erkanntes erkennen«, wie einst Vater
Boeckh der Philologie das Ziel gewiesen,
Hätte mehr mich getröstet, als im Irrsal
Armer menschlicher Schuld und Schicksalsnöte
Tastend mich zu ergehn voll Furcht und Mitleid,
Um des Lebens Geheimnis nachzustammeln.
Doch was frommt es, verlornen Möglichkeiten
Nachzugrübeln? Es denkt der Mensch, der heil'ge
Vater lenkt, und ein deutsches Dichterlos wird
An der Schwelle des Vatikans entschieden.
Nein, im Ernste: von dir, vor dessen Augen
Jener geistliche Bann an mir vollstreckt ward,
Wünscht' ich heut mir ein unverdächtig Zeugnis,
Ob mich wirklich so tief des Interdiktes
Blitz getroffen, ob wirklich unter Seufzen
In die Pforte des Vatikans ich einschlug
Jenen Nagel, daran den Philologen
Ich auf ewige Zeiten hing, verzichtend
Auf der Mätzner und Mahn und Tobler Lorbeern.
Noch des ferculum primum wohl gedenkst du
»Vom Refrain bei den Provenzalen« (cuius
Tu pars magni fuisti, da mit meinem
Eignen bißchen Latein ich schier zu Ende);
Noch, wie seelenvergnügt, indes du selber
Dich an würdigen Pergamenen mühtest,
Ich in Villen, Museen und Kirchenhallen
Als ein fröhlicher Ignorant herumstrich,
Sonn' und Lieder und Orvieto schlürfend,
Die du freilich denn auch zu schätzen wußtest.
Ach, schon lange geheim im Busen warnte
Mich mein Genius: Eitle Müh' und Arbeit,
In den Spuren des großen Diez zu wandeln!
An historischem Sinn gebricht dir's leider,
Der Gewesenes schätzt, dieweil es da war,
Und was lange vermoderter Geschlechter
Herz nur mäßig bewegt, mit öder Andacht
Aus papierenen Grüften neu ans Licht zieht.
Wohl! unsterbliches Werk vom Unkraut säubern,
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Den ihm Toren und Klügler angeheftet,
Aus erblichener Spur des Geistes Wandeln,
Aus zerstückeltem Trümmerwerk der Dichtung
Und des Lebens Gestalt herauszudeuten,
Ist des Schweißes der Edlen wert; doch dazu
Braucht's bewährterer Hand, berufnen Auges,
Und nicht pfusche des Dilettanten Fürwitz
Hoher kritischer Meisterschaft ins Handwerk.
Dir ward andres verhängt: ein unverfälschter
Sohn des Heute zu sein, des gegenwärt'gen
Weltlaufs buntes Gebilde zu verew'gen
Mit nachdenklichem Wort. Darum ins Leben
Lenke rüstig den Schritt vom Dunst des Bücher-
Saals und blick in die Welt und in dich selber,
Und dann sage der Welt, was du erschautest.
So mein eigener Dämon, der in simplem
Deutsch mich immer berät und von Romanisch
Wenig weiß. Und ich tat nach seinen Winken,
Und so hab' ich in fünfundzwanzig Jahren
Oft ein Heimweh gespürt nach Ponte Molle,
Nach den Villen, Museen und Kirchenhallen,
Nach dem Hause der Dame Rubicondi,
Wo beim strohernen Fiasco wir so manche
Nacht verplauderten in Lucians Gesellschaft:
Nie nach jenem verbotnen Paradiese,
Wo vom Baum der Erkenntnis des Erkannten
Noch manch seltene Frucht sich pflücken ließe.
Ja, gesteh' ich es frei – und mag voll Mitleid
Auch ein Archäoman die Nase rümpfen –:
Nicht unwillig betracht' ich heut der neuen
Ära Spuren, so flach und breit sie manchmal
Zwischen hehre Vergangenheit sich hinpflanzt.
Traun, noch übergenug des unvergänglich
Hohen Alten verblieb, das Herz zu stillen
Und den Geist des Betrachters einzuwiegen
In elegischen Traum vom Fluß der Dinge!
Doch dem Wachen gehört die Welt. Erwacht ist
Heut Italiens Volk und hat des Reiches
Thron im Herzen des Landes aufgerichtet,
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Mag darüber des Vatikanes Zwingherr
In ohnmächtigem Grimm als ein entthronter
Erdengötze sich tief in Wolken hüllen.
Ja, heut ließe sich hier vom Erdenirrsal
Nicht nur friedlich mit andern Toten ausruhn
In der Cestiuspyramide Schatten, –
Nein, auch leben, von hochgeschwellter Woge
Des lebendigen Zeitenstroms getragen.
Wie ergreifend erklang sein tiefes Brausen,
Als er neulich entlang dem alten Korso
Eines trefflichen Herrschers ird'sche Hülle
Trug in düsterem Pomp, und mit dem Zuge
Schritt der Erbe der deutschen Kaiserkrone,
Dessen ragendes Haupt noch lang die Sonne
Tatenfreudiger Kraft umleuchten möge.
Und nach wenigen Tagen wieder strömt' es
Über Piazza Colonna, und ein ganzes
Volk, um Monte Citorio sich scharend,
Horcht' in glühender Stille, wie sein junger
Fürst ihm schwor, an Gesetz und Recht zu halten,
Jenes teuerste Gut der Volkesfreiheit
Gleich dem Vater ihm unversehrt zu hüten.
Laut vom Pincio erdröhnten Böllerschüsse,
Laut nachdonnerte Jauchzen tausendstimmig,
Als der trauernde Sohn vom Sarg des Vaters
Aufnahm eines Regenten Dornenkrone
Samt dem schneidigen Kriegsschwert der Savoyer.
Und ich fühlte den Puls des Heute kraftvoll
Durch die menschengeschwellten Gassenadern
Der ergreiseten Weltenherrin pochen,
Höher wahrlich als einst, da Pio nono,
Auf dem Sessel herumgetragen, schläfrig
Übers knieende Volk den Segen nickte,
Weihrauchwolkenumqualmt, von Pfauenwedeln,
Einem Dalai-Lama gleich, umfächelt.
Abends, als sich der Mond im Blau verkündet,
Mit dem Strome des Volkes übers Forum
Am zerklüfteten Palatin vorüber
Langsam wandelten wir zum Coliseo.
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Sonst die schweigende Stätte dunkler Schwermut,
Nur durchschwirrt von der Brut des Nachtgevögels,
Ein entseeltes Geripp, ein wundersamer
Quadernplesiosaurus; heut von fern schon
Klang's und wimmelt' es von lebend'gem Regen.
Genuesische Lanzenreiter, ihrem
Toten König ein letzt Geleit zu geben,
Hatten jagend die ungeheure Strecke
In drei Tagen zurückgelegt und Obdach
Hier gefunden im alten Riesenrundbau.
Rings in hochüberwölbten Trümmerhöhlen,
Kaum sich selber die dürftige Streu vergönnend,
Daß nur ja sie den Tieren nicht ermangle,
Lagernd, schlendernd, die blanken Gäule striegelnd
Trieb die reisige Schar sich hin und wieder.
In Kavernen, wo einst gedungne Fechter –
Morituri! – geharrt des grausen Kampfspiels,
Oder bebenden Märtyrern von ferne
Dumpfes Löwengebrüll herüberdrohte,
Dann durch manches Jahrhundert blöde Mönche
Vor den hölzernen Kruzifixen näselnd
Litaneien gesummt, erscholl von neuem
Die Parole lebend'ger Volksgeschichte,
Zwar gedämpft in der frischen Grabestrauer,
Herzbeweglicher doch, als selbst der dunkle
Weltschmerzselige Laut von Byrons Klage.
Sacht aufglühte der Mond, die schöne Cella
Dort am Tempel der Venus und der Roma
Leicht vergoldend, und still im Mondlicht wallte
Aus Feldkesseln der Rauch, darin die karge
Nachtkost rüsteten die bescheidnen Gäste.
Doch im bleichen Gewölk erblickt' ich träumend
Wundersames Gesicht, Italiens Zukunft
Mir vordeutend – genug! Dich seh' ich lächeln,
Daß nun gar der Poet sich des Propheten-
Amts zu walten erkühnt. So laß uns leben,
Wir erleben's vielleicht. – Vale faveque!

Rom, 23. Januar 1878


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TextGrid Repository (2012). Heyse, Paul. An Otto Ribbeck in Leipzig. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-6839-2